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Maria Montessori

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Sigurd Hebenstreit

Kinder-Bilder – Einige Gedanken zur Pädagogik Maria Montessoris

Vortrag am 4. Dezember 1999 im Kinderhaus Unna


I. Biographische Kinder-Bilder

1. Tochter des Vaters und der Mutter

Das erste Kinder-Bild, das ein Mensch erwirbt und das ihn lebenslang begleitet, ist das als Sohn oder Tochter der eigenen Eltern. Die kleine Maria Montessori, jetzt vor bald 130 Jahre geboren, wuchs mit zwei getrennten Vorstellungen auf, geprägt von ihrem Vater einerseits und ihrer Mutter andererseits. Alessandro, der Vater, war Finanzbeamter von Beruf, und wegen Stellungswechsel mußte die junge Familie früh mehrmals umziehen. So hatte die fünfjährige Maria bereits zwei Heimatorte, als endlich die Hauptstadt des gerade wiedervereinigten Italiens, Rom, zum Lebensmittelpunkt ihrer weiteren Kindheit, Jugend und Studienzeit wurde. Frühkindliche Erfahrungen haben Einfluß, und vielleicht war es deshalb kein Zufall, daß Maria Montessori auch in ihrem späteren Leben Wohnorte in verschiedenen Ländern hatte: in Barcelona, Amsterdam und Indien, bevor die 80jährige in Holland ihren letzten Aufenthaltsort fand.

Väter haben Pläne für ihre Kinder, mögen sie diese direkt äußern oder still in ihrem Herzen aufbewahren. Für Alessandro war klar: Die Bestimmung der Frau lag in ihrer zukünftigen Aufgabe als Ehefrau und Mutter; die Bildung eines Mädchens hatte in den Grenzen zu erfolgen, die ein traditionelles Rollenmuster vorgab. Der Lehrerinnenberuf war das höchste, was er zuzugestehen bereit war. Doch die Tochter wollte weiter gehen: Gegen viele Widerstände setzte sie sich durch, um als erste Frau in Italien zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Es kam so, wie es kommen mußte: Konflikte bestimmten das Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Erst später, als Maria Montessori als Frau zu Ansehen kam, fertigte Alessandro für seine Tochter als Geschenk ein Album mit Zeitungsberichten an, die über seine Tochter erschienen waren, und von beiden wurde die Hand zur Versöhnung nicht ausgeschlagen.

Es ist nicht gerade selten, daß zwischen den Wünschen der Väter und den Lebensabsichten ihrer Töchter große Diskrepanzen bestehen, und es kommt vielleicht auch häufig vor, daß beide Kinderbilder eine die ursprünglichen Ideen verstellende Kompromißbildung eingehen. Maria Montessori ist der Intention des Vaters gemäß letztlich Lehrerin geworden, aber dies auf einem Niveau, mit einem Engagement und einer internationalen Ausbreitung, die Alessandro sicherlich nicht vorausgesehen hatte.

Der Vater verkörperte den konservativen Part, die Mutter, Renilde, den liberalen. Ungewöhnlich, daß sie nur ein Kind in die Welt gebar, und so wuchs Maria Montessori als behütetes Einzelkind auf. Auch die Mutter hatte Pläne für ihre Tochter, nur war die Gemeinsamkeit der beiden Frauen unvergleichlich größer als zwischen Vater und Tochter. Maria sollte die Karriere machen, die der Mutter auf Grund der Männerdominanz der Zeit versagt geblieben war. So räumte die Mutter Steine beiseite, die sich dem erstrebten Berufswunsch entgegenstellten. Sie motivierte zum Weiterstudium, als sich bei der Heranwachsenden der Ekel einstellte, wenn sie alleine und im Halbdunkel Leichen sezieren mußte. Und die Mutter hatte wohl einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Entscheidung, den unehelichen Sohn in Pflege zu geben, damit das zarte Pflänzchen der beginnenden Kariere nicht durch eine von Vorurteilen gefangene männliche Öffentlichkeit gefährdet würde.

Zielstrebigkeit, sich nicht ablenken zu lassen von drängenden Gefühlen und auch nicht von Meinungen anderer – dies hat die Mutter der Tochter mitgegeben. Und Maria Montessori hat diese Lektion gelernt. Ihr Lebenslauf erscheint von außen betrachtet von einer manchmal beängstigenden Geradlinigkeit, und selbst in kritischen Lebenssituationen, die die meisten anderen lahmlegen würden, verfolgte sie ihre pädagogische Mission ohne Zweifel und Zögern. Eine Anekdote, ob den historischen Tatsachen entsprechend oder nicht, kennzeichnet die Zielstrebigkeit Maria Montessoris: Als sie einmal gefragt wurde, warum sie sich nicht mit der Kritik eines bekannten Pädagogikprofessors auseinander setze, soll sie geantwortet haben: „Wenn ich eine Leiter hinaufsteige, und ein Hund will mich in den Knöchel beißen, dann bleibt mir nur zweierlei übrig – nach ihm treten oder höher hinaufsteigen. Ich steige lieber höher hinauf.“

Doch noch etwas weiteres fällt in der Beziehung von Mutter und Tochter auf: eine große Anhänglichkeit. Die Familie bleibt Zeit des Lebens von Vater und Mutter zusammen, auch als Maria Montessori sich national und international einen Namen machte; und ihr engerer Freundinnen- und Mitarbeiterkreis wurde in dieses Familienleben einbezogen. Als die Mutter starb, entschloß sich die Tochter, die schwarze Trauerkleidung nicht mehr abzulegen, und außer der Jahre in Indien hielt sie sich daran. Obwohl Maria Montessori eine starke, individuelle Persönlichkeit war und obwohl ihre weltweiten Aktivitäten ihr häufig nur ein Leben aus dem Koffer ermöglichten, muß sie eine sehr familienbezogene Frau gewesen sein.

2. Lehrerin behinderter Kinder

Maria Montessori ist ihren beruflichen Weg von der heil- zur allgemeinpädagogischen Arbeit gegangen. Seit einigen Jahren unternimmt die Montessoribewegung diesen Schritt wieder rückwärts, indem viele Kinderhäuser sich für die integrative Arbeit öffnen – wie ja auch hier bei Ihnen in Unna. In gewisser Hinsicht war es Zufall, daß aus der angehenden Medizinerin die Pädagogin wurde. Im Auftrag der psychiatrischen Universitätsklinik Rom besuchte sie Irrenanstalten, in denen Erwachsene und Kinder, geistig Behinderte und psychisch Kranke gleichermaßen eingepfercht waren. Maria Montessori sah die Kinder, die in einem Raum ohne jegliche Spielsachen eingesperrt waren und von ihren Aufseherinnen mit Ekel und Herablassung behandelt wurden. Intuitiv erkannte sie, daß die Kinder geistige Not litten, da sie für ihre Entwicklung keinerlei Anregungen erhielten. Die Förderung behinderter Kinder, so schloß die Ärztin, sei kein medizinisches, sondern ein pädagogisches Problem. Deshalb mußte sie auch persönlich die Seite wechseln, und sie hat für zwei Jahre in einer Schule für geistig behinderte Kinder gearbeitet. Diese Zeit, so sagte sie rückblickend, gaben ihrem Leben „Anspruch  in bezug auf (die) Pädagogik“. Es galt, die Mittel herauszufinden, durch die die Erzieher einen Zugang zu der Seele des Kindes finden konnten.

Die zwei Jahre in dem heilpädagogischen Institut war die Zeit, in der Maria Montessori am kontinuierlichsten und intensivsten in unmittelbarem beruflichen Kontakt zu Kindern stand. Aus diesen Erfahrungen ergab sich eine didaktisch-methodische Grundüberzeugung, die späterhin nur noch auf andere Kindergruppen  zu übertragen war. In ihren ersten beiden Kinderhäusern in Rom und auch bei ihren späteren Ausbildungskursen, die immer auch praktische Übungen einschlossen, hatte sie nicht mehr ununterbrochen mit Kindern gearbeitet, sondern sie war die Inspiratorin, die an der Herausarbeitung einer verallgemeinerbaren Erziehungsmethode interessiert war, die „Supervisorin“, die Erzieherinnen an die geeignete pädagogische Arbeitsweise heranführte, und vor allem war sie die Begründerin einer pädagogischen Theorie, die einen unverstellten Blick auf das Kind warf und von dorther eine neue Sichtweise des Verhältnisses der Erwachsenen zu den Kindern forderte.

Unter der Überschrift „biographische Kinder-Bilder“ noch eine letzte Anmerkung zu dem beruflichen Aspekt. Es wird der Montessoripädagogik manchmal vorgeworfen, sie übertrage schematisch einen einmal festgelegten Weg auf alle Kinder, ohne deren Besonderheiten, ohne die Wandlungen der Zeitumstände und ohne die individuelle Persönlichkeit der Erzieherin hinreichend zu berücksichtigen. Diese Kritik hier zu diskutieren, würde zu weit von unserem heutigen Thema abführen. Doch wenn wir die Person Maria Montessoris betrachten, so sehen wir eine Frau von ungeheurer Kreativität und Flexibilität. Nehmen wir die Entwicklungen der Übungen der Stille als ein Beispiel. Maria Montessori sah aus dem Fenster eines Kinderhauses, das sie besuchte, ein fest gewickeltes Baby, das auf den Armen seiner Mutter eingeschlafen war. Sie ließ sich das Kleine durch das Fenster reichen und erklärte den verdutzten Kindern, daß sie von diesem Säugling eine Menge lernen könnten, nämlich bis zur Bewegungsunfähigkeit stille zu halten. Die sich um Maria Montessori drängenden Kinder versuchten, es dem Baby nachzumachen, doch wie sehr sie sich auch bemühten, es gelang ihnen nicht in der Vollkommenheit des Vorbildes. Aus dieser Situation lernte Maria Montessori für sich, daß es den Kindern Spaß macht, ihren Willen so anzustrengen, nach Möglichkeit den gesamten Körper vollkommen ruhig zu halten.

3. Mutter des Sohnes

Neben den prägenden Erlebnissen als Kind der Eltern und den ersten beruflichen Erfahrungen als Lehrerin behinderter Kinder muß noch ein drittes, nicht minder existentielles biographisches Kinder-Bild zur Sprache kommen. Es war noch in der Zeit ihrer Arbeit an dem heilpädagogischen Institut, als Maria Montessori unverheiratet schwanger wurde. Zum einen war dies eine Geschichte unglücklicher Liebe. Die junge Ärztin und ihr Kollege, der Vater des erwarteten Kindes, versprachen sich gegenseitig, wenn sie schon nicht zusammen kommen konnten, lebenslänglich auch keine andere eheliche Beziehung einzugehen. Maria Montessori hielt sich an dieses Versprechen, mußte aber schon bald erleben, daß der Vater ihres Kindes sich nicht daran gebunden fühlte. Zum anderen war die Tatsache unehelicher Schwangerschaft, kein sonderliches Problem mehr in unserer Zeit, ein Skandal für die damaligen Verhältnisse in Italien.

Eine Karriere, die mit öffentlichkeitswirksamen Auftritten auf den internationalen Frauenkonferenzen in Berlin und London sowie mit einer intensiven Hinwendung zu heilpädagogischen Fragen gerade erst hoffnungsvoll begonnen hatte, schien bereits wieder am Ende. Nicht nur, daß die tagtägliche Versorgung des Kindes keine Zeit mehr zu intensiver Arbeitstätigkeit gelassen hätte – eine entsprechende Infrastruktur, wie unsere sozialpädagogische Landschaft sie bietet, gab es vor einhundert Jahren nicht -, sondern die moralischen Vorbehalte einer vorurteilsbelasteten Männerwelt hätten schon genügt, um den weiteren Karriereweg abzuschneiden. Die praktische Konsequenz aus dem Dilemma war die Verheimlichung der Schwangerschaft und die anschließende Weggabe des Sohnes, zuerst in eine Pflegefamilie auf dem Land und dann, als der Junge größer wurde, in ein Internat. Maria Montessori hatte durch Besuche Kontakt zu dem kleinen Mario, aber auch ihm gegenüber gab sie sich nicht als Mutter zu erkennen.

Moralische Vorbehalte auszusprechen, ist einfach; Dies galt für die Zeit, in der Maria Montessori ihre Entscheidungen treffen mußte, und es gilt auch für uns heute, die wir die Schwere des Dilemmas vielleicht nicht mehr verstehen können. Maria Montessori ging einen Weg, den die Psychoanalyse mit „Sublimierung“ bezeichnet. In ihren Schriften läßt sich kein Hinweis auf die gefühlsmäßige Konfliktlage finden, aber die Fakten ihres Lebensweges verraten einiges davon. Da war zunächst einmal eine religiöse Hinwendung: Regelmäßig suchte sie in einem Kloster Ruhe, um durch Meditation die auseinander gehende Schere von öffentlichem Engagement und privater Einsamkeit in den Griff zu bekommen. Zum anderen stürzte sie sich in die Arbeit: ihre schon erwähnte, zwölf Arbeitsstunden umfassende Tätigkeit in dem heilpädagogischen Institut, ein neues Studium der Pädagogik, Dozententätigkeit an der Universität Rom und einer Ausbildungsstätte für Lehrerinnen, ihre ärztliche Praxis, die Begleitung der Arbeit in den Kinderhäusern und schließlich die weltweiten Aktivitäten für die Ausbreitung ihrer Pädagogik. Es ist wilde Spekulation, Vermutungen darüber anzustellen, ob ohne die eigene unglückliche Mutterschaft Maria Montessori die Energien hätte aufbringen können, die sie für ihre Mission brauchte. Tatsache aber ist, daß ihre nicht auslebbaren Gefühle gegenüber dem eigenen Sohn Motivationsschub waren, Erzieherin für Generationen von Kindern auf der ganzen Welt zu werden, eine Form von „sozialer Mutterschaft“, die bis heute und bis hier nach Unna nachwirkt.

Erwähnen wir noch kurz den weiteren biographischen Verlauf: In dem Jahr, als ihre eigene Mutter starb, holte Maria Montessori ihren jugendlichen Sohn zu sich, auch jetzt hielt aber das Versteckspiel an, da er nicht als ihr Sohn in den Freundinnen- und Arbeitskreis eingeführt wurde. Doch der Sohn entwickelte eine große Anhänglichkeit an die Mutter: Er half bei vielen organisatorischen Arbeiten der entstehenden weltweiten Bewegung, er verließ seine eigenen Kinder, um die Mutter in ihren Jahren in Indien nicht im Stich zu lassen, und er führte als ihr Erbe die internationale Montessoribewegung weiter, eine Stafette, die er später wiederum an seinen Sohn weitergab.

II. Pädagogische Kinder-Bilder

Nach diesem biographischen Einblick möchte ich Ihnen jetzt einiges zu der Pädagogik Maria Montessoris sagen. Dies läßt sich nicht in einer guten halben Stunde erledigen, ich muß also auswählen. Dabei lasse ich alles Praktische weg, das Sie in den Räumlichkeiten hier im Kinderhaus erleben können, und beschäftige mich nur mit einigen Aspekten der Sichtweise von Maria Montessori auf das Kind. Denn diese ist die Grundlage, ohne die die Montessorimaterialien und die Bestimmung der Aufgabenstellung der Erzieherin nicht zu verstehen sind.

1. Grundsätzliche Bestimmungen

§         Der konzentrierte Arbeiter (Polarisation der Aufmerksamkeit)

Manchmal sind es kleine, scheinbar unbedeutende Ereignisse, die eine grundsätzliche Richtungsänderung des Denkens bewirken. Für die Montessoribewegung steht ein kleines, dreijähriges Mädchen am Beginn, das durch ihr Verhalten die gängigen Kinder-Bilder ins Wanken brachte. Hören wir der Beschreibung Maria Montessoris zu:

„Als ich meine ersten Versuche ... mit kleinen normalen Kindern von S. Lorenzo durchführte, beobachtete ich ein etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in der Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog und wieder an ihre Stelle steckte. Der Ausdruck des Mädchens zeugt von so intensiver Aufmerksamkeit, daß er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. ... Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, und begann zu zählen, wie oft sie die Übung wiederholte, aber dann, als ich sah, daß sie sehr lange damit fortfuhr, nahm ich das Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine sammelte schnell ihr Steckspiel auf, stellte den Holzblock auf die Armlehnen des kleinen Sessels, legte sich die Zylinder in den Schoß und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da forderte ich alle Kinder auf zu singen; sie sangen, aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine Übung zu wiederholen, auch nachdem das kurze Lied beendet war. Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf.

Das Kind ist ein konzentrierter Arbeiter, beschäftigt mit dem Aufbau seiner eigenen Persönlichkeit. Deshalb will das Kind sich nicht mit unverbindlichem Spielekram beschäftigen, es muß nicht motiviert werden – durch Versprechungen, Süßigkeiten oder Fernsehkonsum; sondern es hat einen mächtigen Impuls in sich selbst, sich entwickeln zu wollen. Eine Pädagogik, die auf diese Kraft der Polarisation der Aufmerksamkeit setzt, wird alles daran setzen, diese Selbstbildung des Kindes zu unterstützen:

§         Es gilt, dem Kind das geeignete Material anzubieten, an dem es seine Kräfte entwickeln kann;

§         es muß in einem Raum leben, der ihm die Befriedigung seiner Entwicklungsbedürfnisse – im Spannungsfeld von Aktivität und Ruhe – erlaubt;

§         das Kind benötigt die Zeit, die es braucht, um eine Fähigkeit hin zum Grad eigener Vollkommenheit zu erwerben;

§         und es braucht Erwachsene, die das rechte Maß von Distanz und Engagement finden: die sich nicht einmischen, wenn das Kind aktiv ist, die es aber auch nicht alleine lassen, sondern eine Brücke bilden, über die das Kind mit Sicherheit gehen kann. Maria Montessori spricht von dem Erzieher als „Bindestrich“, der zwischen dem Kind und der Umgebung vermittelt.

Was der selbstkonzentrierte Arbeiter aber vor allem benötigt, ist Freiheit. Die Montessoripädagogik ist eine Pädagogik der Freiheit. Niemand kann hinter die Schädeldecke eines anderen Menschen schauen. Dies gilt auch für die erzieherische Beziehung, auch wenn der Erwachsenenzentrismus davon ausgeht, es sei um so leichter, einen Menschen zu verstehen, je jünger er sei, und deshalb glaubt, er könne ein Kindergartenkind so einfach verstehen, wie er in einem Buch mit verständlichen Schriftzeichen liest. Aber dies ist nicht so. Maria Montessori sagt, daß wir lernen müssen „das Kind vom Gesichtspunkt des Wunders aus“ zu betrachten. Die Kraft der Polarisation der Aufmerksamkeit ist in dem Kind verborgen, wir können nicht wissen, worauf sie sich richten wird, wann sie zur Erscheinung gelangt, wie lange sie bis zum Abschluß eines Prozesses benötigt. Deshalb braucht das Kind die volle Freiheit, damit es sich, wie Maria Montessori in ihrer manchmal religiös anmutenden Sprache sagt, uns Erwachsenen „offenbart“.

§         Der Gang der Natur (Normalisation)

Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist kein einmaliger Akt, keine Ausnahmeerscheinung eines ansonsten unmotiviert dahin flatternden Kindes, sondern sie ist Normalität eines Menschen, der in Freiheit und Selbstbestimmung seine Arbeit wählen kann. Von Geburt an liegt in jedem ein Entwicklungsplan, der ihn dazu antreibt, seine eigene Persönlichkeit im Kontakt mit der Umwelt zu entwickeln.

Es gibt einen alten Streit in der Pädagogik, ob die Anlagen oder die Umwelt entscheidender für die menschliche Entwicklung seien. Vor jetzt 30 Jahren, also zu der Zeit, als die Eltern unserer Kinder selbst Kinder waren, setzte man alles auf die Umwelt: Die Sozialisation war es, die einen Menschen prägte, so daß er beliebig formbar schien. In unseren Tagen scheint das Pendel wieder umzuschlagen: Die Bedeutung der Gene und Chromosome wird wieder höher veranschlagt.

Maria Montessori nimmt in diesem Streit eine vermittelnde Position ein. Einerseits ist die Persönlichkeit eines Menschen nicht durch den Zeugungsakt eingeboren, so daß die Pädagogik nur darin bestünde, abzuwarten, was und wie sich ein Kind entwickelt; andererseits aber ist der Mensch durch Erziehung und Sozialisation auch nicht nach Belieben formbar, so daß die Pädagogik in dem Herstellen eines Menschen bestünde. Jeder Mensch hat von Beginn an einen „Bauplan“ in sich, der ihn antreibt, sich von Stufe zu Stufe weiter zu entwickeln. Kann ein Kind dem ihm eigenen Entwicklungsplan folgen, dann wird es zu einer starken, individuellen Persönlichkeit werden, die auch die sozialen Aufgaben mit Verantwortungsbewußtsein angeht.

Der Plan eines Architekten bliebe wertloses Papier, würde er nicht in der Realität mit Steinen, Holz und Beton ausgefüllt. Ebenso bedarf der in dem Kind angelegte Bauplan der sächlichen und menschlichen Umwelt, um Wirklichkeit werden zu können. Die Montessoripädagogik ist deshalb keine abwartende Reifungspädagogik, sondern stark auf die Realität des Lebens bezogen. In ihr hat der Erwachsene sich zu bewähren, und das Kind benötigt die Gesellschaft, ohne die der innere Bauplan nicht zur Entfaltung käme. Für die verschiedenen  Entwicklungsstufen – vom Säugling bis zum Jugendlichen – konkretisiert Maria Montessori, wie Erziehung im engen Kontakt mit der Lebenswirklichkeit stehen muß.

Es gibt einen, und nur einen, richtigen Weg der Entwicklung eines Kindes – nämlich den, den der innere, individuelle Bauplan vorschreibt. Indiz dafür, ob dies im konkreten Fall zutrifft, ist das Auftreten der Polarisation der Aufmerksamkeit, da diese anzeigt, daß das Kind mit seiner Tätigkeit ganz bei sich selbst ist. Hat ein Kind die Freiheit, sich in seiner Weise entwickeln zu können, dann wird eine starke Persönlichkeit entstehen, die ein erfülltes, persönlich befriedigendes Leben ebenso gestalten kann, wie sie sozial kompetent ist, um an einer Welt von Frieden und Gerechtigkeit mitzuarbeiten. In der Montessoripädagogik geht es um die Individualität jedes Einzelnen; doch dies ist nicht im Sinne von Egoismus und Rücksichtslosigkeit zu verstehen. Im Gegenteil: eine starke Individualität wird sich in Freiheit sozial engagieren.

§         Die vielen Abweichungen (Deviation)

Während es nur einen richtigen Entwicklungsweg gibt, ist die Zahl der Abweichungen unendlich groß. Zunächst einmal lassen sich alle Formen von Auffälligkeiten darunter verstehen, die in jeder Erziehergeneration aufs Neue eine starke Herausforderung  bedeuten: lautes, aggressives, selbstzerstörerisches Verhalten ebenso wie Passivität, Angst, ein in sich Einschließen. Doch merkwürdiger Weise zählt Maria Montessori auch die enge Anhänglichkeit des Kindes an den Erwachsenen und die große Phantasiekraft zu den Erscheinungen der Deviation. Ersteres ist vielleicht noch verständlich: Ein Kind, das sich stark an den Erwachsenen bindet, ist ein unfreies Kind. Vielleicht weil es überschwemmt wird durch Ängste aus dem eigenen Inneren, vielleicht weil es seine Umwelt nicht als verläßlich erfahren kann, hat es kein Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten gefunden. Sein Drang zur Unabhängigkeit ist auf Grund fehlender oder unzureichender eigener Stärke verkümmert.

Auch das scheinbar phantasiebegabte Kind, das Eltern und Erziehern häufig als drollig erscheint, ist auf Abwege geraten. Es hat den Kontakt zur Realität verloren und ersetzt den Wirklichkeitsbezug durch Hirngespinste. Das gesunde Kind aber will sich in die Welt einarbeiten, sie verstehen und einen Platz in ihr finden, und erst wenn ihm dies verwehrt wird, ist es gezwungen, sich autistisch eine eigene Welt aufzubauen.

Die substantivistische Weise, in der Maria Montessori die Wörter „Normalisation“ und „Deviation“ benutzt, kann das Mißverständnis nahelegen, als handele es sich um Zuschreibungen fester Gegebenheiten, so wie der Kinderarzt „Keuchhusten“ oder „Sehschwäche“ diagnostiziert. Doch dies trifft nicht das, was Maria Montessori meint. Vielmehr geht es hier um die Beschreibung von Entwicklungsprozessen, so daß es korrekter wäre, von einem Kind auf dem Weg zur Normalisation oder Deviation zu reden. Von einem „devianten Kind“ zu sprechen, meint nicht, es als verhaltensauffällig zu klassifizieren oder abzuwerten, sondern es beschreibt ein unglückliches Kind, dem unüberwindbare Hindernisse auf seinem eigentlichen Entwicklungsweg entgegengestellt werden, so daß es merkwürdige Kompromißbildungen von Weiterentwicklung und Rückzug, von Unabhängigkeit und Passivität eingehen muß. Ein deviantes Kind ist, im Sinne Maria Montessoris, ein unglückliches, verletztes Kind.

Mag das Kind auch sehr weit in die Abweichung hineingetrieben worden sein, so daß es auf der Erscheinungsebene als in starkem Maße verhaltensauffällig erscheint, so ist die Kraft zur Normalisation trotzdem in ihm vorhanden, in welch starkem Maße sie auch immer verschüttet ist. Es ist die Aufgabe der Erziehung, mit diesen Kindern Schritt für Schritt zurückzugehen, um alle negativen Knotenpunkte zu lösen, die das Kind von seinem Weg der Selbstentwicklung abgeführt haben. Dann wird es sich mit der Zeit normalisieren, seine eigenen Kräfte in sich entdecken und seinen Weg der Entwicklung gehen.

Verhaltensauffälligkeit ist ein Thema der Pädagogen in unserer Zeit. Wie die vorangegangenen Generationen der Berufskollegen klagen Erzieher über die scheinbar zunehmende Zahl schwieriger Kinder. Von Maria Montessori läßt sich in dieser Hinsicht einiges lernen. Zunächst einmal ihr Blickwinkel: Wie immer in ihrer Pädagogik so gilt auch hier, daß nicht die Erwachsenen-, sondern die Kinderperspektive ausschlaggebend ist. Nicht ob vom Standpunkt des Erwachsenen aus ein Kind schwierig oder auffällig ist, ist entscheidend, sondern ob aus der Entwicklungsperspektive des Kindes eine Abweichung von dem Gang zu mehr Selbstbewußtsein, Unabhängigkeit und Stärke vorliegt, bedingt die Diagnose „Deviation“. Des weiteren ist ihre pädagogische Sichtweise hervorzuheben: Es ist nicht Therapie, sondern Erziehung, die an die Kraft der guten Eigenentwicklung auch des Kindes glaubt, das weit in den Prozeß der Deviation hineingetrieben wurde. Erziehung hat die Aufgabe, der Selbstentwicklung die geeigneten Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Wird ein Kind in eine geeignete Erziehungsumgebung versetzt, dann wird auch das verletzte geheilt und das unglückliche glücklich.

2. Sensible Perioden

Die Pädagogik Maria Montessoris ist eine Pädagogik der Altersstufen. Von der frühen Kindheit über das Schulalter hin zum Jugendlichen und Heranwachsenden durchläuft der Mensch eine Entwicklung. Er wächst, nimmt zu an Gewicht, verbessert seine Wahrnehmungen, Sprache, Intelligenz. Doch in pädagogischer Hinsicht muß neben diesem quantitativen Wachstum vor allem die qualitative Andersartigkeit gesehen werden. Menschen verschiedener Entwicklungsstufen unterscheiden sich in grundlegender Weise voneinander, sie haben jeweils andere Selbst- und Weltbilder, andere Entwicklungsaufgaben. Da es Prinzip der Montessoripädagogik ist, dem Kind nicht etwas überzustülpen, sondern sich als Hilfe und Unterstützung der Selbstentwicklung zu verstehen, müssen die didaktisch-methodischen Grundsätze in den einzelnen Altersstufen unterschiedlich sein. Lassen Sie uns im Zeitraffer eine Reise von dem Neugeborenen hin zu dem jungen Erwachsenen unternehmen.

§         Die frühe Kindheit

Die Entwicklung des Kindes bis zu seinem dritten Lebensjahr ist durch eine Form seines Geistes gekennzeichnet, die sich radikal von unserem Bewußtsein unterscheidet. Maria Montessori bezeichnet sie als den „absorbierenden Geist“. Durch ihn saugt das Kind seine Umwelt in seinen Kopf ein, es nimmt Bilder, Geräusche, Gerüche auf, ohne daß es weiß, daß es dies tut. Die Sinnesorgane des Neugeborenen sind funktionsbereit, doch es hat noch keine bewußten Erinnerungen in seinem Kopf, mit deren Hilfe es die neuen Eindrücke als gleich, verschieden oder ähnlich zu früheren Wahrnehmungen beurteilen könnte. Der Sinn des „absorbierenden Geistes“ besteht gerade darin, ein erstes Repertoire von Sinneseindrücken sich zu erarbeiten, mit denen später der bewußte Verstand arbeiten kann.

Wir sagen umgangssprachlich manchmal: „Ich sauge mich voll wie ein Schwamm“, um die Aufnahme möglichst vieler Eindrücke in einer neuen, ungewohnten Situation zu beschreiben. Erst später, mit ein wenig Distanz, werden wir dann all das Neue sortieren. Bleiben wir bei diesem Bild: Auch der Säugling muß sich „vollsaugen wie ein Schwamm“, nur daß er noch nicht einmal über den „Schwamm“ verfügt. Mit der Aufnahme der ersten Sinneseindrücke werden nicht nur Bilder, Geräusche, Gerüche aufgenommen, sondern es wird überhaupt erst das Grundgerüst aufgebaut, mit dem später vergleichende Wahrnehmungen geschehen können. Der absorbierende Geist des kleinen Kindes saugt die Außenwelt auf wie der Schwamm das Wasser, aber er baut dadurch zugleich den „Schwamm“ auf.

Maria Montessori spricht von dem kleinen Kind als „geistigem Embryo“. Wie die körperliche Entwicklung von der befruchteten Eizelle hin zum Neugeborenen abgeschirmt im Bauch der Mutter abläuft, so ist der Aufbau der grundlegenden psychischen Funktionen am Beginn des Lebens durch das Dunkel des Unbewußten geschützt. Der Erwachsene muß sich hüten, ihn zu früh an das Licht des Bewußtseins zu zerren, und er muß vor allem die Geduld des Wartens aufbringen, bis in der weiteren Entwicklung das Kind selbst den Abschluß der Phase des geistigen Embryos anzeigt.

Aus der Wirkungsweise des absorbierenden Geistes ergeben sich für die Erziehung der null- bis dreijährigen Kinder wichtige Konsequenzen. Das Kind saugt alle Bilder (ebenso Geräusche, Gerüche usw.) der Außenwelt in sich ein, so daß es wie selbstverständlich ein Kind seiner Zeit wird. Das kleine Kind ahmt all das nach, was es in seiner Umwelt erlebt. Der Erwachsene hat deshalb die Verantwortung, ihm eine geeignete Umgebung anzubieten, die wertvoll genug ist, um als Grundbestandteil der weiteren Entwicklung und als lebenslange Erfahrungsgrundlage zu dienen. Erfährt das kleine Kind Schmutz, Aggressivität, Ausbeutung und Krieg als seine ersten Bilder, dann werden sich diese dem Kind ebenso einprägen wie positive Erfahrungen.

Maria Montessori ist es besonders wichtig zu betonen, daß die Umwelt der kleinen Kinder die wirkliche Welt der jeweiligen Gesellschaft und Kultur ist, weil sie nur so zu Menschen werden können, die verantwortungsvoll an den Stand ihrer Zeit anknüpfen und aktiv deren jeweilige Probleme mitlösen können. Die Mutter soll das Kind deshalb nicht in die sterile und nach äußeren Hygienevorstellungen gebildete Welt eines Säuglings- und Kinderzimmers einsperren, sie sollte nicht meinen, daß das Kind keiner Erfahrungen bedürfe, nur weil es bewußt diese nicht versteht. Die Mutter soll vielmehr ihr kleines Kind überall mithin nehmen, um ihm die Basis für ein reichhaltiges Aufsaugen von realen Eindrücken zu ermöglichen. Dies beinhaltet auch den Aspekt der Selbsterziehung der Erwachsenen: Ist meine Umgebung, in der ich lebe, geeignet und wertvoll, um als Grundbaustein für einen werden Menschen zu dienen?

§         Das Kindergartenkind

Maria Montessori spricht von den ersten drei Lebensjahren als einer „Periode der Schöpfung“, während die folgenden drei Jahre „eine Periode der Realisierung und der Perfektionierung“ sind. Während der ersten drei Lebensjahre baut das Kind seine Individualität auf; im Kontakt mit seiner Umwelt bildet es sich selbst als den einmaligen Menschen, der nicht Resultat eines vorgeformten Anlageprogramms ist, sondern „Werk seiner selbst“ (Pestalozzi). Doch diese Individualität ist noch keine bewußte, sondern sie ist die Arbeit eines unbewußt absorbierenden Geistes. In den kommenden drei Jahren gelangt zunehmend Bewußtheit in das Kind hinein: Es wird sich darüber klar, daß es Mitglied einer bestimmten Familie, daß es Junge oder Mädchen ist, daß es klein und die Eltern groß sind. Maria Montessori spricht von den zweiten drei Lebensjahren als einer Periode der „aufbauenden Vervollkommnung“, d.h. das, was das Kind bisher als Individualität geschaffen hat, wird jetzt weiterentwickelt und perfektioniert.

Äußerlich sichtbar wird der Entwicklungseinschnitt am Ende des dritten Lebensjahres durch den Wechsel der Lernorte. Bis zu seinem dritten Lebensjahr wächst das Kind in der Familie auf, es erhält hier durch die Teilnahme an den alltäglichen Verrichtungen und dadurch, daß es die Mutter auf all ihren Wegen begleitet, eine Fülle von Eindrücken. Mit drei Jahren – so Maria Montessori - genügt die Familie als ausschließlicher Lernraum nicht mehr. Das Kind bedarf einer pädagogischen Institution, in der es für Stunden mit anderen Kindern lebt. Diese Einrichtung ist nicht einfaches Spiegelbild des gesellschaftlichen Lebens, sondern sie ist auf Grund einer speziellen Didaktik und Methodik konstruiert, die auf der Beobachtung der neu entstehenden Entwicklungs- und Lernbedürfnisse des Kindes basieren. Beispielsweise durch die Sinnesmaterialien erhält das Kind jetzt die Möglichkeit, die absorbierten Wahrnehmungen bewußt zu verarbeiten. Es erfährt etwas über die unterschiedlichen Wahrnehmungsdimensionen, davon, daß die Welt sich einteilen läßt in Farben, Formen, Größen usw. Diese jetzt einsetzende Bewusstwerdungsphase, in der schließlich auch die Begriffe gelehrt werden, wird das Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire auf eine neue Ebene heben.

Schöpfung“ und „Vervollkommnung“: darin liegt der Ablauf der zwei Unterphasen der frühen Kindheit. Diese Sicht bringt es mit sich, die Korrekturmöglichkeiten des zweiten Abschnittes hervorzuheben. Weil die Individualität mit drei Jahren nicht „fixiert“ ist, können von drei bis sechs Jahren Fehlentwicklungen in die richtige Bahn zurückgeleitet, Mangelzustände ausgeglichen und Fehler der psychischen Entwicklung korrigiert werden. Dies ist nach dem Abschluß des sechsten Lebensjahres nicht mehr oder nur mit einem großen Kraftaufwand möglich. Dies gibt der Kindergarten- (bzw. Kinderhaus-) Zeit eine große Bedeutung. Erstmals treten die Kinder hier in den Raum der öffentlichen Erziehung, und Fehlentwicklungen, die im Rahmen der Familie vielleicht nicht aufgefallen waren, bzw. die als „normal“ beurteilt wurden, können jetzt erkannt und behoben werden.

§         Das Schulkind

Kontinuität und Wandel bestimmen gleichermaßen die Sichtweise Maria Montessoris von der Entwicklung und Erziehung des sechs- bis zwölfjährigen Kindes. Beginnen wir mit dem, was die Gemeinsamkeit mit der vorangegangenen Epoche der frühen Kindheit ausmacht. Zwischen dem Kinderhaus und der Grundschule soll kein plötzlicher Einschnitt liegen, sondern die organisatorischen und personellen Bedingungen sollen so gestaltet werden, daß ein fließender Übergang zur Schule erfolgt. Es ist ratsam, daß zwischen beiden Einrichtungen eine räumliche Nähe vorhanden ist, so daß die jüngeren Kinder von den älteren lernen und diese zu den Lernmaterialien des Kinderhauses zurückkehren können. So wie im Kinderhaus die Gruppen altersgemischt sind, so sollen auch die Grundschulklassen Kinder unterschiedlichen Alters aufnehmen. Wie bei den jüngeren Kindern so ist auch bei den älteren die eigenständige Arbeit der einzelnen Kinder wichtiges Unterrichtsprinzip. Nicht der vom Lehrer gesteuerte Lehrprozeß für die gesamte Klasse, nicht das für alle Kinder im Gleichschritt zu absolvierende Curriculum und nicht die Arbeit mit vorgefertigten Lehrbüchern steht im Vordergrund, sondern die eigenständige Arbeit mit selbst gewählten Übungsmaterialien in einer reichhaltigen Umgebung. Einem Kind aus dem Kinderhaus ist diese Arbeitsweise bereits vertraut, und es kann deshalb nahtlos an seine früheren Lernerfahrungen anschließen.

Maria Montessori bezeichnet das Grundschulalter als eine „sensible Periode der Bildung“. Es steht nicht mehr im Vordergrund, die Umgebung durch den absorbierenden Geist aufzunehmen, damit die individuelle Persönlichkeit des Kindes geschaffen wird. Weil diese vorläufig abgeschlossen ist, kann sich das Kind jetzt der Umwelt in ganz neuer Weise zuwenden. Alles will es wissen, in alles will es eindringen, weil jetzt nicht mehr die wahrnehmungsmäßige Oberfläche der Außenwelt von Interesse ist, sondern die Suche nach dem, was „die Welt in ihrem Inneren zusammenhält“. Das Interesse des Kindes weitet sich enorm aus. Nicht nur das vor Augen Liegende ist wichtig, sondern noch mehr die entlegensten Räume und die entferntesten Zeiten; und das Interesse reicht tiefer, weil es auf die Ursachen der Dinge und die Entscheidungsgründe für richtiges Verhalten vorstoßen will. So wie das Kind in die Weite und Tiefe der Außenwelt eindringt, so bezieht es diese auch auf sich selbst. Im Äußeren und Inneren gibt es nichts, was nicht sein Erkenntnisbemühen ansprechen könnte.

Dem Bedürfnis dieses Alters nach Gesamterkenntnis über die Welt und den Menschen kann nicht durch Formen abstrakter und empirisch korrekter Hypothesen und Theorien entsprochen werden. Vielmehr müssen den Kindern Antworten auf der Ebene angeboten werden, auf der sich ihre psychische Entwicklung befindet. „Bewunderung“, „Staunen“, „Vision“, „Phantasie“, „Begeisterung“ sind deshalb Wörter, die Maria Montessori gebraucht, um die Phase des Grundschulkindes zu charakterisieren.

In der schöpferischen Einbildungskraft des Kindes sieht sie das Medium, durch das die Fragen im Alter der Grundschulzeit beantwortet werden können. Nicht nüchtern soll der Unterricht ablaufen, nicht durch die Darbietung von Einzelfakten, sondern durch Erzählungen, die Begeisterung vermitteln. Der Geist des Kindes wird dadurch angeregt, sich die Welt zu erschließen. Die Phantasie schließt eine Lücke, die auf anderen Wegen nicht geschlossen werden kann: zwischen dem, was durch Wahrnehmung und Handlung empirisch an Einzelkenntnissen von der Oberfläche der Dinge aufgenommen wird, und der darunter liegenden Tiefenschicht, die nach den Ursachen und Folgen, nach den ethischen und sozialen Begründungen, nach der Vergangenheit und Zukunft fragt.

§         Der Jugendliche

Zuletzt zum Jugendlichen. Er ist nicht mehr Kind, und an verschiedenen Stellen betont Maria Montessori, daß es zu den leichtfertigsten Erziehungsfehlern gehöre, einen 14jährigen wie ein Grundschulkind zu behandeln. Auf der anderen Seite ist der Jugendliche auch noch kein Erwachsener, der die volle Wucht der Verantwortung für seine Handlungen übernehmen müßte. Der Jugendliche strebt in die Erwachsenenwelt hinein, er will wissen, welchen Platz er in ihr wird einnehmen können. Und angesichts der Probleme von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Krieg bedarf die Gesellschaft kaum etwas so sehr wie der Herausbildung von starken Persönlichkeiten, die mit „Kopf, Herz und Hand“ (Johann Heinrich Pestalozzi) die gesellschaftlichen Aufgaben wahrnehmen und sie in Richtung auf Gerechtigkeit und Frieden lösen können. Der Jugendliche darf deshalb nicht nur im Hinblick auf das gesehen werden, was er an erzieherischen Hilfen benötigt, sondern er muß auch als der zukünftige Erwachsene betrachtet werden, auf dem die Hoffnungen einer besseren Welt beruhen.

Maria Montessori spricht von dem Jugendalter als einer zweiten Geburt: „Es ist ... eine Geburt zu einem anderen Leben. Das Individuum wird zu einem sozialen Neugeborenen.“ Konsequenter Weise müßte man von der „dritten“ Geburt sprechen, denn – wie gesagt - wird das kleine Kind als ein „geistiger Embryo“ charakterisiert. Mit dem Neugeborenen, der im Mutterleib seine embryonale Entwicklung durchgemacht hat, wird der Körper des Kindes geboren. Geburt meint, daß der Körper jetzt unabhängig von der Mutter existiert, aber nicht, daß seine Entwicklung abgeschlossen sei. Vielmehr beginnt sie mit der Geburt erst als selbständiger Prozeß. Ebenso ist es mit dem „geistigen Embryo“, der in der frühkindlichen Entwicklungsphase ausgeprägt wird. In dem Alter der Grundschulzeit wird der Geist geboren, und er ist jetzt selbständig, um sich bewußt ausprägen zu können.

So ist auch die Geburt des „sozialen Neugeborenen“ im Jugendalter nicht etwas, das vom einen zum anderen Tag abgeschlossen wäre. Vielmehr bedarf es noch einiger Jahre der selbstbewußten Entwicklung, bis sich eine sozial verantwortliche Persönlichkeit ausbilden wird. Mit Beginn des Jugendalters erscheint der „soziale Neugeborene“, und dieser benötigt die erzieherischen Hilfen ebenso wie der physisch Neugeborene die Nahrung und der geistig Neugeborene die Bildung.

Die Entwicklungslage des Jugendlichen ändert sich im Vergleich zu der vorhergehenden Epoche grundlegend, und deshalb muß eine Pädagogik, die sich als Hilfe und Unterstützung der Selbstentfaltungskräfte versteht, sich jetzt auch radikal ändern. Und in der Tat, das, was Maria Montessori an Grundsätzen und konkreten Projekten für das Jugendalter beschreibt, ist in hohem Maße „anders“ als das, was die traditionelle Schulerziehung bis heute ausmacht, aber auch „anders“ als die Erziehung im Kinderhaus und in der Montessori-Grundschule.

Maria Montessori kritisiert die traditionelle Schule, die die Jugendlichen wie Kinder behandelt und beispielsweise einem unwürdigen Zensurendruck unterwirft. Und sie kritisiert, daß der Jugendliche von der Arbeit ausgeschlossen wird. Arbeit aber ist für Maria Montessori ein grundlegendes Menschenbedürfnis und Menschenrecht. Das kleine Kind baut durch Arbeit seine eigene Persönlichkeit auf. Für den Jugendlichen steht jetzt die Teilnahme am Produktionsprozeß an. Er muß mit seiner eigenen Hände Arbeit etwas Sinnvolles herstellen, weil er nur dadurch Erfahrungen mit der Erwachsenengesellschaft macht. Indem er tätig wird, realisiert er die Entwicklungsaufgabe, die in seinem Alter im Vordergrund steht: sich vertraut zu machen und eingeführt zu werden in die soziale Welt. Maria Montessori redet damit nicht der Ausbeutung von Jugendlichen das Wort, meint aber auch nicht, daß der Jugendliche lediglich zuschaut, Botendienste verrichtet, nicht sinnvoll und produktiv tätig wird. Die Jugendarbeit ist Teil des Bildungsprogramms und markiert nicht sein Ende.

Maria Montessori hat mit ihrem „Erdkinderplan“ einen konkreten Entwurf für die Bildung im Jugendalter vorgelegt. Er zeigt in seiner Radikalität, mit der er sich von der traditionellen Schulerziehung abhebt, wie sehr es ihr darauf ankommt, Erziehung nicht in den gewohnten Bahnen des ständig Gleichen zu denken, sondern abhängig zu machen von den grundlegenden Lernbedürfnissen der jeweiligen Entwicklungsstufe. Das Projekt ist Plan geblieben, aber m.E. würde es sich lohnen, wenn eine Montessoriinitiative sich der Mühen ihrer Realisierung annähme.

3. Die Erzieherische Einstellung

Erlauben Sie mir – zum Schluß kommend -, Ihnen ein letztes Stück der Pädagogik Maria Montessoris vorzustellen, ungewöhnlich in der Form, aber charakteristisch in seiner Grundaussage. Maria Montessori erzählt die Geschichte zweier Kinder. Das erste Kind wird von der Lehrerin als „gewalttätig“ beschrieben, das die Altersgenossen in ihrer Arbeit stört, ohne selbst etwas Konstruktives zu tun. Auch in der Familie gilt es als aggressiv. Eine genauere Betrachtung der sehr ärmlichen Familienverhältnisse zeigt, daß dem Kind dort das Lebensnotwendige vorenthalten wird, so daß es buchstäblich um sein Brot kämpfen muß. Und es kämpft, es resigniert nicht, sondern zeigt in seinem Alltag einen „heroischen“ Lebenswillen, um zu überleben. In der Schule sitzt es neben einem reichen Kind, das eine Menge leckerer Speisen mitgebracht hat, während es selbst nur sein trockenes, in heftigem Kampf erworbenes Brot auspacken kann. Die Lehrerin beobachtet die Szene, und sie ist überrascht von der „Würde“ mit der dieses Kind die Situation meistert: Langsam nagt es an seinem Brot, um nicht schneller fertig zu sein als das andere.

Das zweite Kind ist das Gegenteil des ersten. Anfänglich wird es uns vorgestellt als „still“, vielleicht wäre es in einer traditionellen Schule ein gut funktionierendes, weil total angepaßtes Kind. Doch es hat einen nervenden Fehler: laufend „verpetzt“ es die Mitschüler bei der Lehrerin. Ist das erste Kind verhaltensauffällig wegen seiner fortlaufenden Aggression, so ist es das zweite, weil es ständig in seinem Leben „den Weg des Opfers“ geht. Es wird nicht selbst aktiv, um sich etwas anzueignen - in psychischer, aber auch in physischer Hinsicht. Es ist deshalb in Gewicht und Körpergröße deutlich hinter den durchschnittlichen Werten zurück, während das erste, trotz der knapper Nahrung normale Maße aufweist. Die einzige Möglichkeit, die diesem zweiten Kind verbleibt ist die Suche nach der Unterscheidung von „gutem“ und „bösem“ Verhalten, deshalb auch das Petzen, durch das es sich von der Lehrerin eine Bestätigung erhofft. Maria Montessori sagt von diesem Kind, es gehöre zu denen, die „von den anderen gerettet werden müssen“. Es hat so wenig eigene Aktivität, sein physisches und psychisches Leben zu erhalten, es ist so „zerbrechlich“ und erscheint wie ein „Engel“, der „zum Himmel“ schaut.

Maria Montessoris Schlußfolgerung aus der Geschichte dieser beiden Kinder lautet: „Wenn wir das als Wissenschaft bezeichnen, was dazu führt, die Worte ‘gewalttätig’ und ‘petzerisch’ in ‘heroisch’ und ‘engelhaft’ zu verwandeln ..., dann können wir mit Bestimmtheit sagen, daß ‚das liebevolle Urteil auch das weise ist’.“ (Montessori, 1995, S. 116)

In dieser Geschichte kommen die grundlegende Einstellung zur Erziehung, das Bild vom Kind, die Sichtweise der Aufgabe der Erzieherin gut zum Ausdruck. Das Kind ist von Natur aus gut, es hat einen Lebenswillen in sich, der zu Entwicklung und Vervollkommnung drängt. Dies gilt auch für das als „verhaltensauffällig“ charakterisierte Kind. Auch seine scheinbaren Störungen geben Sinn, wenn die Erzieherin gelernt hat, hinter die Fassade des oberflächlichen Verhaltens zu schauen. Dazu braucht sie zweierlei: Wissenschaft und Liebe. Die Wissenschaft gibt ihr die Möglichkeit, genauer hinzuschauen, weiter zu suchen, um an den Kern der kindlichen Persönlichkeit zu gelangen, sich nicht auf Vorurteile einzulassen, sondern nüchtern auf die Beziehung von Ursache und Wirkung zu schauen. Und die Liebe drückt die grundlegende Einstellung zu dem Kind aus: nicht den Fehler des Kindes lieben, nicht das Kind trotz (manchmal sogar wegen) seines Fehlers lieben, sondern den festen Glauben daran haben, daß jedes Kind „gut“ sein will und daß es in sich die Kraft hat, sich weiterzuentwickeln. Die „Liebe“ der Erzieherin zu jedem Kind sagt ihr, daß die Möglichkeit zur Selbstvervollkommnung durch soziale Bedingungen und durch eine falsche Pädagogik gestört sein kann, aber daß sie nie ganz vernichtet ist.

Wenn es der Erzieherin gelingt, auch in schwierigen Fällen sich nicht von den negativen Auffälligkeiten ablenken zu lassen, sondern wenn sie in ihrem Verständnis weiter geht, um zu der ursprünglichen Güte des Menschen zu gelangen, dann wird sie einen Weg für ihre erzieherischen Hilfen finden. Eine pädagogische Haltung, die von wissenschaftlicher Nüchternheit und liebender Hinwendung gleichermaßen getragen ist, wird das Kind zu der Freiheit seiner eigenen Entwicklung führen. Das ist vielleicht das Wichtigste, aber auch das Schwierigste im Erziehungsgeschäft, daß wir lernen müssen, „die Worte ‘gewalttätig’ und ‘petzerisch’ in ‘heroisch’ und ‘engelhaft’ zu verwandeln“.


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