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Sigurd
Hebenstreit
Johann
Amos Comenius (1592 bis 1670):
„der Natur beim Gebären helfen“
Martin
Luther ist nahezu ein halbes Jahrhundert
tot, als Johann Amos Comenius geboren
wird. Mit ihm kann man den Beginn der
neuzeitlichen Pädagogik ansetzen, der
gegenüber die bisher betrachteten Personen
Vorläufer sind. Diese These gilt in
zweierlei Hinsicht: zum einen nimmt
bei ihm die pädagogische Reflexion quantitativ
einen ungleich breiteren Raum ein, und
zum anderen bekommt durch ihn der erzieherische
Grundgedanke im Sinne einer Betrachtung
der kindlichen Eigenstruktur einen zentralen
Stellenwert. Beide Aspekte gelten, obwohl
auch Johann Amos Comenius als Theologe
das Geschäft der Pädagogik betreibt.
Ähnlich
wie Erasmus von Rotterdam ist Johann
Amos Comenius eine europäische Gestalt,
ja dieses ist er in noch größerem Maße
als jener, weil der osteuropäische und
nordeuropäische Raum in seiner Biographie
Bedeutung hat. Geboren wird er in Mähren,
Teil der heutigen tschechischen Republik,
etwa 300 km südöstlich von Prag. Er
studiert in Deutschland, beginnt sein
erwachsenes Leben in der Heimat, aus
der er auf Grund der Ereignisse des
30-jährigen Krieges nach Polen vertrieben
wird. Weitere Stationen seines Weges
sind England, Schweden, Ostpreußen und
Ungarn. Seinen Lebensabend verbringt
er in Holland, wo sein Grab noch heute
in der kleinen Stadt Naarden, unweit
von Amsterdam, besucht werden kann.
Wir
sprachen bei Martin Luther davon, dass
Spannungen zum menschlichen Leben gehören,
die bei jedem einzelnen auf Grund individueller
Anlagen, einer persönlichen Biographie
und gesellschaftlicher Zeitumstände
eine spezifische Färbung erhalten.
Bei Johann Amos Comenius ist
es der intensiv erfahrene Kontrast zwischen
tiefer Verzweifelung und paradiesischer
Hoffnung, der sein Leben kennzeichnet.
Da ist zunächst der Tatsache zu gedenken,
dass der größte Teil seines Lebens durch
die Erfahrung von Kriegserschütterungen
unmittelbar geprägt ist, obwohl ihn
andererseits die Friedenssehnsucht nicht
verlässt. Politisch hat er unmittelbaren
Kontakt mit einigen der Mächtigen seiner
Zeit, aber letztendlich muss er sich
als ohnmächtig erfahren, das bedrückende
Schicksal seines Volkes und seiner Glaubensgemeinschaft
zum Besseren zu beeinflussen. Er ist
ein Weltenbürger, der sich das eigene
Heimatland wählen könnte, aber er erfährt
sich als Heimatloser. Schon zu Lebzeiten
hat er nicht unbeträchtliche Erfolge,
und er genießt den Ruhm einer öffentlichen
Person, doch auch die Erfahrung der
Einsamkeit bleibt ihm nicht erspart.
Er ist überzeugt von seiner Mission,
für deren Realisierung er seine ganze
persönliche Kraft einsetzt, aber in
seinem Lebensrückblick beschreibt er
sich als einen Menschen, der von anderen
getrieben wurde, von ihrem Urteil abhängig
war. Der Adressat seines Wirkens ist
eine relativ kleine kirchliche Gemeinschaft
und gleichzeitig die europäische wissenschaftliche
Gelehrtenwelt, weshalb er in tschechischer
und lateinischer Sprache gleichermaßen
schreibt. Er pflegt Kontakt zu den wissenschaftlich-philosophischen
Größen seiner Zeit und will das Gesamt
menschlichen Wissens ordnen und nutzen,
doch an einigen Stationen seines Lebens
bricht sich ein Aberglaube Bahn, indem
er wahrsagerischen und spiritualistischen
Ideen selbst anhängt und ihnen öffentliche
Publizität verleiht. Sein Fühlen schließlich
schwankt zwischen Phasen depressiver
Verzweifelung, rastlosem, auflehnenden
Suchen und einer sicheren Ruhe in sich
selbst. Wer ist dieser Johann Amos Comenius?
a)
Biographisches
·
Kindheit,
Jugend und Studium
1592
|
28. März:
Geburt Comenius
|
1602/03
|
Tod des
Vaters und der Mutter
|
1608
|
Lateinschule
in Prerau
|
1611
|
Studium
in Herborn und Heidelberg
|
1614
|
Lehrer
und Rektor in Prerau
|
1618
|
Prediger
und Lehrer in Fulnek
|
1621
|
Aufenthalt
an z. T. geheimen Orten
|
1628
|
Auswanderung
nach Lissa in Polen
|
1641
|
London,
Holland und Schweden
|
1642
|
Elbing,
Arbeit im Dienst Schwedens
|
1648
|
Lissa (2.
Aufenthalt)
|
1648
|
leitender
Bischof der Unität
|
150
|
Sárospatak
|
1654
|
Lissa (3.
Aufenthalt)
|
1656
|
Amsterdam
|
1670
|
15. November:
Tod in Amsterdam
|
Sein
Leben bestimmend ist zu allererst die
Tatsache, dass er in die Glaubensgemeinschaft
der Böhmischen Brüder hineingeboren
wird. Diese gehen auf Jan Hus zurück,
der mehr als 100 Jahre vor Martin Luther
Missstände der Kirche angegriffen und
ein Reformprogramm vorgelegt hat, für
das er 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen
verbrannt wurde, ohne dass seine Ideen
insbesondere in seiner böhmischen Heimat
damit ausgerottet werden konnten. Die
Böhmischen Brüder bildeten in Tschechien
eine eigenständige religiöse Kraft neben
Lutheranern, Reformierten und Katholiken.
Für Johann Amos Comenius ist diese Glaubensgemeinschaft
Familienersatz, und er bedarf ihrer
um so mehr, als er durch den frühen
Tod des Vaters und der Mutter (Johann
Amos ist 10 bzw. 11 Jahre alt) Waise
wird. Er wächst bei einer Tante auf,
und als deren Dorf zerstört wird, macht
das Kind die ersten Erfahrungen mit
der Grausamkeit des Krieges. Johann
Amos Comenius ist 16 Jahre alt, als
eine kleine Erbschaft ihm den Besuch
der Lateinschule der Böhmischen Brüder
in Prerau ermöglicht. Dort fällt sein
Talent, seine Lernfähigkeit und Lernbereitschaft
auf, und der 19-jährige wird zum Studium
ausgewählt. Da die Böhmischen Brüder
über keine eigene Hochschule verfügen,
entscheidet man sich für die calvinistischen
Universitäten in Herborn und Heidelberg,
die theologisch näher stehen als etwa
das lutherische Wittenberg. Drei Jahre
Zeit hat Johann Amos Comenius für sein
Studium, einen Abschluss wird er nicht
machen, da dies den Böhmischen Brüdern
nicht wichtig ist. Er saugt sich mit
Wissen voll wie ein Schwamm, und er
begegnet hier der Idee, die ihn sein
Leben lang nicht mehr loslassen wird:
all das Wissen der beginnenden Neuzeit,
das einem neuen Welt- und Menschenbild
Platz verschafft, ist in einer großen
Enzyklopädie zu sammeln und zu ordnen.
Wird dieses Gesamt des Wissens in einem
pädagogischen Prozess allen Menschen
zugänglich gemacht, dann ist ein wichtiger
Grund für eine bessere Welt gelegt.
Johann Amos Comenius ist erst 22 Jahre,
als er zu Fuß von Heidelberg über Prag
nach Mähren wandert, das für die Reise
vorgesehene Fahrtgeld hat er in den
Erwerb eines Buches von Johannes Keppler
investiert, einen Schatz, den er sein
Leben lang hüten wird.
·
Schicksalsschläge
und Trostschriften
In
Prerau beginnt nun eine ganz normale
Erwachsenenbiographie, in die jedoch
schon bald die Gewalt des großen Krieges
eingreift. Mit 22 wird er Lehrer und
kurze Zeit später Rektor der Lateinschule,
zwei Jahre später wird er zum Priester
der Böhmischen Brüder ordiniert und
nochmals zwei Jahre später erfolgt seine
Versetzung als Prediger und Lehrer in
das 50 km entfernte Fulnek. Es ist das
Jahr des ausbrechenden 30-jährigen Krieges
als Johann Amos Comenius zum ersten
Mal heiratet. Die ersten beiden Kinder
werden geboren. Doch schon bald wandelt
sich dieser glückliche Lebenslauf in
die Katastrophe. Die kriegerischen Ereignisse,
in deren Verlauf alle protestantischen
Kirchen verfolgt werden, greifen von
Böhmen aus auf Mähren über. Johann Amos
Comenius muss fliehen und sich in den
Wäldern versteckt halten. Teilweise
findet er, ebenso wie andere verfolgte
Glaubensbrüder Unterschlupf bei Adeligen.
Die Frau und die kleinen Kinder bleiben
zurück und sterben kurze Zeit später
an der durch den Krieg bedingten Pest.
Johann Amos Comenius fällt ins Bodenlose
- neben der familiären Katastrophe steht
seine Beschäftigungslosigkeit, und es
fehlt eine Perspektive aus der hoffnungslosen
und das eigene Leben bedrohenden Situation.
Um aus dieser depressiven Lage herauszugelangen,
nutzt er ein Mittel, das ihm noch des
öfteren in seinem Leben helfen wird:
er schreibt gegen seine Verzweiflung
an, um in seinem Glauben eine Gewissheit
zu erlangen, die vor den Gefahren der
Selbstvernichtung und der Trauer bewahrt.
Ein
Ergebnis dieser „Trostschriften“ ist
ein Buch, das zur Grundlektüre der tschechischen
Literatur wird und das auch für den
Leser heute eine faszinierende Aktualität
bereithält: „Das
Labyrinth der Welt und das Paradies
des Herzens“ (geschrieben 1623,
erstmals veröffentlicht 1631). Die Welt
und der menschliche Lebenslauf werden
in das Bild einer Stadt zusammengezogen,
deren Mittelpunkt der Marktplatz des
geselligen und geschäftigen Lebens bildet.
Sechs Hauptstraßen durchqueren die Stadt,
die das Leben in der Familie, den Beruf,
die Bildung und Wissenschaft, die Kirche,
die Obrigkeit und den Kriegerstand symbolisieren.
Am Ende der Stadt liegt die „Burg Fortunas“,
die den erfolgreichen Menschen Reichtum,
Genuss und Ruhm verspricht. Ein „Pilger“
wird von zwei Begleitern, die ihm die
Faszination der Welt zeigen wollen,
durch die Stadt geführt. Doch weil der
Pilger die Welt nicht durch die rosarote
Brille der Verblendung und des Vorurteils
betrachtet, kann er sehen, was sie tatsächlich
ist: ein riesig großes Labyrinth, in
dem gemordet, belogen, überlistet, hintergangen
wird, und auch das scheinbare menschliche
Glück des Wohlstandes, der Triebbefriedigung
und des Ruhmes erweist sich bei genauerem
Hinsehen als das Gegenteil. Das Buch
des Johann Amos Comenius ist voll von
bildhaften Beschreibungen der Realität
des gesellschaftlichen Labyrinths, in
dem die Menschen sich verirren. Der
Pilger resümiert seine gesamte Reise
ernüchtert: „Und
ich erschrak, daß nirgends in der Welt
... etwas Tröstliches zu finden sei,
woran das Herz mit voller Zuversicht
sich klammern könnte.“ (1631; S.
186) Was bleibt zu hoffen in einer derart
deprimierenden Situation, die wohl ein
Spiegelbild der Verfassung des Johann
Amos Comenius in dieser Zeit ist? Der
Pilger vernimmt eine Stimme: Kehre um!
„Kehre
dahin zurück, von wo du ausgegangen
bist, in deines Herzens Kämmerlein und
schließe hinter dir die Türe zu!“
(ebenda; S. 222) Gerne folgt der Pilger
diesem Rat, doch er muss erkennen, dass
die Zugänge zu seiner eigenen Seele
verschmutzt sind. Er muss sie erst reinigen,
um Gott und durch Gott sich selbst richtig
zu erkennen und darin Freiheit, Leichtigkeit,
Überfluss, Sicherheit, Frieden und Freude
wirklich zu finden.
Den
gleichen Gedanken hat Johann Amos Comenius
in seiner zwei Jahre später geschriebenen
Schrift „Centrum
Securitatis“ (geschrieben bis 1625,
erstmals veröffentlicht 1633) durch
das Bild eines Rades auszudrücken versucht:
der unbewegliche Mittelpunkt ist Gott,
die Welt der um diesen Mittelpunkt geschlagene
Radius des Außenkreises und die Menschen
sind die Speichen zwischen beiden. Ein
Mensch wird glücklich leben können,
wenn er nicht in die Peripherie abschweift,
sondern nur wenn er des Centrums (Gott)
eingedenk bleibt, von dem aus alles
wirkliche Leben kommt. „Die ganze weite Welt“, so heißt es auf
dem Titelblatt, „ist
ein gefährliches Rad, das nichts als
Unbestand und Unruh in sich hat; wer
nicht in seinem Gott, als in dem Centro,
bleibt, den schleuderts hin und her,
bis er daran zerstäubet.“
In
diesen frühen Schriften kommt eine radikale
Abkehr von der Welt, die so viel Schmerz
bereitet, und eine mystische Hinwendung
zu Gott, der im Innern des einzelnen
Menschen zu finden ist, zum Ausdruck.
Johann Amos Comenius bedarf angesichts
seiner äußeren Bedrohung und eigenen
Angst dieses Zwischenschritts. Er wird
nicht dabei stehen bleiben (wenngleich
immer wieder dorthin zurückkehren),
denn er ist ein viel zu aktiver Mensch,
als dass er es mit einem Rückzug von
der Welt bewenden lassen könnte. Hat
er Gott in sich gefunden und ist er
dadurch zu sich selbst gelangt, so gewinnt
er eine Basis der Sicherheit, von der
aus er sich wieder der Welt zuwenden
kann.
·
Exil und Entwicklung
der Pansophie
Dies
ist dann auch der Weg des Johann Amos
Comenius: zwei Jahre nach dem Tod der
ersten Frau heiratet er erneut, Kinder
werden geboren, und das Leid, das der
große Krieg seinen Mitmenschen zufügt,
verlangt seine Aktivität. Da die Gemeinde
nicht in Böhmen bleiben kann, wandert
Johann Amos Comenius mit ihr nach Lissa
in Polen aus. Dieser Schritt ins Exil
ist verbunden mit Leid und Trauer, aber
sie hoffen auch, nach dem Ende des Krieges
in die alte Heimat zurückkehren zu können,
eine Hoffnung, die trügen wird. Zunächst
einmal gilt es, das Alltagsleben in
der neuen Umgebung zu gestalten. Johann
Amos Comenius wird wieder Lehrer und
Prediger, und er erkennt die Mühsal,
die die traditionelle Pädagogik für
die Kinder bedeutet. Deshalb versucht
er, eine ganz neue Didaktik zu finden,
die den Kindern das Lernen leicht, spielerisch
und lustvoll macht. Wir werden darauf
zurückkommen.
Johann
Amos Comenius ist keine 40 Jahre alt,
als er ein Ergebnis seiner didaktischen
Reformbemühungen vorlegt: ein neues
Lehr- und Lernbuch zum Erlernen der
lateinischen Sprache. Sein Grundgedanke
ist, dass das Lernen nicht Einpauken
toten Wissens sein dürfe, sondern dass
Sprachenlernen auf einer Basis der sinnlichen
Anschauung gründen und immer in Sinnzusammenhängen
geschehen müsse, die aus der Perspektive
des Kindes dem Gelernten Bedeutung verleihen.
Mit dieser „Geöffneten Sprachentür“
wird Johann Amos Comenius schlagartig
in Europa berühmt, findet sein Schulbuch
doch in vielen Ländern weite Verbreitung
und Anerkennung (später wird ihm die
schwedische Königin Christine, als sie
sich mit ihm in fließendem Latein unterhält,
erklären, sie habe die Sprache durch
sein Schulbuch erlernt).
„Ein
Schmied wird man nur durch
Schmieden, ... und so müssen
auch die Knaben Menschen werden,
indem wir sie mit den menschlichen
Angelegenheiten beschäftigen,
damit ihnen im Leben gar nichts
begegnen könne, ... was sie
in der Schule nicht schon
vorgeübt hätten“ (1639; S.
63).
|
Neben
diesen pädagogisch-didaktischen Bemühungen
beschäftigt sich Johann Amos Comenius
noch mit einem zweiten Gedanken, mit
dem er einen Faden seiner Studienzeit
aufnimmt und den er jetzt unter die
Überschrift „Pansophie“ stellt. Was
ist damit gemeint? Zunächst können wir
es wörtlich mit „Allweisheit“ übersetzen.
Ersetzt wird dadurch der Begriff der
„Enzyklopädie“. Diese gleicht eher einem
„mit
großer Sorgfalt und artigen Ordnung
aufgebauten Haufen von Hölzern als ein
Baum, der aus eigenen Wurzeln emporwächst“
(1639; S. 71). Stellen wir uns ein umfangreiches
Universallexikon vor, das geordnet ist
nach der Reihenfolge der Stichwörter
im Alphabet. Kein Kind könnte sich dieses
Wissen aneignen, wenn wir ihm sagten:
beginne mit dem Buchstaben ‘Aa’ und
höre mit ‘Zz’ auf. Mühsam, langweilig
und überflüssig. In der Pansophie geht
es demgegenüber um das gesamte Wissen,
das in eine sinnvolle Ordnung gebracht
ist, die drei Kriterien gleichermaßen
genügt: sie entspricht erstens der Sachlogik
der Gegenstände, zweitens den Bedürfnissen
des realen, praktischen Lebens und drittens
den Entwicklungsmöglichkeiten des Lernenden.
Pansophie ist „ein lebendiges Bild des Ganzen“, sie ist nicht nutzloses Vielwissen,
sondern Zusammenführung dessen, was
für das Leben des Menschen nützlich
ist.
Um
zur Pansophie zu gelangen, muss in einem
ersten Schritt alles menschliche Wissen
gesammelt werden, und Johann Amos Comenius
betont nachdrücklich, dass alle Menschen
(„Christen
oder Mohamerdaner, Jude oder Heide“)
hier zur Mitarbeit aufgerufen sind,
denn sie sitzen alle „im
gemeinsamen Amphitheater der Weisheit
Gottes“ (ebenda; S. 89). In einem
zweiten Schritt muss dann überprüft
werden, ob dieses menschliche Wissen
mit der Realität übereinstimmt, oder
ob „man
sich an Träume und Schatten hält statt
an die Dinge“ (ebenda; S. 99). Drittens
schließlich muss das an der Wirklichkeit
überprüfte menschliche Wissen in die
oben schon charakterisierte Ordnung
gebracht werden. Die Entwicklung der
Pansophie wird für Johann Amos Comenius
zu einer Herzensangelegenheit, die er
sein ganzes weiteres Leben verfolgen
wird, weil sie den Schlüssel zur Lösung
der drei Problemkreise liefert, für
die er sich engagiert:
·
die pädagogische Frage, weil
sie dem Lehren und Lernen eine Leichtigkeit
und Sicherheit gibt, indem sie die Eigengesetzlichkeit
kindlicher Entwicklung berücksichtigt,
·
die politische Frage, weil
der so gebildete Mensch nicht anders
kann, als sich für Frieden, Freiheit
und Gerechtigkeit einzusetzen,
·
und die religiöse Frage,
weil sie den Menschen zu Gott führt.
·
England, Schweden,
Ungarn
Die
Entwicklung der Pansophie stellt ein
umfangreiches Forschungsprogramm dar,
an dem Comenius arbeiten will. Er sendet
ein handschriftliches Exemplar der „Vorläufer
der Pansophie“ ohne Absicht auf Publikation
an Freunde in England, die es gegen
seinen Willen im Druck erscheinen lassen.
Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt
Johann Amos Comenius, eine Phase großer
wissenschaftlicher und gesellschaftlicher
Anerkennung in verschiedenen europäischen
Staaten. 1641 reist er von Lissa nach
England, wohin er durch einflussreiche
Freunde vom englischen Parlament eingeladen
wird. Durch seine pansophischen Bestrebungen
versprechen sie sich eine Unterstützung
ihres eigenen Reformprogramms. Doch
nachdem diese politische Reform an der
Wiedererstarkung des englischen Königs
scheitert, reist Johann Amos Comenius
nach Schweden weiter. Dort trifft er
mit der Königin Christine und dem schwedischen
Reichskanzler Qxenstierna, damals einem
der einflussreichsten Männer Europas,
zusammen. Er wird offiziell beauftragt,
in der von Schweden beherrschten ostpreußischen
Stadt Elbing durch die Erarbeitung von
Schulbüchern und didaktischen Schriften
an der geplanten Bildungsreform mitzuwirken.
Äußerlich haben er und seine Familie
dort ein gutes Auskommen, doch es bedrängt
ihn, dass er als pädagogischer Methodiker
eingeschränkt wird und seine weiterreichenden
pädagogischen, gesellschaftlichen und
religiösen Bestrebungen nicht geachtet
werden. Sechs Jahre hält er es in Elbing
aus, dann drängt seine zweite Frau angesichts
ihres nahen Todes zurück nach Lissa,
das zur zweiten Heimat geworden ist.
Dort muss er sie alsbald begraben. Der
Witwer mit einer Schar älterer und jüngerer
Kinder alleine gelassen, entschließt
sich als 58-jähriger zur dritten Ehe,
seine Frau ist so alt wie Comenius ältere
Töchter.
Das
Jahr des Todes seiner zweiten Frau ist
auch das Jahr seiner Wahl zum leitenden
Bischof der Böhmischen Brüder, und es
ist gleichzeitig das Jahr des Westfälischen
Friedens von Münster und Osnabrück.
Doch für Johann Amos Comenius und seine
Glaubensgemeinschaft bringt das Ende
des Krieges keine Rückkehr in die Heimat,
sondern vielmehr die bittere Erkenntnis,
dass ihre Interessen von keiner der
Parteien in den Verhandlungen Berücksichtigung
gefunden haben. Die kleine Gruppe der
Böhmischen Brüder wird zwischen den
Interessen der großen politischen und
kirchlichen Gruppierungen zermahlen.
Zwei Jahre später bricht Johann Amos
Comenius nochmals von Lissa aus, er
wird von den siebenbürgischen Fürsten
nach Ungarn eingeladen, um dort die
Sache der erzieherischen Reform voranzutreiben.
Doch der Widerstand der Lehrer und Schüler
gegen den pädagogischen Erneuerer ist
groß. In seinem autobiographischen Fragment
zitiert er eine Rede, die er vor der
Fürstin gehalten hat: „Meine
ganze Methode dient dazu, daß sich die
Arbeit in der Schule zum Spiel und zur
Freude wandle. Das will hier keiner
verstehen. Man geht mit der Jugend wie
mit Sklaven um ... Die Lehrer gründen
ihre Autorität auf finstere Mienen,
harte Worte, ja auch Schläge und wollen
eher gefürchtet als geliebt werden.“
(1669; S. 272) Doch er erhält durch
die politisch Regierenden volle Rückendeckung,
so dass er sein Programm - „Die
Schule - ein Spiel“ (1965; S. 173)
- durchsetzen kann.
Vier
Jahre bleibt Johann Amos Comenius in
Ungarn, bevor er zum dritten Mal nach
Lissa geht. Dort geraten er, seine Familie
und die Glaubensbrüder alsbald in die
Auseinandersetzungen des schwedisch-polnischen
Krieges, und schließlich überfallen
polnische Truppen die Stadt, in der
sie ein Symbol für protestantische Ketzer
sehen. Kurz vor der polnischen Eroberung
kann Johann Amos Comenius mit seiner
Familie fliehen, und die Legende erzählt,
wie er aus der Entfernung dem Brand
der Stadt, die für ihn bei seinem Umherreisen
zur zweiten Heimat geworden ist, zusehen
muss. Zu dieser familiären Katastrophe
kommt noch etwas weiteres hinzu: auch
die Bibliothek Comenius fällt den Flammen
zum Opfer. Zwar hat er Anweisung gegeben,
seine Manuskripte in einer unter dem
Schlafzimmer ausgehobenen Grube zu verstecken,
doch als er die geretteten Überreste
aus der zerstörten Stadt erhält, muss
er sehen, dass sie die falschen Bücher
eingegraben haben. Verlorengegangen
sind so die Notizen und Vorarbeiten
für das große Hauptwerk, das Johann
Amos Comenius sich als Summe seines
Denkens und Schaffens vorgenommen hat.
·
Lebensabend
Ein
Mann, mit 64 Jahren im beginnenden „Rentneralter“,
heimatlos, letzter Bischof einer Kirche,
die keine Zukunft mehr hat, Familienvater,
der für Frau und Kinder aufzukommen
hat, beraubt der Vorarbeiten des geplanten
abschließenden Werkes, politisch machtlos
- was soll jetzt aus ihm werden? Laurentius
de Geer, ein reicher Holländer, dessen
Vater Comenius damals nach Schweden
vermittelt hatte, lädt ihn nach Amsterdam
ein. Hier stehen ihm jetzt 14 Jahre
seines Lebensabends bevor, eine Zeitspanne,
die bis zu seinem Tod mit einem umfangreichen
Arbeitspensum angefüllt ist. In einer
Biographie über Johann Amos Comenius
lesen wir: „Comenius versandte damals
in jeder Woche durchschnittlich dreißig
Briefe, um nicht die Kontakte zu verlieren,
die er mehr als für sich selbst zu Gunsten
von Mitgliedern der Brüderunität benötigte,
die in den verschiedensten Gegenden
verstreut lebten ... Werden Comenius
Schriften insgesamt, allein die im Druck
erschienenen Schriften, gezählt, an
die einhundertfünfunddreißig, so gab
er fast die Hälfte, zweiundsechzig,
während seines letzten, vierzehn Jahre
währenden Aufenthaltes in Amsterdam
heraus." (256ff) Nochmals nimmt
er das zusammenführende Hauptwerk in
Angriff: „Allgemeine
Beratung über die Verbesserung der menschlichen
Dinge“ (1645 bis 1670), ein siebenteiliges
Werk, von dem wir den pädagogischen
Teil - die Pampaedia - weiter unten betrachten werden.
Und er veröffentlicht kurz vor seinem
Tode ein kleines Büchlein, das als sein
Testament angesehen werden kann: „Das
einzig Notwendige“ (1668).
„Alles
Gute in dir, du Mensch, entspringt
daher, daß du nach Gottes
Ebenbilde geschaffen bist;
und je mehr du dich deinem
Urbilde, Gott, näherst, um
so leichter und müheloser
wird es diesem Quell entspringen.“
(1668; S. 61)
|
Johann
Amos Comenius nimmt nochmals das Bild
des Labyrinths auf: alle Welt sowie
jeder einzelne Mensch irren durch Labyrinthe
und unterliegen der Selbsttäuschung.
Das ruhelose Handeln und der falsch
Genuss treiben den Hunger und Durst
immer mehr an und befriedigen nicht.
So macht der Mensch sich selbst unglücklich,
er findet keine Ruhe. Doch neben der
Labyrinthhaftigkeit kennzeichnet jeden
Menschen auch, dass er ein „Sehnen“ in sich hat, „sich endlich aus des Lebens Labyrinth hinauszufinden“
(1668; S. 25). Das bestimmt die Widersprüchlichkeit
aller Menschen: „Sie
wollen das Gute und wollen es doch nicht.“
(ebenda; S. 29) Die Ursache für das
nicht-glücklich-Sein liegt in der Vermischung
des „Nötigen“
mit dem „Unnötigen“.
Würde der Mensch zwischen beiden richtig
scheiden, so wäre der Weg zum Glück
einfach: „Die Vielgeschäftigkeit, in die das Verlangen
nach Neuem sie treibt und verwickelt,
ist ihr (der Menschen) Verderben. Darum
zurück zur Einfachheit, wenn du gesunden
willst.“ (ebenda; S. 56) Und: „Einfachheit ist ... der Ariadnefaden, der sicher
aus allen Labyrinthen, auch den größten,
herausführt.“ (ebenda; S. 54) Diese
Regel der Einfachheit wird dann beachtet,
wenn der Mensch in seinem Denken, Handeln
und „Genießen“
sich auf sich selbst zurückzieht; er
wird dann glücklich sein, wenn er sich
auf sich selbst bezieht und sein Glück
nicht außer sich sucht. Diese Rückkehr
zur Einfachheit, das Abwerfen des Ballastes
von überflüssigem Streben nach Außenwirkung
- dies gilt für den Bereich der Bildung
und Wissenschaft ebenso wie für die
Politik und die Kirche. Nochmals nimmt
er das Bild des Rades aus der Frühschrift
„Centrum Securitatis“ auf, und der alte
Johann Amos Comenius gibt den Rat: „fliehe
eilends ... von dem Wirbel der Peripherie
zur Ruhe des Zentrums, aus dem Strudel
der Welt nur zu Christus.“ (ebenda;
S. 137) Den Schluss der Schrift bildet
eine persönliche Reflexion des eigenen
Lebens. Auf der einen Seite steht: „Mein Leben war ein Wandern, eine Heimat hatte ich nicht. Es war ein ruheloses,
fortwährendes Umhergeworfenwerden, niemals
und nirgends fand ich einen festen Wohnsitz.“
(ebenda; S. 151) Doch auf der anderen
Seite gilt auch: „Ich danke meinem Gott, daß er mich mein ganzes
Leben hindurch einen Mann der Sehnsucht
hat sein lassen.“ (ebenda; S. 140)
Dies macht die Spannung von Verzweiflung
und Hoffnung, Ruhelosigkeit und Friedenssehnsucht
aus, von der wir zu Beginn gesprochen
haben.
Ein
Programm der Anspruchslosigkeit, das
alles andere als anspruchslos ist. Auch
für den sterbenden Johann Amos Comenius
nicht. Kratochvìl hat in seiner Biographie
eine Szene auf dem Totenbett romanhaft
verarbeitet, in der Johann Amos Comenius
seinen Sohn Daniel beschwört, sein Werk
nicht unvollendet zu lassen: „Bei aller
Liebe, mit der ich dich an mein Herz
schmiegte, denke daran, daß dich aus
dem Jenseits mein Fluch trifft, daß
er auf dich, deine Sippe und alle fällt,
die sich mit dir in der Arbeit verbinden,
wenn ihr das, worin ich schon soweit
fortgeschritten bin, nicht vollendet
und wenn ihr die Worte, die ich nicht
mehr aussagen konnte, nicht aussprecht.
Und ich verfluche dich nicht im Namen
meiner selbst, der sich in dir getäuscht
hat, sondern im Namen der ganzen Menschheit,
die ihr damit verraten würdet!“ (Kratochvìl
1984; S. 301; siehe auch Schaller 1962;
S. 9) Nicht Abgeklärtheit macht den
Menschen aus, sondern sein Streben,
sich von Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten
nicht unterkriegen zu lassen und die
Hoffnung aufrechtzuerhalten. Johann
Amos Comenius, ein „Mann der Sehnsucht“.
b)
Böhmische Didaktik
Johann
Amos Comenius hat sich sein Leben lang
mit pädagogischen Fragen beschäftigt,
und es zeigt sich eine erstaunliche
Kontinuität seines Denkens, die realisiert,
was er von der Lerngeschichte der Kinder
generell fordert: sie sei vergleichbar
einem Baum, der im Keim bereits alles
erhält, beständig aus der Wurzel herauswächst
und sich zunehmend differenziert. Aber
es gibt auch Weiterentwicklungen: indem
er den Gedanken des lebenslangen Lernens
von der Zeugung bis zum Tod hervorhebt
und indem er die Pädagogik zunehmend
in die Zielsetzung einordnet, ihren
grundlegenden Beitrag zu einer der Menschenwürde
entsprechenden Gesellschaft zu leisten.
Wir wollen die Pädagogik Comenius zur
Darstellung bringen, indem wir sein
erstes und sein letztes diesbezügliches
systematisches Werk betrachten: die
„Böhmische Didaktik“ einerseits und die
„Pampaedia“ - als IV. Teil der „Allgemeinen
Beratungen“ - andererseits. Dazwischen
stehen zwei exemplarisch ausgewählte
Beispiele, die das grundlegende Programm
auszufüllen versuchen: seine Anweisungen
zur frühkindlichen Erziehung in der
Familie („Informatorium der Mutterschul“) und das
Kinderbuch „Orbis
sensualium pictus“.
·
Rahmen
Vor
seiner durch die Kriegsereignisse erzwungenen
Flucht hat Johann Amos Comenius sieben
Jahre lang Erfahrungen als Lehrer an
den Lateinschulen in Prerau und Fulnek
gesammelt, jetzt, als 36-jähriger findet
er sich im Exil in Lissa wieder vor
die Aufgabe gestellt, Kinder zu unterrichten.
In seiner Autobiographie schreibt er
rückblickend: „Weil
ich mich mit ihnen (den Arbeiten in
der Schule) nicht nur oberflächlich
befaßte, so begann ich mir besser als
je zuvor der Fehler und Mängel der üblichen
Methode in der Schule bewußt zu werden
und über deren Verbesserung ... nachzudenken,
so daß manche gute Beobachtungen in
einem System der didaktischen Kunst
Gestalt gewann.“ (1669; S. 210)
Noch hoffen die im Exil lebenden Böhmischen
Brüder, dass sie in absehbarer Zeit
wieder in die Heimat zurückkehren können,
und Johann Amos Comenius will seinen
Beitrag dazu leisten, dass der neue
Staat ein „Garten
der Wonne“ (1632; S. 9) wird. Weil
er in der Missachtung der Erziehung
eine der entscheidenden Ursachen für
die politische Katastrophe der Glaubensgemeinschaft
sieht, hofft er, dass durch eine grundlegende
Reform der Pädagogik die Voraussetzung
für eine bessere persönliche, gesellschaftliche
und religiöse Zukunft geschaffen wird.
Gleichzeitig mit der Böhmischen Didaktik
veröffentlicht er einen kurzen „Entwurf“,
in dem es zu Beginn heißt: „Die
ruhmvolle Erneuerung und herrliche Blüte
der Kirche, des tschechischen Staates
und der ganzen Nation ... wird ... auf
der neuen, weisen und rechtschaffenden
Begründung von Schulen beruhen.“
(1632a; S. 368) Die Jahre im Exil dauern
an, und die Hoffnung auf baldige Rückkehr
in die alte Heimat wird schwächer. Gleichzeitig
wird Johann Amos Comenius in Gelehrtenkreisen
in weiten Teilen Europas zu einer bekannten
Person, so dass er sich entschließt,
lateinisch zu schreiben und seinen Namen
Jan Amos Komensky in Johann Amos Comenius
zu lateinisieren. Auch die in tschechischer
Sprache geschriebene „Böhmische Didaktik“
überträgt er in das Lateinische, und
unter dem Namen „Didactica Magna“ wird
sie weltberühmt.
Jedes
pädagogische Reformprogramm, das nicht
nur methodisch-technische Verbesserungen
im Auge hat, sondern grundsätzlich neu
über die Fragen der Erziehung nachdenken
will, besteht aus einem Dreierschritt:
Zunächst wird der bisherige Umgang der
Erwachsenen mit den Kindern drastisch
kritisiert und deren Grausamkeit, aber
auch Ineffektivität angeklagt; in einem
zweiten Schritt werden in deutlichem
Kontrast zu der „alten“ Erziehung die
Vorteile der „neuen“ verheißen, und
es wird
begründet, wie selbstverständlich
und „natürlich“ sie sei; drittens wird
dann der vorgeschlagene Reformplan in
seinen Einzelelementen dargestellt und
häufig seine Richtigkeit durch eigene
Versuche nachgewiesen. Wir werden auf
diese Ablauffolge pädagogischer Reformprogramme
noch des öfteren stoßen. Auch bei Johann
Amos Comenius finden wir eine derartige
Vorgehensweise.
·
Schulkiritik
Starke
Worte findet er für seine Schulkritik:
„Folterkammer“ und „Kopfmarter“ nennt er die bestehende Schule, die in die Kinder ihr
kümmerliches Wissen „mit
Gewalt einbleut“, „einpreßt“,
„einstampft“ (1632; S. 70). Weil Lehrer die Kinder nicht verstehen,
„machen
sie aus Pferden Esel“ (S. 79). Neben
ihrer Grausamkeit gegenüber den Kindern
kennzeichnet die Schule auch ihre Ineffektivität:
viel Zeit wird aufgewendet, aber der
Lernerfolg ist sehr gering. Über Jahrhunderte
hinweg die gleiche Kritik mit den gleichen
Worten - bis hin zum 20. Jahrhundert,
wo beispielsweise Ivan Illich die Schule
mit Gefängnissen und Konzentrationslagern
vergleicht, und auch er wirft ihr vor,
daß bei all der pädagogischen Gewalt
der Lernzuwachs durch die Schulerziehung
gering sei (Illich 197 ). Über diese
Kontinuität der Schul- und Erziehungskritik
ließe sich nachdenken: Wenn trotz aller
Reformbemühungen das Ergebnis sich gleich
bleibt, liegt es dann vielleicht doch
nicht an böswilligen, unwissenden, nicht
richtig ausgebildeten einzelnen Lehrern
und Erziehern, sondern an der grundlegenden
Struktur des pädagogischen Verhältnisses
von mündigen Erwachsenen zu unmündigen
Kindern?
·
Theoretische
Fundierung
Der
aus unserer heutigen Sicht wichtigste
Teil der Böhmischen Didaktik bildet
die grundlegende anthropologische und
gesellschaftliche Fundierung, aus der
sich der Erziehungsbegriff und die pädagogische
Kernforderung ergibt: Allen Menschen
alles auf leichte und doch gründliche
Weise zu lehren. Einen „Klumpen
Lehm“, in dem „eine
vernünftige, unsterbliche und ewige
Seele wohnt“, und bei der „aus
beidem nur eine einzige Person wird“
(1632; S. 24) - das ist für Johann Amos
Comenius der Mensch, und dadurch wird
gleichzeitig die Ambivalenz des Menschen
gekennzeichnet. Der Schlüssel zum Verständnis
seiner Pädagogik ist die dreifachen
Stellung, die der Mensch zu Gott, zu
sich selbst und den Mitmenschen sowie
zu der nichtmenschlichen Umwelt einnimmt.
Beginnen wir mit dem letzten Aspekt.
Da der Mensch als einziges Lebewesen
auf der Erde Vernunft besitzt, ist er
über die sonstige Natur gestellt: er
soll „Herr über die Geschöpfe“ (S. 32) sein. Dies meint nicht, dass der
Mensch willkürlich mit der Natur umgehen
dürfe, sie zum eigenen Belieben benutzen
könne, sondern er soll sich „wie
ein Herr“ verhalten: „ehrenhaft
und sittsam, indem er alle Geschöpfe
ihrem Nutzen und Frommen gemäß verwendet“
(S. 33). Gerade weil der Mensch Vernunft
besitzt, wird er die Natur nicht ausbeuten,
sondern sich als Mitschöpfer an der
Welt Gottes verstehen. Zu interpretieren
ist dies im Sinne des Schöpfungsauftrages
im 1. Buch Mose: „Und Gott der HERR
nahm den Menschen und setzte ihn in
den Garten Eden, dass er ihn bebaute
und bewahrte.“ Herrscht so ein (gebundenes)
Überlegenheitsverhältnis der Menschen
gegenüber der sonstigen Natur, so gilt
für die Beziehung des Menschen zu seinen
Mitmenschen Gleichheit. Der Mensch hat
hier die Aufgabe, „deutlich über sich selbst und über alle anderen
Bescheid“ (S. 33) zu wissen. Der
dritte Aspekt der Stellung des Menschen
macht seine Unterordnung unter Gott
aus. Es ist sein Ziel, und die Erziehung
der Kinder soll ihren Beitrag dazu leisten,
dass der Mensch „Gottes Ebenbild“ (S. 32) wird. Aber der
Mensch ist nicht Gott; der „Klumpen
Lehm“ bindet ihn an die Welt und
an die körperlichen Triebe. Erst nach
seinem Tod wird der Mensch in seine
dritte „Wohnstätte“
(nach Mutterleib und Erde) eintreten.
Die Unterordnung des Menschen unter
Gott zeigt sich in seiner „Frömmigkeit“,
die „eine
gefällige, freundliche und beständige
Hinwendung unseres Herzens auf Gott“
(S. 172) meint. Dabei kann der Mensch
Gott auf dreifache Art und Weise erfahren
- und hier schließt sich der Kreislauf,
weil diese drei Wege sich mit der grundlegenden
Stellung und Aufgabe des Menschen decken:
er kann Gott in der Natur erleben und
durch die Erforschung der Natur verstehen;
er kann durch die Kenntnis des Menschen,
insbesondere durch seine eigene Innenschau
(Gewissen) Gott erfahren; und schließlich
liegt in der Bibel Gottes unmittelbare,
wörtliche Offenbarung vor ihm. Wir fügen
hier noch einen Hinweis ein, der vielleicht
etwas gewagt ist, der aber den Grundgedanken
Comenius in unsere Zeit übersetzen kann:
Gerne wird heutzutage davon gesprochen,
dass die Ziele der Erziehung auf drei
Ebenen zu betrachten seien, kurz gesagt
im Denken, Fühlen und Handeln. Denken
meint in der Sprache Comenius der Mensch
als „vernünftiges
Geschöpf“, Fühlen seine Ebenbildlichkeit
Gottes und Handeln das „Herr über die Geschöpfe“ Sein.
·
Erziehungsbegriff
Jede
pädagogische Konzeption, die einen eigenständigen
Erziehungsbegriff entfalten will, muß
zuvor die Erziehungsbedürftigkeit und
Erziehungsmöglichkeit des Menschen erklären.
Johann Amos Comenius steht dazu noch
nicht der Begriffsapparat und die Fülle
empirischer Untersuchungen zur Verfügung,
auf die wir zurückgreifen können, seine
diesbezüglichen Gedanken vermitteln
aber auch heute noch eine grundsätzliche
Durchdringung des Themas. Jeder Mensch
bedarf der Erziehung, weil er ohne sie
seine eben geschilderte dreifache Stellung
zu sich selbst, zur Natur und zu Gott
nicht ausfüllen kann. Erst durch die
Erziehung wird der Mensch zum Menschen.
Dabei muss diese Erziehung in der Kindheit
und Jugendzeit erfolgen, (1) weil der
Mensch nicht weiß, wie lange er lebt,
(2) weil es ein differenziertes und
umfängliches Programm ist, auf das der
Mensch vorbereitet werden muss, (3)
weil die ersten Prägungen, die ein Mensch
erhält, besonders wirksam sind, während
grundlegende Veränderungen im Erwachsenenalter
nur schwer zu erreichen sind. Der Mensch
ist aber nicht nur erziehungsbedürftig,
sondern auch erziehungsfähig: „In die Natur einer jeden Sache hat Gott die
Wirkfähigkeit hineingelegt, das wirklich
zu sein, was sie ist und wozu er sie
erschaffen hat. ... Und so trägt auch
der Mensch die Wurzeln der Erleuchtung,
der Tugend und der Frömmigkeit ...
in sich ... Deshalb ist es nicht
notwendig, in den Menschen etwas von
diesen Merkmalen der Menschlichkeit
hineinzutragen: Sie sind schon von Natur
aus in ihm selbst vorhanden“ (S.
35).
Das
letzte Zitat leitet über zu dem Erziehungsbegriff
Johann Amos Comenius. In der Überschrift
zu diesem Kapitel ist es so ausgedrückt:
„Man kann ja auch gar nichts anderes tun, als
der Natur beim Gebären zu helfen“.
(1965; S. 197/199) Gegen zwei Seiten
muss er sich gleichzeitig absetzen:
Auf der einen führen alle Konzepte,
die nicht davon ausgehen, dass die Selbstwerdung
des Kindes in ihm angelegt ist, sondern
dass der Neugeborene ein Nichts und
Niemand sei - oder noch mehr: ein unziviliertes,
dummes Bündel von triebhaftem Egoismus,
- zu einer manipulierenden Gewalt über
das Kind. Der Erwachsene wähnt sich
als Schöpfer des Menschen, als könne
er dem „Klumpen Lehm“ Seele und Geist
von Außen einhauchen. Doch jeder Mensch
ist Ebenbild Gottes, und dieses gilt
es herauszuheben, damit ein Kind zu
sich, zu seiner Menschlichkeit gelangen
kann. Auf der anderen Seite muss Johann
Amos Comenius sich gegen Konzepte wenden,
die heutzutage in antipädagogischen
Vorstellungen ihren Ausdruck finden:
Wenn alles in der Natur des Kindes vorhanden
ist, warum dann erziehen? Comenius schreibt,
„daß die Jugend, die Bäumchen des göttlichen
Paradieses, nicht von selbst wie das
wilde Gehölz im Wald heranwachsen kann,
sondern daß sie wie die Obstbäume gepflanzt,
veredelt und in ihrem Wachstum vorsichtig
gefördert werden muß." (1632;
S. 54) Weil den Menschen die Vernunft,
sein verantwortungsvolles Handeln und
sein Hinstreben zu Gott auszeichnen,
entfaltet sich seine Menschlichkeit
nicht von allein, naturwüchsig, sondern
nur mit Hilfe der „Erziehungskunst“
(wie man dies später nennen wird). Erziehung
hat die Aufgabe: die jungen „Menschen
vor Ansteckung und Fäulnis in der Welt
zu beschirmen; sie in dem Guten zu erhalten,
dessen Samen in ihr Herz gelegt ist,
und sie zu glücklichem Wachstum anzuregen.“
(S. 12). Nochmals: Erziehung bewegt
sich zwischen den beiden Polen der Allmächtigkeit
und der Ohnmächtigkeit. Wird ausschließlich
die aktive Tätigkeit der Erwachsenen
gesehen, wird Erziehung zur Manipulation
und gewalttätigen Unterdrückung der
Kinder (wie kinderfreundlich auch immer
die Methoden sein mögen); wird andererseits
Erziehung überhaupt abgelehnt, gerät
das Kind in die Gefahr der Vernachlässigung,
so dass es seine spezifische Menschlichkeit
nicht ausprägen kann. Vernunft, verantwortliches
Handeln und Glaube sind zwar in dem
Kind angelegt, aber zu ihrer Realisierung
müssen sie durch Erziehung erst noch
entfaltet werden.
Allen
alles auf leichte und gründliche Art
zu lehren - dies ist der Kern des Erziehungsprogramms
Johann Amos Comenius. „Alles“ zu lehren
meint nicht ein umfassendes, aber oberflächliches
Wissen aller möglichen Gegenstände.
Dies wäre weder möglich noch sinnvoll.
Sondern die Erziehung soll zu einem
Denken, Fühlen und Handeln befähigen,
das sich an den drei oben beschriebenen
Aufgaben des Menschen orientiert. „Alles“
bedeutet, einen Überblick über das mögliche
Wissen, eine Systematik zu gewinnen,
in den wesentlichen Kern einer Sache
einzudringen und die Kenntnisse an den
wichtigen Handlungszielen des Menschen
auszurichten. Radikal ist Johann Amos
Comenius in seiner Forderung, bei der
Erziehung weder soziale noch geschlechtsspezifische
Unterschiede zu machen: Allen Kindern
ist alles zu lehren, denn alle sind
Menschen und „bei Gott gibt es kein Ansehen der Person“
(S. 59). Ausdrücklich bezieht er die
Mädchen in seine Forderung nach allgemeiner
Schulbildung ein: „Warum
will man sie ... allein mit dem ABC
abspeisen, und warum sollen sie weiterhin
von den Büchern vertrieben werden? Fürchten
wir uns vor ihrer Neugier?“ (S.
60). Radikal ist er auch in seiner Forderung
nach einer gemeinsamen Erziehung aller
Kinder. Weil die Forderung nach Integration
behinderter und nichtbehinderter Kinder
gegenwärtig eine Rolle spielt (was gleichzeitig
anzeigt, wie wenig selbstverständlich
sie ist) fügen wir die diesbezügliche
dreifache Begründung des Johann Amos
Comenius hier abschließend an: „1. Alle Menschen, welches Gehabe sie auch an
sich tragen, sind doch von menschlicher
Beschaffenheit und derart ausgestattet,
daß sie Menschen sind ... 2. Alle sollen
einem Ziel, nämlich der Heiligkeit,
der Tugend und der Weisheit zugeleitet
werden. 3. In sich und außer sich sollen
sie zu einem Gleichgewicht gebracht
werden." (S. 80)
·
Erziehungsmethode
Einen
breiten Raum nehmen in der Böhmischen
Didaktik die methodischen Hinweise ein,
die anzugeben versuchen, wie das Lernen
zu gestalten sei, damit es für das Kind
leicht und trotzdem gründlich erfolgen
kann. Dabei begründet Johann Amos Comenius
seine Grundsätze mit Analogien aus dem
nicht-pädagogischen Bereich: der Natur
der Vögel, dem Hausbau, der Veredelung
von Obstbäumen. Einiges Zeitbedingte
findet sich unter den Vorschlägen zur
didaktisch-methodischen Reform der Erziehung.
Dies wollen wir nicht weiter beachten.
Andere Gedanken jedoch sind zu grundlegenden
Bestandteilen der Erziehung und Bildung
geworden, die sich in der Geschichte
der Pädagogik bis heute immer wieder
auffinden lassen. Da dies nicht bedeutet,
dass diese Prinzipien in der Praxis
durchgängig realisiert werden, bieten
sie auch heute noch Gelegenheit, die
Erziehungswirklichkeit selbstkritisch
zu reflektieren. Einige der methodischen
Hinweise des Comenius an dieser Stelle
beispielhaft zu erwähnen, mag deshalb
von Nutzen sein:
·
Erziehung muss sich an dem
„Fassungsvermögen
des jeweiligen Alters“ (101) orientieren,
d.h. der Erzieher darf nicht zu viel
auf einmal vermitteln wollen (vier Stunden
Unterricht am Tag - durchgängig für
alle Schularten - hält Comenius für
hinreichend);
·
erst „die
Dinge und hernach die Sprachen“
(S. 103) lehren, eine Forderung, die
angesichts des unendlichen Wortschwalls
dem Kinder heute schon im Kindergarten
ausgesetzt sind, von Interesse ist (wir
werden bei Johann Heinrich Pestalozzi
darauf zurückkommen);
·
das Ganze vor den Teilen
vermitteln, d.h. nicht mit irgendwelchen
Kinkerlitzchen beginnen, in der Hoffnung
irgendwann würden die Kinder sie als
Erwachsene zusammenfügen können, sondern
ein „organisches“ Lernen, das von dem
zusammenhängenden Ganzen ausgeht, bevor
es dieses differenziert;
·
„vom Leichten zum Schweren“,
vielleicht wirklich eine Selbstverständlichkeit,
weshalb wir die Konkretisierung hinzugeben,
die Johann Amos Comenius an dieser Stelle
gibt: „Künftig sollen Lehrer und Schüler
eine Sprache sprechen, damit sie einander
verstehen“ (S. 118); und schließlich
Es
gilt die übliche "Meinung,
nach der die Lehrer nichts
anders vorzutragen wissen
als in Form von Gefasel und
nicht anders zu locken verstehen
als durch Stöße, Faustschläge
und mit der Rute. Wem sollte
das nicht bitter ankommen?
Aber mit Gottes Hilfe lassen
sich Wege finden, daß der
Jugend das Lernen nicht bitterer
erscheint als Lebkuchen und
Zuckerlecke, als Nüsseknacken
und Erdbeerpflücken, nicht
bitterer, als wenn sie in
ihrer Lebhaftigkeit Pferdchen
spielen und allerlei Märchen
aufführen, auf dem Jahrmarkt
umherschauen, Maulaffen feilhalten
oder hübsche Geschichten anhören.
Dies ist möglich, weil die
verschiedenen Wissenschaften
ja gar nichts anderes sind
als Lockmittel für den menschlichen
Scharfsinn, Leckerbissen und
höchst angenehme Vergnügungen."
(1632; S. 114)
|
·
Lernen in Bedeutungszusammenhängen
„wozu es nutze ist“ (S. 123).
Die
Fülle der Einzelhinweise des didaktisch-methodischen
Reformprogramms Johann Amos Comenius
mögen manchmal banal und zufällig erscheinen,
und sie können leicht von dem ablenken,
was den grundsätzlichen Kern seines
Erziehungsbegriffs ausmacht. Deshalb
lenken wir nochmals darauf zurück. An
einer Stelle schreibt er: „Weshalb
soll ich mich mit fremden Federn schmücken,
wenn ich eigene habe? Weshalb soll
ich mit fremden Augen sehen, wenn ich
selbst Augen besitze? Weshalb soll ich
mit einem fremden Verstande verstehen;
ich habe doch meinen eigenen? So wurde
es allerdings bisher gemacht: Mit fremden
Füßen liefen sie, mit fremden Augen
sahen sie, mit fremdem Verstande verstanden
sie, aus fremden Quellen tranken sie."
(S. 128) Darum geht es in der Erziehung:
die Selbstwerdung der Kinder zu unterstützen.
Alles was wir als Erwachsene einem Kind
anbieten, ist nicht mehr als Nahrung
(wenngleich existentiell notwendige
Nahrung), die das Kind selbst essen,
verdauen und zu seiner Stärkung nutzen
muss. Sie dient nicht primär dazu, damit
ein Kind den vorgesetzten Inhalt reproduzieren
kann, sie dient nicht dazu, damit das
Kind in die Gesellschaft sozialisiert
wird, sondern sie dient zum Aufbau der
individuellen Persönlichkeit dieses
Kindes, eine Arbeit, die nur es selbst
leisten kann. Wenn wir in diesem Buch
Inhalte aus der Geschichte des pädagogischen
Denkens Erzieherinnen, Sozial- und Heilpädagogen,
Lehrern anbieten, dann ist das im Sinne
dieser Nahrungsvorstellung zu verstehen:
Material zur Auseinandersetzung, um
die eigene Erziehungsvorstellung entfalten
zu können. Der Autor eines Buches hat
es nicht in der Hand, was seine Leser
daraus machen (und er sollte dies auch
nicht wollen), und ein Erwachsener hat
es nicht in der Hand, was ein Kind aus
seinen Erziehungsbemühungen macht, wie
es sie annimmt, unberücksichtigt lässt
oder ins Gegenteil verkehrt (und er
sollte es auch nicht wollen).
c)
Didaktische Konkretisierungen
·
Informatorium
der Mutterschul
Gleichzeitig
mit den Arbeiten an den ersten Schulbüchern
und dem zusammenführenden System der
Böhmischen Didaktik beschäftigt sich
Johann Amos Comenius in einer kleinen
Schrift mit der Erziehung und Bildung
der Kinder von der Geburt bis zu ihrem
sechsten Lebensjahr. Er hat zum zweiten
Mal geheiratet, und die ersten beiden
Mädchen dieser Ehe sind geboren. Sie
im Exil aufwachsen zu sehen, stellt
den persönliche Erfahrungshintergrund
für das Büchlein dar. Hinzu kommt die
bildungspolitische Motivation: Durch
eine veränderte Erziehung soll die Grundlage
für eine bessere Gesellschaft geschaffen
werden, die man nach dem Krieg in der
alten Heimat aufzubauen hofft; und Comenius
weiß, dass eine grundlegend reformierte
Schulbildung auf einem Fundament frühkindlicher
Erziehung ruhen muss. Ihr wendet er
sich in dem „Informatorium der Mutterschul“ (1633a)
zu. Das Wort „Schule“ in dem Titel mag
für unser Verständnis missverständlich
sein: Es geht nicht um eine institutionelle
Bildung kleiner Kinder, sondern um deren
Erziehung in der Familie. Den Eltern
soll eine Anleitung dazu gegeben werden,
ihre wichtige Aufgabe sinnvoll wahrnehmen
zu können. Wenn Johann Amos Comenius
dabei alle möglichen Wissensbereiche
bis ins einzelne auf die verschiedenen
Lebensjahre verteilt und auflistet,
so erscheint dies zeitbedingt und für
den Leser heute nur noch als Kuriosität
interessant. Doch die Schrift enthält
auch einige grundlegende Aussagen, die
unverändert zur Auseinandersetzung einladen.
Auf diese wollen wir uns im folgenden
beziehen.
Auf
den ersten Blick mag die frühkindliche
Erziehung unbedeutend erscheinen: Latein
kann man ihnen noch nicht beibringen,
wissenschaftlicher Unterricht ist nicht
möglich, über Gott, die Welt, den Menschen
und die Zukunft lässt sich mit ihnen,
die in ihrer kleinkindhaften Welt egozentrisch
eingeschlossen sind, nicht reden. Also
ist sie kein Gebiet für gelehrte Männer;
unausgebildete Ammen mögen sie beaufsichtigen,
damit sie das reale Leben nicht stören.
Doch diesem langläufigen Vorurteil steht
die entwicklungspsychologische Erkenntnis
der Bedeutung frühkindlichen Lernens
gegenüber: „The first cut is the deepest“,
heißt es in einem Schlagertext. In der
Sprache Johann Amos Comenius: „einen
krumm gewachsenen Baum gerade zu machen
und aus einem verwachsenen Walde einen
Baumgarten zu machen, ist fast unmögliche
Arbeit“ (ebenda; S. 26).
Die
grundlegende Bestimmung des Verhältnisses
von Erwachsenen und Kindern, die Johann
Amos Comenius in dieser Schrift aufzeichnet,
weist noch tiefer in die Begründung
der Bedeutung frühkindlichen Lernens
hinein. Kinder sind eine Kostbarkeit,
„ein teures Kleinod“ (S. 18), das Gott den Eltern zur Erziehung gegeben
hat, damit sie auf diese Weise an seiner
Schöpfung mitarbeiten können. Kinder
sind deshalb nicht das Eigentum der
Eltern, über das sie gemäß ihrer Interessen
verfügen können (als Spielzeug, Projektionswand
für eigene unerreichte Wünsche, lästige
Störenfriede), sondern sie stehen in
ihrer unmittelbaren Beziehung zu Gott
mit den Eltern auf der gleichen Stufe.
Der Erwachsene hat eine dienende Funktion
in der Erziehung seiner Kinder, die
auf deren Entwicklungsinteressen bezogen
ist und sich nicht von einem Erwachsenenzentrismus
aus bestimmt. Dabei können die Eltern
von der Beziehungsgestaltung zu ihren
Kindern selbst profitieren, werden ihnen
hierdurch doch positive Eigenschaften
abverlangt, die in dem üblichen gesellschaftlichen
Verkehr zu kurz kommen: die Kinder sind
„Spiegel
der Demut, Sanftmut, Gütigkeit und Versöhnlichkeit“
(S. 21).
Um
die Aufgaben der frühkindlichen Erziehung
in richtiger Weise auszuloten, müssen
die Eltern zwei zeitliche Dimensionen
gleichermaßen in den Blick nehmen: ihre
Gegenwart und ihre Zukunft: Die Kinder
sind zu sehen als das, „was
sie schon itzo sind“, und als das,
„was
sie dermaleinst werden sollen“ (S.
18). Kinder sind Kinder, sie leben in
der Gegenwart, freuen sich oder sind
traurig. Dieses Hier und Jetzt ist keine
Nichtigkeit, kein Zustand, den es schnell
zu überwinden gilt, sondern in ihrer
unbekümmert fröhlichen Lebensweise liegt
viel Menschlichkeit, die es zu bewahren
gilt. Comenius spricht deshalb von dem
Kind als „teurem Kleinod“, das sie sowohl
den Eltern als auch Gott selbst sind.
Doch der Bezug auf die Gegenwart ist
nur die eine Seite des pädagogischen
Blicks. Die andere - und Johann Amos
Comenius diskutiert noch nicht das Spannungsverhältnis
zwischen beiden - liegt in der Bedeutung
der Erziehung für die Zukunft des Kindes.
Den Menschen kennzeichnet seine von
Gott kommende und zu Gott wieder zurückkehrende
„Seele“. In ihr liegt seine Gottebenbildlichkeit,
und die Erziehung muss das Kind hinaufführen
„zu höheren Dingen“ (S. 21). Glaube, Sittlichkeit,
Erkenntnis - wir stießen bei der Böhmischen
Didaktik schon auf diese Dreiteilung
- sind die Aspekte, die das Wesentliche
des Menschen ausmachen. Sie sind in
jedem Menschen von Natur aus angelegt,
doch ihre Entfaltung ergibt sich nicht
von selbst, sondern muss durch Erziehung
herausgehoben werden: „Es
soll aber niemand denken, daß die Kinder
von sich selbst zur Frömmigkeit, Ehrbarkeit
und Kunst gelangen mögen ohne fleißige
und unnachlässige Mühe und Arbeit, so
an sie muß gewendet werden.“ (S.
23)
Nachdem
Johann Amos Comenius die Bedeutung der
frühkindlichen Erziehung grundlegend
bestimmt hat, differenziert er deren
Aufgaben in sechs Bereiche aus: Gesundheits-,
Verstandes-, Tätigkeits-, Sprach-, sittliche
und religiöse Erziehung. Wir wollen
dies hier nicht nachzeichnen, sondern
die Aufmerksamkeit nur noch auf drei
Aspekte lenken: Erstens: Erziehung beginnt
für Johann Amos Comenius nicht erst
mit der Geburt, sondern er bezieht die
vorgeburtliche Phase ausdrücklich mit
ein: „Wenn eine christliche Matron merket, daß Gott der Schöpfer aller Dinge
in ihrem Leibe anfängt zu formieren“
(S. 30), beginnt die Sorge der Mutter,
aber auch des Vaters für das Kind. Durch
ihre innere Einstellung (Gebet), sollen
sie sich auf das Kind vorbereiten, die
Mutter soll Vorsichtsmaßregeln beachten,
damit sie das werdende Kind nicht schädigt,
und in der Äußerung ihrer Emotionen
soll sie sich bewusst sein, dass diese
unmittelbar auf den Embryo wirken. Denn
für all ihr Tun gilt die Begründung:
„wie
sie in solcher Zeit selbst ist, also
wird hernach das Kind auch werden“
(S. 32).
Zweitens:
Deutlich erkennt Comenius, dass Bewegung
und Spiel charakteristische Äußerungsformen
in der frühen Kindheit sind. Diese müssen
nicht nur als notwendiges Übel toleriert
werden, sondern durch die Bereitstellung
von geeigneten Materialien, die die
Gegenstände des Erwachsenenlebens nachbilden,
durch eine tolerante Haltung der Erwachsenen,
die den Aktivitätsdrang der Kinder unterstützt,
und durch das gemeinsame Spiel der Eltern
mit den Kindern sollen sie gefördert
werden: „Womit nur die Kinder spielen wollen und ohne ihren Schaden können, das
soll man ihnen lieber helfen, denn wehren,
weil Müßiggehen dem Leben und auch dem
Gemüte schädlich ist.“ (S. 44)
Drittens:
Begründet Comenius bis hier her ein
Programm frühkindlicher Erziehung zu
Beginn der Neuzeit, das eine Orientierung
auf kindliche Bedürfnisbefriedigung
und die Selbstentwicklung des einzelnen
Kindes erkennen lässt, so darf auch
die andere Seite nicht verschwiegen
werden. Deutlich wendet er sich gegen
„etlicher
Eltern Affen- und Eselsliebe“ (S.
55), die den Kindern in allem nachgeben
und sie deshalb nicht erziehen. Denn
Erziehung hat es für ihn immer auch
mit „Zucht“ zu tun, die „unterweilen auch zu Hülf genommen werden“ muss. Kinder die „etwas Ungebührliches oder Boßhaftiges“
tun, muß man „anschreien“
und - wenn auch dies nichts hilft -
„mit
der Ruten zuschmeißen oder mit der Hand
klopfen“ (S. 54f).
·
Orbis sensualim
pictus
„Man hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken
für Kinder veranstaltet. ... Außer dem
Orbis pictus des Amos Comenius kam uns
kein Buch dieser Art in die Hände“ (Goethe,
Bd. 30; S. 49), so schreibt Johann Wolfgang
von Goethe in seinem Lebensrückblick
„Dichtung und Wahrheit“. In seiner Kindheit
ist der „Orbis
sensualium pictus“ (1658) bereits
über 100 Jahre alt, und bis in unsere
Zeit hinein hat er unzählige Neuauflagen
und Bearbeitungen erfahren. In der didaktischen
Ausgestaltung erscheint er noch heute,
nach fast 350 Jahren, modern. Der Hauptteil
des Buches besteht aus 150 Doppelseiten,
die unter einer thematischen Überschrift
jeweils eine Abbildung enthält. Alle
Bereiche des menschlichen Wissens werden
so dargestellt. Es beginnt mit Gott,
Welt und Himmel sowie den vier Grundelementen,
geht über die Metalle, Pflanzen und
Tiere hin zu den Menschen, den materiellen
und sozialen Bestandteilen ihres Lebens
und endet kreisförmig in der Darstellung
des Jüngsten Gerichts. An den passenden
Stellen jedes Bildes sind kleine Ziffern
angebracht, die auf Beschreibungen in
dem nebenstehenden Textes verweisen.
Hier sind die erklärenden Wörter aufgelistet,
häufig verbunden mit der kurzen Erwähnung
der Bedeutung, Ursache oder Folge der
jeweils dargestellten Sache. Der Text
ist in zwei Spalten geteilt, so dass
den deutschen Ausdrücken die lateinische
Übersetzung gegenübergestellt werden
kann. Diesem Hauptteil der 150 Abbildungen
und Beschreibungen ist ein Alphabet
vorangestellt, das neben den einzelnen
Buchstaben das Bild eines Tieres zeigt,
dessen Geräusch diesen Buchstaben charakterisiert.
Eingerahmt ist der gesamte Text durch
die wiederholende Darstellung des hier
wiedergegebenen Bildes. Es zeigt einen
Lehrer im Dialog mit seinem Schüler
(charakteristischer Weise in der freien
Natur und nicht in miefiger Schulstube).
In dem Text zu dem einleitenden Bild
verspricht der Lehrer dem Kind: „Ich
will dich führen durch alle Dinge, ich
will dir zeigen alles, ich will dir
benennen alles“ (ebenda; S. 3),
und auf dem letzten Bild verabschiedet
er sich mit Ermahnungen für das weitere
Leben und der Grußformel: „Lebe
wohl!“ (S. 309). Diesem Buch für
die Kinder ist ein Vorwort für den erwachsenen
Leser vorangestellt, in dem Comenius
seine didaktischen Absichten und die
Einsatzmöglichkeiten des Orbis sensualium
pictus in der Praxis präzisiert. Auf
dem Titelblatt des Buches befindet sich
der Spruch, mit dem Comenius die Herausgabe
seiner didaktischen Arbeiten versieht:
„Omnia sponte fluant, absit violentia rebus“
- Alles fließe von selbst, Gewalt sei
fern den Dingen.
Der
Orbis sensualium pictus ist so aufgebaut,
dass er das Kind dessen gesamte Kindheit
hindurch begleiten kann: Das kleine
Kind kann ihn als Bilderbuch benutzen,
und die differenzierte, feingliedrige
Darstellung bietet viele Gelegenheiten,
immer wieder etwas Neues zu entdecken.
Wenn das Kind in die Schule kommt, kann
es auf Grund des beigefügten Alphabets
und der drucktechnisch herausgehobenen
Bildüberschriften und Hauptwörter lesen
lernen, und später wird es die vielschichtigen
und umfangreichen Beschreibungen als
Grundlage dafür nutzen können, was es
im Sachkundeunterricht lernen soll.
Das ältere Kind schließlich wird sich
das Buch ein weiteres Mal vornehmen,
und auf Grund der gegenüberstehenden
Übersetzungen sich die lateinische Sprache
aneignen. Ein solch schön gestaltetes
Buch durchzublättern, in ihm zu lesen,
die Bilder mit dem zu vergleichen, was
man kennt, aber auch hinter die Kulissen
blicken zu können (z.B. durch die Haut
auf das menschliche Skelett), macht
Spaß, und Johann Amos Comenius nennt
in seinem Vorwort als den ersten Zweck
des Buches: „die
Gemüter herbey zu locken, daß sie ihnen
in der Schul keine Marter, sondern eitel
Wollust, einbilden“. (ebenda)
350
Jahre nach der ersten Veröffentlichung
des Orbis sensualium pictus sind unsere
technischen Möglichkeiten der Buchproduktion
enorm vervielfacht, neue Medien - von
der Tonkassette über das Fernsehen hin
zum Computer - sind hinzugekommen. Es
ist nicht mehr nur das eine Kinderbuch,
das den Kindern zur Verfügung steht.
Die neuen Techniken können eine Chance
darstellen, Kindern die Welt so zu zeigen,
dass sie deren wahrnehmungsmäßige und
kognitive Strukturen ebenso wie ihre
emotionalen Bedürfnisse und intellektuelle
Neugierde treffen. Doch ein Vergleich
zwischen unserem Medienangebot für Kinder
und dem alten Buch des Comenius zeigt,
dass wir noch immer etwas von ihm lernen
können, vor allem von seiner didaktisch-methodischen
Durchdringung. Da ist zunächst die Sorgfältigkeit,
mit der das Buch gearbeitet ist: nicht
billiger Kinderkitsch, auf Effekthascherei
ausgerichtet, sondern ein bis in die
Feinheiten der Drucktechnik hinein wohl
durchkomponiertes Buch.
Aufgebaut
ist es nicht wie ein Kinderlexikon nach
der Willkürlichkeit des Alphabets, sondern
durch ein organisches Ordnungsprinzip,
bei der zunächst das Ganze dargestellt
wird, das sich danach differenziert:
Gott, der die Welt, die Pflanzen, die
Tiere und schließlich den Menschen erschaffen
hat, der zu Gott zurückkehren wird;
der Mensch in seinen sich entwickelnden
körperlichen und psychischen Teilen
muss sich ernähren, arbeiten und zu
seinen Mitmenschen vielfältige (private
bis politische) Beziehungen aufbauen.
Ein kleines Kind kann diese Ordnung
nicht verstehen, ebenso wenig wie es
die Vielfältigkeit der Welt begreift;
doch es kann unbewusst die Ordnung aufnehmen
und so die Gewissheit gewinnen, dass
sich das Alles, was von ihm jetzt noch
unverstanden ist,
in den Griff bekommen lässt und
dass dies gar nicht so schwierig ist.
Das Kind kann so Vertrauen haben, dass
sein Nichtwissen sich in Wissen wandeln
wird. Die undurchschaubare Welt kann
ihren Schrecken verlieren, denn sie
ist ja in dem Buch des Kindes gebannt.
Ein
weiterer wichtiger Punkt, der die Didaktik
Comenius und die Konkretisierung im
Orbis sensualium pictus kennzeichnet,
ist die zentrale Bedeutung der Anschauung.
Kleine Kinder lernen wesentlich dadurch,
dass sie über die Sinne die große Welt
in ihren Kopf hineinholen. Abbildungen
sind dafür nur ein Ersatz, und Johann
Amos Comenius betont deswegen, dass
- wo immer möglich - reale Gegenstände
den Kindern gezeigt werden sollen. Doch
die Bilder bieten die Chance, auch Gegenstände,
die in der anschauenden Wirklichkeit
nicht vorgeführt werden können, zu versinnlichen
- das menschliche Nervensystem, das
Skelett, die inneren Organe beispielsweise.
Darüber hinaus können sie abstrakte
Begriffe versinnbildlichen - menschliche
Eigenschaften, sittliche Fragestellungen
und selbst Gott. Erst wenn das Kind
einen wahrnehmungsmäßigen Eindruck gewonnen
hat, ist es sinnvoll - dann aber auch
notwendig - ihm das dazugehörige Wort
zu vermitteln. Ansonsten bleiben die
Wörter für das Kind leerer Schall. Mit
einem Satz Johann Amos Comenius ausgedrückt:
„Wir
sollen die Kinder unter der Führung
der Dinge die Worte lehren“ (1965;
S. 259). Als letzten Punkt, in dem der
Orbis sensualium pictus uns heute Anregungen
zur Medienproduktion für Kinder vermitteln
kann, möchten wir sein Bemühen um Heraushebung
des Wesentlichen erwähnen: nicht Dinosaurier,
Hexen und Zwerge, nicht Nebensächlichkeiten
der Dinge, die ein unverhältnismäßig
hohes Gewicht bekommen, sondern die
wirkliche Welt wird in den Proportionen
dargestellt, die sie der menschlichen
Realität und seiner Glückseligkeit nach
haben. Dazu gehört auch, auf die Ursache
und den Zielpunkt der Welt und des Menschen
hinzuweisen.
d)
Pampaedia
Amsterdam
ist eine Stadt der Toleranz, die viele
Emigranten aufzunehmen bereit ist. 13
Jahre nach dem Tode Comenius wird es
John Locke sein, den wir weiter unten
beschreiben, jetzt ist es der heimatlose,
64-jährige Johann Amos Comenius. Hier
genießt er hohes Ansehen der Universität
und des Rates der Stadt; er und seine
Familie sind finanziell abgesichert,
und sogar Gehilfen kann er für die Mitarbeit
an seinen letzten Schriften beschäftigen.
Vor allem geht es um die Herausgabe
des großen zusammenfassenden Werkes:
„Allgemeine Beratung über die Verbesserung der
menschlichen Dinge“. Die Welt bedarf
einer grundlegenden Reform, um einen
Weg aus der Sackgasse des Krieges, der
Ausbeutung und Verzweiflung herauszufinden.
Die Pädagogik ist in dieses große Unternehmen
eingeordnet - unter der Überschrift
„Pampaedia“
als viertes der insgesamt sieben Bücher.
Klaus Schaller, der wichtigste deutschsprachige
Comeniusforscher in unserer Zeit, bezeichnet
den Weg von der Böhmischen Didaktik
hin zur Pampaedia als „Weg von der Didaktik
zur Pädagogik“ (Schaller 1963; S. 4),
weil Comenius hier über „das Technisch-Handwerkliche
des Unterrichts“ (ebenda; S. 7) hinausgehe
und auf das Ganze - Gottes, der Welt
und des Menschen - gehe. Die Sprache
des Johann Amos Comenius gewinnt in
der Pampaedia und in der Allgemeinen
Betratung insgesamt oftmals prophetische
Züge: der alte Mann, gezeichnet von
vielen Enttäuschungen, Erfahrungen des
Krieges und Leides, lässt die Fallstricke
des schlechten Weltzustandes hinter
sich, um den Blick frei zu bekommen
für die möglich bessere Welt. Darüber
hinaus ist die Pampaedia ein klar strukturiertes
Buch, dessen Hauptlinien abschließend
dargestellt werden sollen.
·
Allen alles
gründlich lehren
„Pampaedia
meint die auf jeden einzelnen
des ganzen Menschengeschlechts
bezogene Pflege. Sie richtet
sich in ihren Maßnahmen nach
dem Ganzen und führt den Menschen
in die Vollkommenheit seines
Wesens ein. ... Durch Paedeia
werden die Menschen aus dem
Zustand der rohen Unvollkommenheit
herausgeführt. Pan meint nun
den Bezug zum Ganzen. So geht
es hier also darum, daß dem
ganzen Menschengeschlecht,
das Ganze, gründlich ... gelehrt
werde.“ (1965; S. 15)
|
In
drei Hauptteile gliedert sich die Pampaedia:
In dem ersten wird ihre grundlegende
Zielsetzung beschrieben (Alles, allen
gründlich lehren), im zweiten geht es
um die Voraussetzungen, die für dieses
Ziel notwendig sind (Schule, Bücher
und Lehrer), und in dem dritten werden
für die sieben Altersstufen des Menschen
die jeweiligen Aufgaben konkretisiert
(von der vorgeburtlichen Phase bis zum
Greisenalter). Drei Wörter kennzeichnen
das Ziel, um das es in der Pädagogik
geht: „Omnes“
(d.h. alle Menschen), „Omnia“
(sind auf Alles, das auf das Ganze bezogen
ist,) „Omnino“
(von Grund auf vorzubereiten). Für alle
drei Aspekte wird jeweils begründet,
warum sie notwendige Ziele darstellen,
und dass ihre Erreichung den Menschen
möglich, sogar leicht möglich ist, weil
sie dem von Gott geschaffenen, natürlichen
Wesen des Menschen eigentümlich sind.
Ohne
Ausnahme alle Menschen sind zu erziehen,
weil dies der dem Menschen von Gott
gegebenen Würde entspricht: „Wo Gott keinen Unterschied gemacht hat, da soll auch der Mensch keine
Schranken aufrichten“ (1965; S.
31). Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild,
lebt in der gemeinsamen Welt und strebt
zur Ewigkeit hin. Das Ziel der gemeinsamen
Erziehung aller Menschen ist erreichbar,
weil jeder Mensch durch seine Sinne,
seinen Verstand und seinen Glauben die
„Werkzeuge“
in sich hat, um die drei „Bücher
Gottes“ (S. 35) - die natürlich
geschaffene Welt, die Sittlichkeit des
sozialen Zusammenlebens und die Offenbarungen
der Bibel - verstehen zu können. Jedem
Menschen ist es von Natur aus eigen,
dass Gute zu wollen, das Wahre zu denken
und das Richtige zu tun, und die pädagogische
Aufgabe besteht nur darin, die Hindernisse
zu beseitigen, die sich dem Drang der
guten Natur entgegenstellen, und Hilfsmittel
anzubieten, durch die jeder Mensch zu
seiner positiven Selbstbestimmung heraufwachsen
kann. „Omnia“ - diese Forderung steht
gegen die Vorrangstellung einer standesmäßigen
oder berufsspezifischen Beschränkung
der Erziehung und für die allgemeine
Grundbildung aller Menschen.
„Omnia“
- was ist „das Ganze“, auf das hin die
Erziehung aller Menschen ausgerichtet
sein muss? Der Mensch ist Gottes Ebenbild,
und wenn er auch nicht werden kann wie
Gott, so ist es doch sein Ziel, sich
den Eigenschaften Gottes (Allwissenheit,
Allmächtigkeit, Allheiligkeit) anzunähern.
Die entsprechenden Fähigkeiten, die
den Menschen vor den Tieren auszeichnen,
sind sein Wissen, sein einsichtsvolles,
selbstbestimmtes Handeln und sein Sprechen
über Hintergründe und Absichten seines
Tuns. Auf die Ausbildung dieser drei
Fähigkeiten muss die Pädagogik sich
beziehen, wobei jene sich auf wiederum
drei Bereiche des menschlichen Umgangs
beziehen: (1) das Verhältnis zu „den niederen Geschöpfen“, (2) sein Bezug
zu den anderen Menschen, „seinen
wesensgleichen Brüdern“ (S. 53),
mit denen er in Frieden und Freundschaft
leben soll, und (3) sein Umgang mit
Gott. Wir haben diese drei Bezugsebenen
des Menschen schon bei der Beschreibung
der Böhmischen Didaktik kennen gelernt.
Der
Erziehungsprozess ist schließlich so
anzulegen, dass jeder Menschen das Ganze
auf gründliche Weise erlernen kann.
Mit dieser Zielsetzung spricht Comenius
eine Forderung an, die in unserer Zeit
unter dem Stichwort „Ganzheitlichkeit“
diskutiert wird: „daß man von allem Stückwerk läßt, daß wir alle zu unserem ungeteilten,
einfachen und gemeinsamen Erbe zurückkehren,
wie es uns im Paradiese verheißen war“
(S. 99). Gemeint ist nicht, dass jeder
einzelne über jeden Gegenstand bis ins
Einzelne gehende Erkenntnisse gewinnen
soll - das wäre weder möglich noch sinnvoll.
Sondern es geht um die Einsicht in die
grundlegenden Strukturen, damit jeder
die Aufgabe erkennt, die ihm als Menschen
obliegt. Johann Amos Comenius ist erstaunlich
wenig an Standes- und Berufsbildung
interessiert (sie gewinnt erst Bedeutung
in einer bestimmten Lebensphase des
Menschen), und ihn beschäftigen nicht
die unterschiedlichen (Begabungs-) Niveaus,
auf denen die Aneignung von Welt, Mensch
und Gott einzelnen möglich ist. Sondern
ihm geht es um die allen Menschen eigenen
grundlegenden Denk-, Sprach- und Handlungsfähigkeiten,
die im pädagogischen Prozess auszuprägen
sind, damit jeder Mensch seine Bestimmung
und sein Glück selbständig zu erreichen
vermag.
·
Schulen, Bücher,
Lehrer
Damit
alle Menschen erzogen werden können,
bedarf es der allgemeinen Einrichtung
von Schulen; damit sie Alles lernen
können, muss es umfassende und richtige
Bücher geben; und um sie gründlich zu
lehren benötigt man geeignete Lehrer.
Mit diesen drei Themenkreisen beschäftigt
sich Johann Amos Comenius in den folgenden
drei Kapiteln. Schule wird von ihm dabei
in einem sehr weiten Sinn verstanden:
das gesamte Leben ist eine Schule, „von der Wiege bis zur Bahre“, denn: „Jedes Lebensalter ist zu Lernen bestimmt, und
keinen anderen Sinn hat alles Menschenleben
und alles Streben“ (S. 117). Von
diesem umfassenden Begriff der Schule
hebt er den er „öffentlichen Schule“ ab, der in unserem
Sinne das institutionalisierte Lernen
der Kinder und Jugendlichen meint. Von
der Methode her soll die Schule spielerisch
sein, damit die Kinder nicht zum Lernen
gezwungen werden, doch von den Inhalten
her ist sie nicht Spielerei, Beschäftigung
mit unwesentlichen, unbedeutenden Dingen,
sondern eine sinnvolle Einführung „in
die Aufgaben des Lebens“ (S. 125).
Kindern soll wichtiges Wissen beigebracht
werden, sie sollen in Sittlichkeit und
Religiosität eingeführt werden, damit
sie auf die kommende Praxis vorbereitet
sind.
Damit
Kinder auf das Ganze des Wissens, Handelns
und Redens vorbereitet werden können,
bedürfen sie geeigneter Bücher. Comenius
verwendet das Wort „Buch“ zunächst in
allegorischer Hinsicht, wenn er von
den drei Büchern Gottes spricht, in
denen der Mensch lesen soll: die Welt,
der Geist, die Bibel. Damit der Mensch
jedoch zu dem „Lesen“ in diesen drei
„Büchern“ fähig wird, bedarf es vorbereitender
Hilfsbücher, Schul- und Lehrbücher,
für deren Abfassung Comenius zentrale
Kriterien bestimmt. Diese lassen sich
durch das weiter oben schon einmal benutzte
Merkmal der „Bescheidenheit“ charakterisieren:
wenige und kurze Bücher sollen es sein.
In zwölf Grundsätzen bestimmt er Maßnahmen,
die vor der Überschwemmung mit unnützen
Büchern bewahren sollen (in einer Zeit
wie der unsrigen, die an ihrer Informationsflut
zu ersticken droht, sind sie nicht uninteressant
zu lesen): Nicht „gekochten Kohl“ aufwärmen soll man, sondern
nur „neue
und gute Erkenntnisse“ (S. 151)
veröffentlichen; klar und deutlich sollen
die Bücher geschrieben sein, damit ihre
Richtigkeit unmmittelbar einleuchte;
„die Sache selbst muß vor Augen gestellt werden, nicht Meinungen darüber“
(S. 149); und: „Wer
schreibt, schaffe ein Buch, keinen Lumpenrock.“
(ebenda)
Damit
die Forderung, allen alles zu lehren,
auf gründliche Weise geschehen kann,
bedarf es geeigneter Lehrer, die ihr
didaktisches Handwerkszeug verstehen
und beherrschen. Alles muss der Lehrer
unternehmen, damit für die Kinder das
Lernen leicht und spielerisch vonstatten
gehen kann. Dies ist dann möglich, wenn
sich die Methoden an der kindlichen
Natur ausrichten: Wenn bei der Erziehung
die Verhaltens-, Denk- und Gefühlsweisen
der Kinder beachtet werden, dann ist
der von den Lehrern an sie herangetragene
Inhalt eine willkommene „Nahrung“, die
sie gerne annehmen und über die sie
sich freuen. „Wer sich dagegen (gegen die Natur; S.H.)
stemmt,
segelt gegen die Strömung.“ (S.
201) Comenius zeichnet nicht nur in
Bezug auf die didaktisch-methodischen
Kompetenzen, sondern auch auf die Persönlichkeit
der Lehrer ein hohes Ideal, die er sich
wünscht „wie
das Volk der Endzeit: erleuchtet, friedvoll,
gläubig, heilig“ (S. 171). Dabei
gilt für ihn der Grundsatz, dass, je
jünger die Kinder sind, desto „weiser“
müssen die Lehrer sein. Dabei lässt
er pragmatische Aspekte nicht außer
Betracht, wenn er fordert: „man
sollte ihn (den Lehrer der untersten
Klasse; S.H.) durch
bessere Bezahlung gewinnen“ (S.
283).
·
Lebensphasen
Im
dritten Teil der Pampaedia konkretisiert
Johann Amos Comenius die bisher vorgetragenen
allgemeinen Gedanken für die einzelnen
Lebensphasen. Er unterscheidet
sieben Stufen, denen jeweils spezifische
Aufgaben zukommen. Auffällig ist dabei
zunächst, dass er die Pädagogik nicht
auf die Kindheit und Jugendzeit beschränkt,
sondern die Entwicklung des gesamten
menschlichen Lebenslaufes von der Zeugung
bis zum Tod umgreift.
1.
„Die
Schule des vorgeburtlichen Werdens“:
Die befruchtete Eizelle ist „der Same Gottes“ (S. 223) und von Anfang an entsprechend zu behandeln.
2.
„Die
Schule der frühen Kindheit“ (Geburt
bis zum 6. Lebensjahr): In ihr werden
die Grundlagen für das ganze weitere
Leben gelegt, und dieser Phase kommt
deswegen besondere Bedeutung zu. Da
den Eltern die Elternliebe angeboren
ist, sollen sie sich vor allem selbst
um die Erziehung ihrer Kinder kümmern,
und erst in der zweiten Hälfte dieser
Phase (vom 4. bis zum 6. Lebensjahr)
sollen die Kinder in eine „halböffentliche Schule“ (S. 275) gehen,
um gemeinsam mit anderen Kindern „unter
der Aufsicht ehrhafter Frauen“ (ebenda)
zu spielen und zu lernen.
3.
„Die
Schule des Knabenalters“ (6. bis
12. Lebensjahr): Hier wird die Grundlage
für das spätere Lernen in der folgenden
Schulstufe gelegt, wobei die Inhalte
sich nicht unterscheiden, nur sollen
sie auf dieser Schulstufe für alle Kinder
„knapper, volkstümlicher und in der Muttersprache“
übermittelt werden. Aus der Definition
„Kinder sind junge Menschen, die künftigen Nachfahren derer, die heute
die Welt ... darstellen“ (S. 283)
ergeben sich die wesentlichen Bestimmungen:
(1) Kinder sind „zur
Menschlichkeit“ zu führen, (2) sie
müssen „als Kinder ... nach dem Vermögen ihres Alters“ behandelt werden, und
(3) müssen sie herangezogen werden „zu
dem, was
für Männer wichtig ist“ (ebenda).
4.
„Die
Schule der Reifezeit“: Hat ein Kind
ein festes Fundament sinnlicher Erfahrungen
gesammelt, so kann dieses Material jetzt
dazu genutzt werden, dies „bei den Jugendlichen in eine feste Form zu
bringen“ (S. 327).
5.
„Die
Schule des Jungmannesalters“: In
dieser letzten Phase institutionalisierter
Bildung weitet sich der Erfahrungskreis
ein weiteres Mal: „die ganze Welt, der ganze Kampfplatz des Geistes und das ganze Buch der
Hlg. Schrift“ (S. 347) bilden den
Hintergrund, so dass die didaktischen
Einschränkungen, die in früheren Lebensphasen
der Kinder und Jugendlichen pädagogisch
notwendig waren, jetzt entfallen. Das
Studium in der Akademie (Universität),
das Reisen und die Berufswahl bilden
die Unterabschnitte dieser Schule.
6.
„Die
Schule des Mannesalters“: Hier geht
es darum, dass das Gelernte in der Praxis
sich bewährt. Es ist die Phase des Lebens
im Beruf, der in Bezug auf Gott, die
Gesellschaft und die eigene Zufriedenheit
recht gewählt sein muss. Eine wichtige
Lebensregel dieser „Schule“ beschreibt
Comenius mit dem Satz: „Tu das, was du bei deinem Tode möchtest getan haben!“ (S. 391)
7.
„Die
Schule des Greisenalters“: In ihr
muss der alte Mensch dreierlei lernen:
„I. das bisher durchlebte Leben recht zu erfüllen,
II. den Rest des Lebens richtig zu vollenden
und III. das ganze irdische Leben richtig
zu beschließen und fröhlich in das ewige
Leben einzugehen“ (S. 423).
Johann
Amos Comenius schreibt die Pampaedia
als alter Mann, und gerade seine Äußerungen
zu den letzten beiden „Schulen“ sind
voll von beeindruckenden Weisheiten,
die er dem eigenen Leben abringt. Auch
der alte Mensch ist in einer Schule,
er muß die Summe seiner Erfahrungen
zusammenfassen, so dass er zu seinem
Leben stehen kann, und er muss lernen,
„gut zu sterben“ (S. 445). „Integrität gegen
Verzweiflung und Ekel“ (Erikson 1977;
S. 118) - so hat ein Psychologe des
20. Jahrhunderts diese Aufgabe des Alters
beschrieben, und er hat wie Comenius
ein Programm der Entwicklung entfaltet,
das die gesamte menschliche Lebensspanne
umfasst. Johann Amos Comenius weiß:
auch das „Lernziel“ der „Schule des
Greisenalters“ ist nicht abgehobene,
der Welt entrückte Tatsache, sondern
ein lernendes Bemühen eines „Mannes
der Sehnsucht“.
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