Sigurd
Hebenstreit
Kinder-Bilder
– Einige Gedanken zur Pädagogik Maria
Montessoris
Vortrag
am 4. Dezember 1999 im Kinderhaus
Unna
I.
Biographische Kinder-Bilder
1.
Tochter des Vaters und der Mutter
Das
erste Kinder-Bild, das ein Mensch
erwirbt und das ihn lebenslang begleitet,
ist das als Sohn oder Tochter der
eigenen Eltern. Die kleine Maria Montessori,
jetzt vor bald 130 Jahre geboren,
wuchs mit zwei getrennten Vorstellungen
auf, geprägt von ihrem Vater einerseits
und ihrer Mutter andererseits. Alessandro,
der Vater, war Finanzbeamter von Beruf,
und wegen Stellungswechsel mußte die
junge Familie früh mehrmals umziehen.
So hatte die fünfjährige Maria bereits
zwei Heimatorte, als endlich die Hauptstadt
des gerade wiedervereinigten Italiens,
Rom, zum Lebensmittelpunkt ihrer weiteren
Kindheit, Jugend und Studienzeit wurde.
Frühkindliche Erfahrungen haben Einfluß,
und vielleicht war es deshalb kein
Zufall, daß Maria Montessori auch
in ihrem späteren Leben Wohnorte in
verschiedenen Ländern hatte: in Barcelona,
Amsterdam und Indien, bevor die 80jährige
in Holland ihren letzten Aufenthaltsort
fand.
Väter
haben Pläne für ihre Kinder, mögen
sie diese direkt äußern oder still
in ihrem Herzen aufbewahren. Für Alessandro
war klar: Die Bestimmung der Frau
lag in ihrer zukünftigen Aufgabe als
Ehefrau und Mutter; die Bildung eines
Mädchens hatte in den Grenzen zu erfolgen,
die ein traditionelles Rollenmuster
vorgab. Der Lehrerinnenberuf war das
höchste, was er zuzugestehen bereit
war. Doch die Tochter wollte weiter
gehen: Gegen viele Widerstände setzte
sie sich durch, um als erste Frau
in Italien zum Medizinstudium zugelassen
zu werden. Es kam so, wie es kommen
mußte: Konflikte bestimmten das Verhältnis
zwischen Vater und Tochter. Erst später,
als Maria Montessori als Frau zu Ansehen
kam, fertigte Alessandro für seine
Tochter als Geschenk ein Album mit
Zeitungsberichten an, die über seine
Tochter erschienen waren, und von
beiden wurde die Hand zur Versöhnung
nicht ausgeschlagen.
Es
ist nicht gerade selten, daß zwischen
den Wünschen der Väter und den Lebensabsichten
ihrer Töchter große Diskrepanzen bestehen,
und es kommt vielleicht auch häufig
vor, daß beide Kinderbilder eine die
ursprünglichen Ideen verstellende
Kompromißbildung eingehen. Maria Montessori
ist der Intention des Vaters gemäß
letztlich Lehrerin geworden, aber
dies auf einem Niveau, mit einem Engagement
und einer internationalen Ausbreitung,
die Alessandro sicherlich nicht vorausgesehen
hatte.
Der
Vater verkörperte den konservativen
Part, die Mutter, Renilde, den liberalen.
Ungewöhnlich, daß sie nur ein Kind
in die Welt gebar, und so wuchs Maria
Montessori als behütetes Einzelkind
auf. Auch die Mutter hatte Pläne für
ihre Tochter, nur war die Gemeinsamkeit
der beiden Frauen unvergleichlich
größer als zwischen Vater und Tochter.
Maria sollte die Karriere machen,
die der Mutter auf Grund der Männerdominanz
der Zeit versagt geblieben war. So
räumte die Mutter Steine beiseite,
die sich dem erstrebten Berufswunsch
entgegenstellten. Sie motivierte zum
Weiterstudium, als sich bei der Heranwachsenden
der Ekel einstellte, wenn sie alleine
und im Halbdunkel Leichen sezieren
mußte. Und die Mutter hatte wohl einen
nicht unerheblichen Einfluß auf die
Entscheidung, den unehelichen Sohn
in Pflege zu geben, damit das zarte
Pflänzchen der beginnenden Kariere
nicht durch eine von Vorurteilen gefangene
männliche Öffentlichkeit gefährdet
würde.
Zielstrebigkeit,
sich nicht ablenken zu lassen von
drängenden Gefühlen und auch nicht
von Meinungen anderer – dies hat die
Mutter der Tochter mitgegeben. Und
Maria Montessori hat diese Lektion
gelernt. Ihr Lebenslauf erscheint
von außen betrachtet von einer manchmal
beängstigenden Geradlinigkeit, und
selbst in kritischen Lebenssituationen,
die die meisten anderen lahmlegen
würden, verfolgte sie ihre pädagogische
Mission ohne Zweifel und Zögern. Eine
Anekdote, ob den historischen Tatsachen
entsprechend oder nicht, kennzeichnet
die Zielstrebigkeit Maria Montessoris:
Als sie einmal gefragt wurde, warum
sie sich nicht mit der Kritik eines
bekannten Pädagogikprofessors auseinander
setze, soll sie geantwortet haben:
„Wenn ich eine Leiter hinaufsteige, und ein Hund will mich in den Knöchel
beißen, dann bleibt mir nur zweierlei
übrig – nach ihm treten oder höher
hinaufsteigen. Ich steige lieber höher
hinauf.“
Doch
noch etwas weiteres fällt in der Beziehung
von Mutter und Tochter auf: eine große
Anhänglichkeit. Die Familie bleibt
Zeit des Lebens von Vater und Mutter
zusammen, auch als Maria Montessori
sich national und international einen
Namen machte; und ihr engerer Freundinnen-
und Mitarbeiterkreis wurde in dieses
Familienleben einbezogen. Als die
Mutter starb, entschloß sich die Tochter,
die schwarze Trauerkleidung nicht
mehr abzulegen, und außer der Jahre
in Indien hielt sie sich daran. Obwohl
Maria Montessori eine starke, individuelle
Persönlichkeit war und obwohl ihre
weltweiten Aktivitäten ihr häufig
nur ein Leben aus dem Koffer ermöglichten,
muß sie eine sehr familienbezogene
Frau gewesen sein.
2.
Lehrerin behinderter Kinder
Maria
Montessori ist ihren beruflichen Weg
von der heil- zur allgemeinpädagogischen
Arbeit gegangen. Seit einigen Jahren
unternimmt die Montessoribewegung
diesen Schritt wieder rückwärts, indem
viele Kinderhäuser sich für die integrative
Arbeit öffnen – wie ja auch hier bei
Ihnen in Unna. In gewisser Hinsicht
war es Zufall, daß aus der angehenden
Medizinerin die Pädagogin wurde. Im
Auftrag der psychiatrischen Universitätsklinik
Rom besuchte sie Irrenanstalten, in
denen Erwachsene und Kinder, geistig
Behinderte und psychisch Kranke gleichermaßen
eingepfercht waren. Maria Montessori
sah die Kinder, die in einem Raum
ohne jegliche Spielsachen eingesperrt
waren und von ihren Aufseherinnen
mit Ekel und Herablassung behandelt
wurden. Intuitiv erkannte sie, daß
die Kinder geistige Not litten, da
sie für ihre Entwicklung keinerlei
Anregungen erhielten. Die Förderung
behinderter Kinder, so schloß die
Ärztin, sei kein medizinisches, sondern
ein pädagogisches Problem. Deshalb
mußte sie auch persönlich die Seite
wechseln, und sie hat für zwei Jahre
in einer Schule für geistig behinderte
Kinder gearbeitet. Diese Zeit, so
sagte sie rückblickend, gaben ihrem
Leben „Anspruch in bezug auf (die) Pädagogik“. Es galt,
die Mittel herauszufinden, durch die
die Erzieher einen Zugang zu der Seele
des Kindes finden konnten.
Die
zwei Jahre in dem heilpädagogischen
Institut war die Zeit, in der Maria
Montessori am kontinuierlichsten und
intensivsten in unmittelbarem beruflichen
Kontakt zu Kindern stand. Aus diesen
Erfahrungen ergab sich eine didaktisch-methodische
Grundüberzeugung, die späterhin nur
noch auf andere Kindergruppen
zu übertragen war. In ihren
ersten beiden Kinderhäusern in Rom
und auch bei ihren späteren Ausbildungskursen,
die immer auch praktische Übungen
einschlossen, hatte sie nicht mehr
ununterbrochen mit Kindern gearbeitet,
sondern sie war die Inspiratorin,
die an der Herausarbeitung einer verallgemeinerbaren
Erziehungsmethode interessiert war,
die „Supervisorin“, die Erzieherinnen
an die geeignete pädagogische Arbeitsweise
heranführte, und vor allem war sie
die Begründerin einer pädagogischen
Theorie, die einen unverstellten Blick
auf das Kind warf und von dorther
eine neue Sichtweise des Verhältnisses
der Erwachsenen zu den Kindern forderte.
Unter
der Überschrift „biographische Kinder-Bilder“
noch eine letzte Anmerkung zu dem
beruflichen Aspekt. Es wird der Montessoripädagogik
manchmal vorgeworfen, sie übertrage
schematisch einen einmal festgelegten
Weg auf alle Kinder, ohne deren Besonderheiten,
ohne die Wandlungen der Zeitumstände
und ohne die individuelle Persönlichkeit
der Erzieherin hinreichend zu berücksichtigen.
Diese Kritik hier zu diskutieren,
würde zu weit von unserem heutigen
Thema abführen. Doch wenn wir die
Person Maria Montessoris betrachten,
so sehen wir eine Frau von ungeheurer
Kreativität und Flexibilität. Nehmen
wir die Entwicklungen der Übungen
der Stille als ein Beispiel. Maria
Montessori sah aus dem Fenster eines
Kinderhauses, das sie besuchte, ein
fest gewickeltes Baby, das auf den
Armen seiner Mutter eingeschlafen
war. Sie ließ sich das Kleine durch
das Fenster reichen und erklärte den
verdutzten Kindern, daß sie von diesem
Säugling eine Menge lernen könnten,
nämlich bis zur Bewegungsunfähigkeit
stille zu halten. Die sich um Maria
Montessori drängenden Kinder versuchten,
es dem Baby nachzumachen, doch wie
sehr sie sich auch bemühten, es gelang
ihnen nicht in der Vollkommenheit
des Vorbildes. Aus dieser Situation
lernte Maria Montessori für sich,
daß es den Kindern Spaß macht, ihren
Willen so anzustrengen, nach Möglichkeit
den gesamten Körper vollkommen ruhig
zu halten.
3.
Mutter des Sohnes
Neben
den prägenden Erlebnissen als Kind
der Eltern und den ersten beruflichen
Erfahrungen als Lehrerin behinderter
Kinder muß noch ein drittes, nicht
minder existentielles biographisches
Kinder-Bild zur Sprache kommen. Es
war noch in der Zeit ihrer Arbeit
an dem heilpädagogischen Institut,
als Maria Montessori unverheiratet
schwanger wurde. Zum einen war dies
eine Geschichte unglücklicher Liebe.
Die junge Ärztin und ihr Kollege,
der Vater des erwarteten Kindes, versprachen
sich gegenseitig, wenn sie schon nicht
zusammen kommen konnten, lebenslänglich
auch keine andere eheliche Beziehung
einzugehen. Maria Montessori hielt
sich an dieses Versprechen, mußte
aber schon bald erleben, daß der Vater
ihres Kindes sich nicht daran gebunden
fühlte. Zum anderen war die Tatsache
unehelicher Schwangerschaft, kein
sonderliches Problem mehr in unserer
Zeit, ein Skandal für die damaligen
Verhältnisse in Italien.
Eine
Karriere, die mit öffentlichkeitswirksamen
Auftritten auf den internationalen
Frauenkonferenzen in Berlin und London
sowie mit einer intensiven Hinwendung
zu heilpädagogischen Fragen gerade
erst hoffnungsvoll begonnen hatte,
schien bereits wieder am Ende. Nicht
nur, daß die tagtägliche Versorgung
des Kindes keine Zeit mehr zu intensiver
Arbeitstätigkeit gelassen hätte –
eine entsprechende Infrastruktur,
wie unsere sozialpädagogische Landschaft
sie bietet, gab es vor einhundert
Jahren nicht -, sondern die moralischen
Vorbehalte einer vorurteilsbelasteten
Männerwelt hätten schon genügt, um
den weiteren Karriereweg abzuschneiden.
Die praktische Konsequenz aus dem
Dilemma war die Verheimlichung der
Schwangerschaft und die anschließende
Weggabe des Sohnes, zuerst in eine
Pflegefamilie auf dem Land und dann,
als der Junge größer wurde, in ein
Internat. Maria Montessori hatte durch
Besuche Kontakt zu dem kleinen Mario,
aber auch ihm gegenüber gab sie sich
nicht als Mutter zu erkennen.
Moralische
Vorbehalte auszusprechen, ist einfach;
Dies galt für die Zeit, in der Maria
Montessori ihre Entscheidungen treffen
mußte, und es gilt auch für uns heute,
die wir die Schwere des Dilemmas vielleicht
nicht mehr verstehen können. Maria
Montessori ging einen Weg, den die
Psychoanalyse mit „Sublimierung“ bezeichnet.
In ihren Schriften läßt sich kein
Hinweis auf die gefühlsmäßige Konfliktlage
finden, aber die Fakten ihres Lebensweges
verraten einiges davon. Da war zunächst
einmal eine religiöse Hinwendung:
Regelmäßig suchte sie in einem Kloster
Ruhe, um durch Meditation die auseinander
gehende Schere von öffentlichem Engagement
und privater Einsamkeit in den Griff
zu bekommen. Zum anderen stürzte sie
sich in die Arbeit: ihre schon erwähnte,
zwölf Arbeitsstunden umfassende Tätigkeit
in dem heilpädagogischen Institut,
ein neues Studium der Pädagogik, Dozententätigkeit
an der Universität Rom und einer Ausbildungsstätte
für Lehrerinnen, ihre ärztliche Praxis,
die Begleitung der Arbeit in den Kinderhäusern
und schließlich die weltweiten Aktivitäten
für die Ausbreitung ihrer Pädagogik.
Es ist wilde Spekulation, Vermutungen
darüber anzustellen, ob ohne die eigene
unglückliche Mutterschaft Maria Montessori
die Energien hätte aufbringen können,
die sie für ihre Mission brauchte.
Tatsache aber ist, daß ihre nicht
auslebbaren Gefühle gegenüber dem
eigenen Sohn Motivationsschub waren,
Erzieherin für Generationen von Kindern
auf der ganzen Welt zu werden, eine
Form von „sozialer Mutterschaft“,
die bis heute und bis hier nach Unna
nachwirkt.
Erwähnen
wir noch kurz den weiteren biographischen
Verlauf: In dem Jahr, als ihre eigene
Mutter starb, holte Maria Montessori
ihren jugendlichen Sohn zu sich, auch
jetzt hielt aber das Versteckspiel
an, da er nicht als ihr Sohn in den
Freundinnen- und Arbeitskreis eingeführt
wurde. Doch der Sohn entwickelte eine
große Anhänglichkeit an die Mutter:
Er half bei vielen organisatorischen
Arbeiten der entstehenden weltweiten
Bewegung, er verließ seine eigenen
Kinder, um die Mutter in ihren Jahren
in Indien nicht im Stich zu lassen,
und er führte als ihr Erbe die internationale
Montessoribewegung weiter, eine Stafette,
die er später wiederum an seinen Sohn
weitergab.
II.
Pädagogische Kinder-Bilder
Nach
diesem biographischen Einblick möchte
ich Ihnen jetzt einiges zu der Pädagogik
Maria Montessoris sagen. Dies läßt
sich nicht in einer guten halben Stunde
erledigen, ich muß also auswählen.
Dabei lasse ich alles Praktische weg,
das Sie in den Räumlichkeiten hier
im Kinderhaus erleben können, und
beschäftige mich nur mit einigen Aspekten
der Sichtweise von Maria Montessori
auf das Kind. Denn diese ist die Grundlage,
ohne die die Montessorimaterialien
und die Bestimmung der Aufgabenstellung
der Erzieherin nicht zu verstehen
sind.
1.
Grundsätzliche Bestimmungen
§
Der konzentrierte Arbeiter (Polarisation
der Aufmerksamkeit)
Manchmal
sind es kleine, scheinbar unbedeutende
Ereignisse, die eine grundsätzliche
Richtungsänderung des Denkens bewirken.
Für die Montessoribewegung steht ein
kleines, dreijähriges Mädchen am Beginn,
das durch ihr Verhalten die gängigen
Kinder-Bilder ins Wanken brachte.
Hören wir der Beschreibung Maria Montessoris
zu:
„Als
ich meine ersten Versuche ... mit
kleinen normalen Kindern von S. Lorenzo
durchführte, beobachtete ich ein etwa
dreijähriges Mädchen, das tief versunken
war in der Beschäftigung mit einem
Einsatzzylinderblock, aus dem es die
kleinen Holzzylinder herauszog und
wieder an ihre Stelle steckte. Der
Ausdruck des Mädchens zeugt von so
intensiver Aufmerksamkeit, daß er
für mich eine außerordentliche Offenbarung
war. ... Zu Anfang beobachtete ich
die Kleine, ohne sie zu stören, und
begann zu zählen, wie oft sie die
Übung wiederholte, aber dann, als
ich sah, daß sie sehr lange damit
fortfuhr, nahm ich das Stühlchen,
auf dem sie saß, und stellte Stühlchen
und Mädchen auf den Tisch; die Kleine
sammelte schnell ihr Steckspiel auf,
stellte den Holzblock auf die Armlehnen
des kleinen Sessels, legte sich die
Zylinder in den Schoß und fuhr mit
ihrer Arbeit fort. Da forderte ich
alle Kinder auf zu singen; sie sangen,
aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort,
seine Übung zu wiederholen, auch nachdem
das kurze Lied beendet war. Ich hatte
44 Übungen gezählt; und als es endlich
aufhörte, tat es dies unabhängig von
den Anreizen der Umgebung, die es
hätten stören können; und das Mädchen
schaute zufrieden um sich, als erwachte
es aus einem erholsamen Schlaf.“
Das
Kind ist ein konzentrierter Arbeiter,
beschäftigt mit dem Aufbau seiner
eigenen Persönlichkeit. Deshalb will
das Kind sich nicht mit unverbindlichem
Spielekram beschäftigen, es muß nicht
motiviert werden – durch Versprechungen,
Süßigkeiten oder Fernsehkonsum; sondern
es hat einen mächtigen Impuls in sich
selbst, sich entwickeln zu wollen.
Eine Pädagogik, die auf diese Kraft
der Polarisation der Aufmerksamkeit
setzt, wird alles daran setzen, diese
Selbstbildung des Kindes zu unterstützen:
§
Es gilt, dem Kind das geeignete Material
anzubieten, an dem es seine Kräfte
entwickeln kann;
§
es muß in einem Raum leben, der ihm
die Befriedigung seiner Entwicklungsbedürfnisse
– im Spannungsfeld von Aktivität und
Ruhe – erlaubt;
§
das Kind benötigt die Zeit, die es
braucht, um eine Fähigkeit hin zum
Grad eigener Vollkommenheit zu erwerben;
§
und es braucht Erwachsene, die das
rechte Maß von Distanz und Engagement
finden: die sich nicht einmischen,
wenn das Kind aktiv ist, die es aber
auch nicht alleine lassen, sondern
eine Brücke bilden, über die das Kind
mit Sicherheit gehen kann. Maria Montessori
spricht von dem Erzieher als „Bindestrich“,
der zwischen dem Kind und der Umgebung
vermittelt.
Was
der selbstkonzentrierte Arbeiter aber
vor allem benötigt, ist Freiheit.
Die Montessoripädagogik ist eine Pädagogik
der Freiheit. Niemand kann hinter
die Schädeldecke eines anderen Menschen
schauen. Dies gilt auch für die erzieherische
Beziehung, auch wenn der Erwachsenenzentrismus
davon ausgeht, es sei um so leichter,
einen Menschen zu verstehen, je jünger
er sei, und deshalb glaubt, er könne
ein Kindergartenkind so einfach verstehen,
wie er in einem Buch mit verständlichen
Schriftzeichen liest. Aber dies ist
nicht so. Maria Montessori sagt, daß
wir lernen müssen „das Kind vom Gesichtspunkt des Wunders aus“ zu betrachten. Die Kraft
der Polarisation der Aufmerksamkeit
ist in dem Kind verborgen, wir können
nicht wissen, worauf sie sich richten
wird, wann sie zur Erscheinung gelangt,
wie lange sie bis zum Abschluß eines
Prozesses benötigt. Deshalb braucht
das Kind die volle Freiheit, damit
es sich, wie Maria Montessori in ihrer
manchmal religiös anmutenden Sprache
sagt, uns Erwachsenen „offenbart“.
§
Der Gang der Natur (Normalisation)
Die
Polarisation der Aufmerksamkeit ist
kein einmaliger Akt, keine Ausnahmeerscheinung
eines ansonsten unmotiviert dahin
flatternden Kindes, sondern sie ist
Normalität eines Menschen, der in
Freiheit und Selbstbestimmung seine
Arbeit wählen kann. Von Geburt an
liegt in jedem ein Entwicklungsplan,
der ihn dazu antreibt, seine eigene
Persönlichkeit im Kontakt mit der
Umwelt zu entwickeln.
Es
gibt einen alten Streit in der Pädagogik,
ob die Anlagen oder die Umwelt entscheidender
für die menschliche Entwicklung seien.
Vor jetzt 30 Jahren, also zu der Zeit,
als die Eltern unserer Kinder selbst
Kinder waren, setzte man alles auf
die Umwelt: Die Sozialisation war
es, die einen Menschen prägte, so
daß er beliebig formbar schien. In
unseren Tagen scheint das Pendel wieder
umzuschlagen: Die Bedeutung der Gene
und Chromosome wird wieder höher veranschlagt.
Maria
Montessori nimmt in diesem Streit
eine vermittelnde Position ein. Einerseits
ist die Persönlichkeit eines Menschen
nicht durch den Zeugungsakt eingeboren,
so daß die Pädagogik nur darin bestünde,
abzuwarten, was und wie sich ein Kind
entwickelt; andererseits aber ist
der Mensch durch Erziehung und Sozialisation
auch nicht nach Belieben formbar,
so daß die Pädagogik in dem Herstellen
eines Menschen bestünde. Jeder Mensch
hat von Beginn an einen „Bauplan“
in sich, der ihn antreibt, sich von
Stufe zu Stufe weiter zu entwickeln.
Kann ein Kind dem ihm eigenen Entwicklungsplan
folgen, dann wird es zu einer starken,
individuellen Persönlichkeit werden,
die auch die sozialen Aufgaben mit
Verantwortungsbewußtsein angeht.
Der
Plan eines Architekten bliebe wertloses
Papier, würde er nicht in der Realität
mit Steinen, Holz und Beton ausgefüllt.
Ebenso bedarf der in dem Kind angelegte
Bauplan der sächlichen und menschlichen
Umwelt, um Wirklichkeit werden zu
können. Die Montessoripädagogik ist
deshalb keine abwartende Reifungspädagogik,
sondern stark auf die Realität des
Lebens bezogen. In ihr hat der Erwachsene
sich zu bewähren, und das Kind benötigt
die Gesellschaft, ohne die der innere
Bauplan nicht zur Entfaltung käme.
Für die verschiedenen
Entwicklungsstufen – vom Säugling
bis zum Jugendlichen – konkretisiert
Maria Montessori, wie Erziehung im
engen Kontakt mit der Lebenswirklichkeit
stehen muß.
Es
gibt einen, und nur einen, richtigen
Weg der Entwicklung eines Kindes –
nämlich den, den der innere, individuelle
Bauplan vorschreibt. Indiz dafür,
ob dies im konkreten Fall zutrifft,
ist das Auftreten der Polarisation
der Aufmerksamkeit, da diese anzeigt,
daß das Kind mit seiner Tätigkeit
ganz bei sich selbst ist. Hat ein
Kind die Freiheit, sich in seiner
Weise entwickeln zu können, dann wird
eine starke Persönlichkeit entstehen,
die ein erfülltes, persönlich befriedigendes
Leben ebenso gestalten kann, wie sie
sozial kompetent ist, um an einer
Welt von Frieden und Gerechtigkeit
mitzuarbeiten. In der Montessoripädagogik
geht es um die Individualität jedes
Einzelnen; doch dies ist nicht im
Sinne von Egoismus und Rücksichtslosigkeit
zu verstehen. Im Gegenteil: eine starke
Individualität wird sich in Freiheit
sozial engagieren.
§
Die vielen Abweichungen (Deviation)
Während
es nur einen richtigen Entwicklungsweg
gibt, ist die Zahl der Abweichungen
unendlich groß. Zunächst einmal lassen
sich alle Formen von Auffälligkeiten
darunter verstehen, die in jeder Erziehergeneration
aufs Neue eine starke Herausforderung
bedeuten: lautes, aggressives,
selbstzerstörerisches Verhalten ebenso
wie Passivität, Angst, ein in sich
Einschließen. Doch merkwürdiger Weise
zählt Maria Montessori auch die enge
Anhänglichkeit des Kindes an den Erwachsenen
und die große Phantasiekraft zu den
Erscheinungen der Deviation. Ersteres
ist vielleicht noch verständlich:
Ein Kind, das sich stark an den Erwachsenen
bindet, ist ein unfreies Kind. Vielleicht
weil es überschwemmt wird durch Ängste
aus dem eigenen Inneren, vielleicht
weil es seine Umwelt nicht als verläßlich
erfahren kann, hat es kein Vertrauen
in seine eigenen Fähigkeiten gefunden.
Sein Drang zur Unabhängigkeit ist
auf Grund fehlender oder unzureichender
eigener Stärke verkümmert.
Auch
das scheinbar phantasiebegabte Kind,
das Eltern und Erziehern häufig als
drollig erscheint, ist auf Abwege
geraten. Es hat den Kontakt zur Realität
verloren und ersetzt den Wirklichkeitsbezug
durch Hirngespinste. Das gesunde Kind
aber will sich in die Welt einarbeiten,
sie verstehen und einen Platz in ihr
finden, und erst wenn ihm dies verwehrt
wird, ist es gezwungen, sich autistisch
eine eigene Welt aufzubauen.
Die
substantivistische Weise, in der Maria
Montessori die Wörter „Normalisation“
und „Deviation“ benutzt, kann das Mißverständnis
nahelegen, als handele es sich um
Zuschreibungen fester Gegebenheiten,
so wie der Kinderarzt „Keuchhusten“
oder „Sehschwäche“ diagnostiziert.
Doch dies trifft nicht das, was Maria
Montessori meint. Vielmehr geht es
hier um die Beschreibung von Entwicklungsprozessen,
so daß es korrekter wäre, von einem
Kind auf dem Weg zur Normalisation
oder Deviation zu reden. Von einem
„devianten Kind“ zu sprechen, meint
nicht, es als verhaltensauffällig
zu klassifizieren oder abzuwerten,
sondern es beschreibt ein unglückliches
Kind, dem unüberwindbare Hindernisse
auf seinem eigentlichen Entwicklungsweg
entgegengestellt werden, so daß es
merkwürdige Kompromißbildungen von
Weiterentwicklung und Rückzug, von
Unabhängigkeit und Passivität eingehen
muß. Ein deviantes Kind ist, im Sinne
Maria Montessoris, ein unglückliches,
verletztes Kind.
Mag
das Kind auch sehr weit in die Abweichung
hineingetrieben worden sein, so daß
es auf der Erscheinungsebene als in
starkem Maße verhaltensauffällig erscheint,
so ist die Kraft zur Normalisation
trotzdem in ihm vorhanden, in welch
starkem Maße sie auch immer verschüttet
ist. Es ist die Aufgabe der Erziehung,
mit diesen Kindern Schritt für Schritt
zurückzugehen, um alle negativen Knotenpunkte
zu lösen, die das Kind von seinem
Weg der Selbstentwicklung abgeführt
haben. Dann wird es sich mit der Zeit
normalisieren, seine eigenen Kräfte
in sich entdecken und seinen Weg der
Entwicklung gehen.
Verhaltensauffälligkeit
ist ein Thema der Pädagogen in unserer
Zeit. Wie die vorangegangenen Generationen
der Berufskollegen klagen Erzieher
über die scheinbar zunehmende Zahl
schwieriger Kinder. Von Maria Montessori
läßt sich in dieser Hinsicht einiges
lernen. Zunächst einmal ihr Blickwinkel:
Wie immer in ihrer Pädagogik so gilt
auch hier, daß nicht die Erwachsenen-,
sondern die Kinderperspektive ausschlaggebend
ist. Nicht ob vom Standpunkt des Erwachsenen
aus ein Kind schwierig oder auffällig
ist, ist entscheidend, sondern ob
aus der Entwicklungsperspektive des
Kindes eine Abweichung von dem Gang
zu mehr Selbstbewußtsein, Unabhängigkeit
und Stärke vorliegt, bedingt die Diagnose
„Deviation“. Des weiteren ist ihre
pädagogische Sichtweise hervorzuheben:
Es ist nicht Therapie, sondern Erziehung,
die an die Kraft der guten Eigenentwicklung
auch des Kindes glaubt, das weit in
den Prozeß der Deviation hineingetrieben
wurde. Erziehung hat die Aufgabe,
der Selbstentwicklung die geeigneten
Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen.
Wird ein Kind in eine geeignete Erziehungsumgebung
versetzt, dann wird auch das verletzte
geheilt und das unglückliche glücklich.
2.
Sensible Perioden
Die
Pädagogik Maria Montessoris ist eine
Pädagogik der Altersstufen. Von der
frühen Kindheit über das Schulalter
hin zum Jugendlichen und Heranwachsenden
durchläuft der Mensch eine Entwicklung.
Er wächst, nimmt zu an Gewicht, verbessert
seine Wahrnehmungen, Sprache, Intelligenz.
Doch in pädagogischer Hinsicht muß
neben diesem quantitativen Wachstum
vor allem die qualitative Andersartigkeit
gesehen werden. Menschen verschiedener
Entwicklungsstufen unterscheiden sich
in grundlegender Weise voneinander,
sie haben jeweils andere Selbst- und
Weltbilder, andere Entwicklungsaufgaben.
Da es Prinzip der Montessoripädagogik
ist, dem Kind nicht etwas überzustülpen,
sondern sich als Hilfe und Unterstützung
der Selbstentwicklung zu verstehen,
müssen die didaktisch-methodischen
Grundsätze in den einzelnen Altersstufen
unterschiedlich sein. Lassen Sie uns
im Zeitraffer eine Reise von dem Neugeborenen
hin zu dem jungen Erwachsenen unternehmen.
§
Die frühe Kindheit
Die
Entwicklung des Kindes bis zu seinem
dritten Lebensjahr ist durch eine
Form seines Geistes gekennzeichnet,
die sich radikal von unserem Bewußtsein
unterscheidet. Maria Montessori bezeichnet
sie als den „absorbierenden Geist“. Durch ihn saugt
das Kind seine Umwelt in seinen Kopf
ein, es nimmt Bilder, Geräusche, Gerüche
auf, ohne daß es weiß, daß es dies
tut. Die Sinnesorgane des Neugeborenen
sind funktionsbereit, doch es hat
noch keine bewußten Erinnerungen in
seinem Kopf, mit deren Hilfe es die
neuen Eindrücke als gleich, verschieden
oder ähnlich zu früheren Wahrnehmungen
beurteilen könnte. Der Sinn des „absorbierenden Geistes“ besteht gerade darin, ein erstes Repertoire
von Sinneseindrücken sich zu erarbeiten,
mit denen später der bewußte Verstand
arbeiten kann.
Wir
sagen umgangssprachlich manchmal:
„Ich sauge mich voll wie ein Schwamm“,
um die Aufnahme möglichst vieler Eindrücke
in einer neuen, ungewohnten Situation
zu beschreiben. Erst später, mit ein
wenig Distanz, werden wir dann all
das Neue sortieren. Bleiben wir bei
diesem Bild: Auch der Säugling muß
sich „vollsaugen wie ein Schwamm“,
nur daß er noch nicht einmal über
den „Schwamm“ verfügt. Mit der Aufnahme
der ersten Sinneseindrücke werden
nicht nur Bilder, Geräusche, Gerüche
aufgenommen, sondern es wird überhaupt
erst das Grundgerüst aufgebaut, mit
dem später vergleichende Wahrnehmungen
geschehen können. Der absorbierende
Geist des kleinen Kindes saugt die
Außenwelt auf wie der Schwamm das
Wasser, aber er baut dadurch zugleich
den „Schwamm“ auf.
Maria
Montessori spricht von dem kleinen
Kind als „geistigem Embryo“. Wie die körperliche
Entwicklung von der befruchteten Eizelle
hin zum Neugeborenen abgeschirmt im
Bauch der Mutter abläuft, so ist der
Aufbau der grundlegenden psychischen
Funktionen am Beginn des Lebens durch
das Dunkel des Unbewußten geschützt.
Der Erwachsene muß sich hüten, ihn
zu früh an das Licht des Bewußtseins
zu zerren, und er muß vor allem die
Geduld des Wartens aufbringen, bis
in der weiteren Entwicklung das Kind
selbst den Abschluß der Phase des
geistigen Embryos anzeigt.
Aus
der Wirkungsweise des absorbierenden
Geistes ergeben sich für die Erziehung
der null- bis dreijährigen Kinder
wichtige Konsequenzen. Das Kind saugt
alle Bilder (ebenso Geräusche, Gerüche
usw.) der Außenwelt in sich ein, so
daß es wie selbstverständlich ein
Kind seiner Zeit wird. Das kleine
Kind ahmt all das nach, was es in
seiner Umwelt erlebt. Der Erwachsene
hat deshalb die Verantwortung, ihm
eine geeignete Umgebung anzubieten,
die wertvoll genug ist, um als Grundbestandteil
der weiteren Entwicklung und als lebenslange
Erfahrungsgrundlage zu dienen. Erfährt
das kleine Kind Schmutz, Aggressivität,
Ausbeutung und Krieg als seine ersten
Bilder, dann werden sich diese dem
Kind ebenso einprägen wie positive
Erfahrungen.
Maria
Montessori ist es besonders wichtig
zu betonen, daß die Umwelt der kleinen
Kinder die wirkliche Welt der jeweiligen
Gesellschaft und Kultur ist, weil
sie nur so zu Menschen werden können,
die verantwortungsvoll an den Stand
ihrer Zeit anknüpfen und aktiv deren
jeweilige Probleme mitlösen können.
Die Mutter soll das Kind deshalb nicht
in die sterile und nach äußeren Hygienevorstellungen
gebildete Welt eines Säuglings- und
Kinderzimmers einsperren, sie sollte
nicht meinen, daß das Kind keiner
Erfahrungen bedürfe, nur weil es bewußt
diese nicht versteht. Die Mutter soll
vielmehr ihr kleines Kind überall
mithin nehmen, um ihm die Basis für
ein reichhaltiges Aufsaugen von realen
Eindrücken zu ermöglichen. Dies beinhaltet
auch den Aspekt der Selbsterziehung
der Erwachsenen: Ist meine Umgebung,
in der ich lebe, geeignet und wertvoll,
um als Grundbaustein für einen werden
Menschen zu dienen?
§
Das Kindergartenkind
Maria
Montessori spricht von den ersten
drei Lebensjahren als einer „Periode
der Schöpfung“, während die folgenden
drei Jahre „eine
Periode der Realisierung und der Perfektionierung“
sind. Während der ersten drei Lebensjahre
baut das Kind seine Individualität
auf; im Kontakt mit seiner Umwelt
bildet es sich selbst als den einmaligen
Menschen, der nicht Resultat eines
vorgeformten Anlageprogramms ist,
sondern „Werk seiner selbst“ (Pestalozzi).
Doch diese Individualität ist noch
keine bewußte, sondern sie ist die
Arbeit eines unbewußt absorbierenden
Geistes. In den kommenden drei Jahren
gelangt zunehmend Bewußtheit in das
Kind hinein: Es wird sich darüber
klar, daß es Mitglied einer bestimmten
Familie, daß es Junge oder Mädchen
ist, daß es klein und die Eltern groß
sind. Maria Montessori spricht von
den zweiten drei Lebensjahren als
einer Periode der „aufbauenden
Vervollkommnung“, d.h. das, was
das Kind bisher als Individualität
geschaffen hat, wird jetzt weiterentwickelt
und perfektioniert.
Äußerlich
sichtbar wird der Entwicklungseinschnitt
am Ende des dritten Lebensjahres durch
den Wechsel der Lernorte. Bis zu seinem
dritten Lebensjahr wächst das Kind
in der Familie auf, es erhält hier
durch die Teilnahme an den alltäglichen
Verrichtungen und dadurch, daß es
die Mutter auf all ihren Wegen begleitet,
eine Fülle von Eindrücken. Mit drei
Jahren – so Maria Montessori - genügt
die Familie als ausschließlicher Lernraum
nicht mehr. Das Kind bedarf einer
pädagogischen Institution, in der
es für Stunden mit anderen Kindern
lebt. Diese Einrichtung ist nicht
einfaches Spiegelbild des gesellschaftlichen
Lebens, sondern sie ist auf Grund
einer speziellen Didaktik und Methodik
konstruiert, die auf der Beobachtung
der neu entstehenden Entwicklungs-
und Lernbedürfnisse des Kindes basieren.
Beispielsweise durch die Sinnesmaterialien
erhält das Kind jetzt die Möglichkeit,
die absorbierten Wahrnehmungen bewußt
zu verarbeiten. Es erfährt etwas über
die unterschiedlichen Wahrnehmungsdimensionen,
davon, daß die Welt sich einteilen
läßt in Farben, Formen, Größen usw.
Diese jetzt einsetzende Bewusstwerdungsphase,
in der schließlich auch die Begriffe
gelehrt werden, wird das Wahrnehmungs-
und Handlungsrepertoire auf eine neue
Ebene heben.
„Schöpfung“
und „Vervollkommnung“: darin liegt der Ablauf
der zwei Unterphasen der frühen Kindheit.
Diese Sicht bringt es mit sich, die
Korrekturmöglichkeiten des zweiten
Abschnittes hervorzuheben. Weil die
Individualität mit drei Jahren nicht
„fixiert“ ist, können von drei bis
sechs Jahren Fehlentwicklungen in
die richtige Bahn zurückgeleitet,
Mangelzustände ausgeglichen und Fehler
der psychischen Entwicklung korrigiert
werden. Dies ist nach dem Abschluß
des sechsten Lebensjahres nicht mehr
oder nur mit einem großen Kraftaufwand
möglich. Dies gibt der Kindergarten-
(bzw. Kinderhaus-) Zeit eine große
Bedeutung. Erstmals treten die Kinder
hier in den Raum der öffentlichen
Erziehung, und Fehlentwicklungen,
die im Rahmen der Familie vielleicht
nicht aufgefallen waren, bzw. die
als „normal“ beurteilt wurden, können
jetzt erkannt und behoben werden.
§
Das Schulkind
Kontinuität
und Wandel bestimmen gleichermaßen
die Sichtweise Maria Montessoris von
der Entwicklung und Erziehung des
sechs- bis zwölfjährigen Kindes. Beginnen
wir mit dem, was die Gemeinsamkeit
mit der vorangegangenen Epoche der
frühen Kindheit ausmacht. Zwischen
dem Kinderhaus und der Grundschule
soll kein plötzlicher Einschnitt liegen,
sondern die organisatorischen und
personellen Bedingungen sollen so
gestaltet werden, daß ein fließender
Übergang zur Schule erfolgt. Es ist
ratsam, daß zwischen beiden Einrichtungen
eine räumliche Nähe vorhanden ist,
so daß die jüngeren Kinder von den
älteren lernen und diese zu den Lernmaterialien
des Kinderhauses zurückkehren können.
So wie im Kinderhaus die Gruppen altersgemischt
sind, so sollen auch die Grundschulklassen
Kinder unterschiedlichen Alters aufnehmen.
Wie bei den jüngeren Kindern so ist
auch bei den älteren die eigenständige
Arbeit der einzelnen Kinder wichtiges
Unterrichtsprinzip. Nicht der vom
Lehrer gesteuerte Lehrprozeß für die
gesamte Klasse, nicht das für alle
Kinder im Gleichschritt zu absolvierende
Curriculum und nicht die Arbeit mit
vorgefertigten Lehrbüchern steht im
Vordergrund, sondern die eigenständige
Arbeit mit selbst gewählten Übungsmaterialien
in einer reichhaltigen Umgebung. Einem
Kind aus dem Kinderhaus ist diese
Arbeitsweise bereits vertraut, und
es kann deshalb nahtlos an seine früheren
Lernerfahrungen anschließen.
Maria
Montessori bezeichnet das Grundschulalter
als eine „sensible Periode der Bildung“. Es steht
nicht mehr im Vordergrund, die Umgebung
durch den absorbierenden Geist aufzunehmen,
damit die individuelle Persönlichkeit
des Kindes geschaffen wird. Weil diese
vorläufig abgeschlossen ist, kann
sich das Kind jetzt der Umwelt in
ganz neuer Weise zuwenden. Alles will
es wissen, in alles will es eindringen,
weil jetzt nicht mehr die wahrnehmungsmäßige
Oberfläche der Außenwelt von Interesse
ist, sondern die Suche nach dem, was
„die Welt in ihrem Inneren zusammenhält“.
Das Interesse des Kindes weitet sich
enorm aus. Nicht nur das vor Augen
Liegende ist wichtig, sondern noch
mehr die entlegensten Räume und die
entferntesten Zeiten; und das Interesse
reicht tiefer, weil es auf die Ursachen
der Dinge und die Entscheidungsgründe
für richtiges Verhalten vorstoßen
will. So wie das Kind in die Weite
und Tiefe der Außenwelt eindringt,
so bezieht es diese auch auf sich
selbst. Im Äußeren und Inneren gibt
es nichts, was nicht sein Erkenntnisbemühen
ansprechen könnte.
Dem
Bedürfnis dieses Alters nach Gesamterkenntnis
über die Welt und den Menschen kann
nicht durch Formen abstrakter und
empirisch korrekter Hypothesen und
Theorien entsprochen werden. Vielmehr
müssen den Kindern Antworten auf der
Ebene angeboten werden, auf der sich
ihre psychische Entwicklung befindet.
„Bewunderung“,
„Staunen“,
„Vision“, „Phantasie“, „Begeisterung“ sind deshalb Wörter, die
Maria Montessori gebraucht, um die
Phase des Grundschulkindes zu charakterisieren.
In
der schöpferischen Einbildungskraft
des Kindes sieht sie das Medium, durch
das die Fragen im Alter der Grundschulzeit
beantwortet werden können. Nicht nüchtern
soll der Unterricht ablaufen, nicht
durch die Darbietung von Einzelfakten,
sondern durch Erzählungen, die Begeisterung
vermitteln. Der Geist des Kindes wird
dadurch angeregt, sich die Welt zu
erschließen. Die Phantasie schließt
eine Lücke, die auf anderen Wegen
nicht geschlossen werden kann: zwischen
dem, was durch Wahrnehmung und Handlung
empirisch an Einzelkenntnissen von
der Oberfläche der Dinge aufgenommen
wird, und der darunter liegenden Tiefenschicht,
die nach den Ursachen und Folgen,
nach den ethischen und sozialen Begründungen,
nach der Vergangenheit und Zukunft
fragt.
§
Der Jugendliche
Zuletzt
zum Jugendlichen. Er ist nicht mehr
Kind, und an verschiedenen Stellen
betont Maria Montessori, daß es zu
den leichtfertigsten Erziehungsfehlern
gehöre, einen 14jährigen wie ein Grundschulkind
zu behandeln. Auf der anderen Seite
ist der Jugendliche auch noch kein
Erwachsener, der die volle Wucht der
Verantwortung für seine Handlungen
übernehmen müßte. Der Jugendliche
strebt in die Erwachsenenwelt hinein,
er will wissen, welchen Platz er in
ihr wird einnehmen können. Und angesichts
der Probleme von Ausbeutung, Ungerechtigkeit
und Krieg bedarf die Gesellschaft
kaum etwas so sehr wie der Herausbildung
von starken Persönlichkeiten, die
mit „Kopf, Herz und Hand“ (Johann
Heinrich Pestalozzi) die gesellschaftlichen
Aufgaben wahrnehmen und sie in Richtung
auf Gerechtigkeit und Frieden lösen
können. Der Jugendliche darf deshalb
nicht nur im Hinblick auf das gesehen
werden, was er an erzieherischen Hilfen
benötigt, sondern er muß auch als
der zukünftige Erwachsene betrachtet
werden, auf dem die Hoffnungen einer
besseren Welt beruhen.
Maria
Montessori spricht von dem Jugendalter
als einer zweiten Geburt: „Es
ist ... eine Geburt zu einem anderen
Leben. Das Individuum wird zu einem
sozialen Neugeborenen.“ Konsequenter
Weise müßte man von der „dritten“
Geburt sprechen, denn – wie gesagt
- wird das kleine Kind als ein „geistiger
Embryo“ charakterisiert. Mit dem Neugeborenen,
der im Mutterleib seine embryonale
Entwicklung durchgemacht hat, wird
der Körper des Kindes geboren. Geburt
meint, daß der Körper jetzt unabhängig
von der Mutter existiert, aber nicht,
daß seine Entwicklung abgeschlossen
sei. Vielmehr beginnt sie mit der
Geburt erst als selbständiger Prozeß.
Ebenso ist es mit dem „geistigen Embryo“,
der in der frühkindlichen Entwicklungsphase
ausgeprägt wird. In dem Alter der
Grundschulzeit wird der Geist geboren,
und er ist jetzt selbständig, um sich
bewußt ausprägen zu können.
So
ist auch die Geburt des „sozialen Neugeborenen“ im Jugendalter nicht etwas, das vom einen zum
anderen Tag abgeschlossen wäre. Vielmehr
bedarf es noch einiger Jahre der selbstbewußten
Entwicklung, bis sich eine sozial
verantwortliche Persönlichkeit ausbilden
wird. Mit Beginn des Jugendalters
erscheint der „soziale Neugeborene“, und dieser benötigt die erzieherischen Hilfen
ebenso wie der physisch Neugeborene
die Nahrung und der geistig Neugeborene
die Bildung.
Die
Entwicklungslage des Jugendlichen
ändert sich im Vergleich zu der vorhergehenden
Epoche grundlegend, und deshalb muß
eine Pädagogik, die sich als Hilfe
und Unterstützung der Selbstentfaltungskräfte
versteht, sich jetzt auch radikal
ändern. Und in der Tat, das, was Maria
Montessori an Grundsätzen und konkreten
Projekten für das Jugendalter beschreibt,
ist in hohem Maße „anders“ als das,
was die traditionelle Schulerziehung
bis heute ausmacht, aber auch „anders“
als die Erziehung im Kinderhaus und
in der Montessori-Grundschule.
Maria
Montessori kritisiert die traditionelle
Schule, die die Jugendlichen wie Kinder
behandelt und beispielsweise einem
unwürdigen Zensurendruck unterwirft.
Und sie kritisiert, daß der Jugendliche
von der Arbeit ausgeschlossen wird.
Arbeit aber ist für Maria Montessori
ein grundlegendes Menschenbedürfnis
und Menschenrecht. Das kleine Kind
baut durch Arbeit seine eigene Persönlichkeit
auf. Für den Jugendlichen steht jetzt
die Teilnahme am Produktionsprozeß
an. Er muß mit seiner eigenen Hände
Arbeit etwas Sinnvolles herstellen,
weil er nur dadurch Erfahrungen mit
der Erwachsenengesellschaft macht.
Indem er tätig wird, realisiert er
die Entwicklungsaufgabe, die in seinem
Alter im Vordergrund steht: sich vertraut
zu machen und eingeführt zu werden
in die soziale Welt. Maria Montessori
redet damit nicht der Ausbeutung von
Jugendlichen das Wort, meint aber
auch nicht, daß der Jugendliche lediglich
zuschaut, Botendienste verrichtet,
nicht sinnvoll und produktiv tätig
wird. Die Jugendarbeit ist Teil des
Bildungsprogramms und markiert nicht
sein Ende.
Maria
Montessori hat mit ihrem „Erdkinderplan“ einen konkreten Entwurf für die Bildung im Jugendalter
vorgelegt. Er zeigt in seiner Radikalität,
mit der er sich von der traditionellen
Schulerziehung abhebt, wie sehr es
ihr darauf ankommt, Erziehung nicht
in den gewohnten Bahnen des ständig
Gleichen zu denken, sondern abhängig
zu machen von den grundlegenden Lernbedürfnissen
der jeweiligen Entwicklungsstufe.
Das Projekt ist Plan geblieben, aber
m.E. würde es sich lohnen, wenn eine
Montessoriinitiative sich der Mühen
ihrer Realisierung annähme.
3.
Die Erzieherische Einstellung
Erlauben
Sie mir – zum Schluß kommend -, Ihnen
ein letztes Stück der Pädagogik Maria
Montessoris vorzustellen, ungewöhnlich
in der Form, aber charakteristisch
in seiner Grundaussage. Maria Montessori
erzählt die Geschichte zweier Kinder.
Das erste Kind wird von der Lehrerin
als „gewalttätig“ beschrieben, das die Altersgenossen in ihrer Arbeit stört,
ohne selbst etwas Konstruktives zu
tun. Auch in der Familie gilt es als
aggressiv. Eine genauere Betrachtung
der sehr ärmlichen Familienverhältnisse
zeigt, daß dem Kind dort das Lebensnotwendige
vorenthalten wird, so daß es buchstäblich
um sein Brot kämpfen muß. Und es kämpft,
es resigniert nicht, sondern zeigt
in seinem Alltag einen „heroischen“
Lebenswillen, um zu überleben. In
der Schule sitzt es neben einem reichen
Kind, das eine Menge leckerer Speisen
mitgebracht hat, während es selbst
nur sein trockenes, in heftigem Kampf
erworbenes Brot auspacken kann. Die
Lehrerin beobachtet die Szene, und
sie ist überrascht von der „Würde“
mit der dieses Kind die Situation
meistert: Langsam nagt es an seinem
Brot, um nicht schneller fertig zu
sein als das andere.
Das
zweite Kind ist das Gegenteil des
ersten. Anfänglich wird es uns vorgestellt
als „still“,
vielleicht wäre es in einer traditionellen
Schule ein gut funktionierendes, weil
total angepaßtes Kind. Doch es hat
einen nervenden Fehler: laufend „verpetzt“ es die Mitschüler bei der Lehrerin.
Ist das erste Kind verhaltensauffällig
wegen seiner fortlaufenden Aggression,
so ist es das zweite, weil es ständig
in seinem Leben „den Weg des Opfers“ geht. Es wird nicht
selbst aktiv, um sich etwas anzueignen
- in psychischer, aber auch in physischer
Hinsicht. Es ist deshalb in Gewicht
und Körpergröße deutlich hinter den
durchschnittlichen Werten zurück,
während das erste, trotz der knapper
Nahrung normale Maße aufweist. Die
einzige Möglichkeit, die diesem zweiten
Kind verbleibt ist die Suche nach
der Unterscheidung von „gutem“ und
„bösem“ Verhalten, deshalb auch das
Petzen, durch das es sich von der
Lehrerin eine Bestätigung erhofft.
Maria Montessori sagt von diesem Kind,
es gehöre zu denen, die „von
den anderen gerettet werden müssen“.
Es hat so wenig eigene Aktivität,
sein physisches und psychisches Leben
zu erhalten, es ist so „zerbrechlich“
und erscheint wie ein „Engel“,
der „zum Himmel“ schaut.
Maria
Montessoris Schlußfolgerung aus der
Geschichte dieser beiden Kinder lautet:
„Wenn
wir das als Wissenschaft bezeichnen,
was dazu führt, die Worte ‘gewalttätig’
und ‘petzerisch’ in ‘heroisch’ und
‘engelhaft’ zu verwandeln ..., dann
können wir mit Bestimmtheit sagen,
daß ‚das liebevolle Urteil auch das
weise ist’.“ (Montessori, 1995,
S. 116)
In
dieser Geschichte kommen die grundlegende
Einstellung zur Erziehung, das Bild
vom Kind, die Sichtweise der Aufgabe
der Erzieherin gut zum Ausdruck. Das
Kind ist von Natur aus gut, es hat
einen Lebenswillen in sich, der zu
Entwicklung und Vervollkommnung drängt.
Dies gilt auch für das als „verhaltensauffällig“
charakterisierte Kind. Auch seine
scheinbaren Störungen geben Sinn,
wenn die Erzieherin gelernt hat, hinter
die Fassade des oberflächlichen Verhaltens
zu schauen. Dazu braucht sie zweierlei:
Wissenschaft und Liebe. Die Wissenschaft
gibt ihr die Möglichkeit, genauer
hinzuschauen, weiter zu suchen, um
an den Kern der kindlichen Persönlichkeit
zu gelangen, sich nicht auf Vorurteile
einzulassen, sondern nüchtern auf
die Beziehung von Ursache und Wirkung
zu schauen. Und die Liebe drückt die
grundlegende Einstellung zu dem Kind
aus: nicht den Fehler des Kindes lieben,
nicht das Kind trotz (manchmal sogar
wegen) seines Fehlers lieben, sondern
den festen Glauben daran haben, daß
jedes Kind „gut“ sein will und daß
es in sich die Kraft hat, sich weiterzuentwickeln.
Die „Liebe“ der Erzieherin zu jedem
Kind sagt ihr, daß die Möglichkeit
zur Selbstvervollkommnung durch soziale
Bedingungen und durch eine falsche
Pädagogik gestört sein kann, aber
daß sie nie ganz vernichtet ist.
Wenn
es der Erzieherin gelingt, auch in
schwierigen Fällen sich nicht von
den negativen Auffälligkeiten ablenken
zu lassen, sondern wenn sie in ihrem
Verständnis weiter geht, um zu der
ursprünglichen Güte des Menschen zu
gelangen, dann wird sie einen Weg
für ihre erzieherischen Hilfen finden.
Eine pädagogische Haltung, die von
wissenschaftlicher Nüchternheit und
liebender Hinwendung gleichermaßen
getragen ist, wird das Kind zu der
Freiheit seiner eigenen Entwicklung
führen. Das ist vielleicht das Wichtigste,
aber auch das Schwierigste im Erziehungsgeschäft,
daß wir lernen müssen, „die Worte ‘gewalttätig’ und ‘petzerisch’ in
‘heroisch’ und ‘engelhaft’ zu verwandeln“.