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Johann Amos Comenius

  Home / Texte / II / Johann Amos Comenius

Sigurd Hebenstreit

Johann Amos Comenius (1592 bis 1670):
„der Natur beim Gebären helfen“

Martin Luther ist nahezu ein halbes Jahrhundert tot, als Johann Amos Comenius geboren wird. Mit ihm kann man den Beginn der neuzeitlichen Pädagogik ansetzen, der gegenüber die bisher betrachteten Personen Vorläufer sind. Diese These gilt in zweierlei Hinsicht: zum einen nimmt bei ihm die pädagogische Reflexion quantitativ einen ungleich breiteren Raum ein, und zum anderen bekommt durch ihn der erzieherische Grundgedanke im Sinne einer Betrachtung der kindlichen Eigenstruktur einen zentralen Stellenwert. Beide Aspekte gelten, obwohl auch Johann Amos Comenius als Theologe das Geschäft der Pädagogik betreibt.

Ähnlich wie Erasmus von Rotterdam ist Johann Amos Comenius eine europäische Gestalt, ja dieses ist er in noch größerem Maße als jener, weil der osteuropäische und nordeuropäische Raum in seiner Biographie Bedeutung hat. Geboren wird er in Mähren, Teil der heutigen tschechischen Republik, etwa 300 km südöstlich von Prag. Er studiert in Deutschland, beginnt sein erwachsenes Leben in der Heimat, aus der er auf Grund der Ereignisse des 30-jährigen Krieges nach Polen vertrieben wird. Weitere Stationen seines Weges sind England, Schweden, Ostpreußen und Ungarn. Seinen Lebensabend verbringt er in Holland, wo sein Grab noch heute in der kleinen Stadt Naarden, unweit von Amsterdam, besucht werden kann.

Wir sprachen bei Martin Luther davon, dass Spannungen zum menschlichen Leben gehören, die bei jedem einzelnen auf Grund individueller Anlagen, einer persönlichen Biographie und gesellschaftlicher Zeitumstände eine spezifische Färbung erhalten.  Bei Johann Amos Comenius ist es der intensiv erfahrene Kontrast zwischen tiefer Verzweifelung und paradiesischer Hoffnung, der sein Leben kennzeichnet. Da ist zunächst der Tatsache zu gedenken, dass der größte Teil seines Lebens durch die Erfahrung von Kriegserschütterungen unmittelbar geprägt ist, obwohl ihn andererseits die Friedenssehnsucht nicht verlässt. Politisch hat er unmittelbaren Kontakt mit einigen der Mächtigen seiner Zeit, aber letztendlich muss er sich als ohnmächtig erfahren, das bedrückende Schicksal seines Volkes und seiner Glaubensgemeinschaft zum Besseren zu beeinflussen. Er ist ein Weltenbürger, der sich das eigene Heimatland wählen könnte, aber er erfährt sich als Heimatloser. Schon zu Lebzeiten hat er nicht unbeträchtliche Erfolge, und er genießt den Ruhm einer öffentlichen Person, doch auch die Erfahrung der Einsamkeit bleibt ihm nicht erspart. Er ist überzeugt von seiner Mission, für deren Realisierung er seine ganze persönliche Kraft einsetzt, aber in seinem Lebensrückblick beschreibt er sich als einen Menschen, der von anderen getrieben wurde, von ihrem Urteil abhängig war. Der Adressat seines Wirkens ist eine relativ kleine kirchliche Gemeinschaft und gleichzeitig die europäische wissenschaftliche Gelehrtenwelt, weshalb er in tschechischer und lateinischer Sprache gleichermaßen schreibt. Er pflegt Kontakt zu den wissenschaftlich-philosophischen Größen seiner Zeit und will das Gesamt menschlichen Wissens ordnen und nutzen, doch an einigen Stationen seines Lebens bricht sich ein Aberglaube Bahn, indem er wahrsagerischen und spiritualistischen Ideen selbst anhängt und ihnen öffentliche Publizität verleiht. Sein Fühlen schließlich schwankt zwischen Phasen depressiver Verzweifelung, rastlosem, auflehnenden Suchen und einer sicheren Ruhe in sich selbst. Wer ist dieser Johann Amos Comenius?

a) Biographisches

·      Kindheit, Jugend und Studium

1592

28. März: Geburt Comenius

1602/03

Tod des Vaters und der Mutter

1608

Lateinschule in Prerau

1611

Studium in Herborn und Heidelberg

1614

Lehrer und Rektor in Prerau

1618

Prediger und Lehrer in Fulnek

1621

Aufenthalt an z. T. geheimen Orten

1628

Auswanderung nach Lissa in Polen

1641

London, Holland und Schweden

1642

Elbing, Arbeit im Dienst Schwedens

1648

Lissa (2. Aufenthalt)

1648

leitender Bischof der Unität

150

Sárospatak

1654

Lissa (3. Aufenthalt)

1656

Amsterdam

1670

15. November: Tod in Amsterdam

Sein Leben bestimmend ist zu allererst die Tatsache, dass er in die Glaubensgemeinschaft der Böhmischen Brüder hineingeboren wird. Diese gehen auf Jan Hus zurück, der mehr als 100 Jahre vor Martin Luther Missstände der Kirche angegriffen und ein Reformprogramm vorgelegt hat, für das er 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, ohne dass seine Ideen insbesondere in seiner böhmischen Heimat damit ausgerottet werden konnten. Die Böhmischen Brüder bildeten in Tschechien eine eigenständige religiöse Kraft neben Lutheranern, Reformierten und Katholiken. Für Johann Amos Comenius ist diese Glaubensgemein­schaft Familienersatz, und er bedarf ihrer um so mehr, als er durch den frühen Tod des Vaters und der Mutter (Johann Amos ist 10 bzw. 11 Jahre alt) Waise wird. Er wächst bei einer Tante auf, und als deren Dorf zerstört wird, macht das Kind die ersten Erfahrungen mit der Grausamkeit des Krieges. Johann Amos Comenius ist 16 Jahre alt, als eine kleine Erbschaft ihm den Besuch der Lateinschule der Böhmischen Brüder in Prerau ermöglicht. Dort fällt sein Talent, seine Lernfähigkeit und Lernbereitschaft auf, und der 19-jährige wird zum Studium ausgewählt. Da die Böhmischen Brüder über keine eigene Hochschule verfügen, entscheidet man sich für die calvinistischen Universitäten in Herborn und Heidelberg, die theologisch näher stehen als etwa das lutherische Wittenberg. Drei Jahre Zeit hat Johann Amos Comenius für sein Studium, einen Abschluss wird er nicht machen, da dies den Böhmischen Brüdern nicht wichtig ist. Er saugt sich mit Wissen voll wie ein Schwamm, und er begegnet hier der Idee, die ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen wird: all das Wissen der beginnenden Neuzeit, das einem neuen Welt- und Menschenbild Platz verschafft, ist in einer großen Enzyklopädie zu sammeln und zu ordnen. Wird dieses Gesamt des Wissens in einem pädagogischen Prozess allen Menschen zugänglich gemacht, dann ist ein wichtiger Grund für eine bessere Welt gelegt. Johann Amos Comenius ist erst 22 Jahre, als er zu Fuß von Heidelberg über Prag nach Mähren wandert, das für die Reise vorgesehene Fahrtgeld hat er in den Erwerb eines Buches von Johannes Keppler investiert, einen Schatz, den er sein Leben lang hüten wird.

·      Schicksalsschläge und Trostschriften

In Prerau beginnt nun eine ganz normale Erwachsenenbiographie, in die jedoch schon bald die Gewalt des großen Krieges eingreift. Mit 22 wird er Lehrer und kurze Zeit später Rektor der Lateinschule, zwei Jahre später wird er zum Priester der Böhmischen Brüder ordiniert und nochmals zwei Jahre später erfolgt seine Versetzung als Prediger und Lehrer in das 50 km entfernte Fulnek. Es ist das Jahr des ausbrechenden 30-jährigen Krieges als Johann Amos Comenius zum ersten Mal heiratet. Die ersten beiden Kinder werden geboren. Doch schon bald wandelt sich dieser glückliche Lebenslauf in die Katastrophe. Die kriegerischen Ereignisse, in deren Verlauf alle protestantischen Kirchen verfolgt werden, greifen von Böhmen aus auf Mähren über. Johann Amos Comenius muss fliehen und sich in den Wäldern versteckt halten. Teilweise findet er, ebenso wie andere verfolgte Glaubensbrüder Unterschlupf bei Adeligen. Die Frau und die kleinen Kinder bleiben zurück und sterben kurze Zeit später an der durch den Krieg bedingten Pest. Johann Amos Comenius fällt ins Bodenlose - neben der familiären Katastrophe steht seine Beschäftigungslosigkeit, und es fehlt eine Perspektive aus der hoffnungslosen und das eigene Leben bedrohenden Situation. Um aus dieser depressiven Lage herauszugelangen, nutzt er ein Mittel, das ihm noch des öfteren in seinem Leben helfen wird: er schreibt gegen seine Verzweiflung an, um in seinem Glauben eine Gewissheit zu erlangen, die vor den Gefahren der Selbstvernichtung und der Trauer bewahrt.



Ein Ergebnis dieser „Trostschriften“ ist ein Buch, das zur Grundlektüre der tschechischen Literatur wird und das auch für den Leser heute eine faszinierende Aktualität bereithält: „Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens“ (geschrieben 1623, erstmals veröffentlicht 1631). Die Welt und der menschliche Lebenslauf werden in das Bild einer Stadt zusammengezogen, deren Mittelpunkt der Marktplatz des geselligen und geschäftigen Lebens bildet. Sechs Hauptstraßen durchqueren die Stadt, die das Leben in der Familie, den Beruf, die Bildung und Wissenschaft, die Kirche, die Obrigkeit und den Kriegerstand symbolisieren. Am Ende der Stadt liegt die „Burg Fortunas“, die den erfolgreichen Menschen Reichtum, Genuss und Ruhm verspricht. Ein „Pilger“ wird von zwei Begleitern, die ihm die Faszination der Welt zeigen wollen, durch die Stadt geführt. Doch weil der Pilger die Welt nicht durch die rosarote Brille der Verblendung und des Vorurteils betrachtet, kann er sehen, was sie tatsächlich ist: ein riesig großes Labyrinth, in dem gemordet, belogen, überlistet, hintergangen wird, und auch das scheinbare menschliche Glück des Wohlstandes, der Triebbefriedigung und des Ruhmes erweist sich bei genauerem Hinsehen als das Gegenteil. Das Buch des Johann Amos Comenius ist voll von bildhaften Beschreibungen der Realität des gesellschaftlichen Labyrinths, in dem die Menschen sich verirren. Der Pilger resümiert seine gesamte Reise ernüchtert: „Und ich erschrak, daß nirgends in der Welt ... etwas Tröstliches zu finden sei, woran das Herz mit voller Zuversicht sich klammern könnte.“ (1631; S. 186) Was bleibt zu hoffen in einer derart deprimierenden Situation, die wohl ein Spiegelbild der Verfassung des Johann Amos Comenius in dieser Zeit ist? Der Pilger vernimmt eine Stimme: Kehre um! „Kehre dahin zurück, von wo du ausgegangen bist, in deines Herzens Kämmerlein und schließe hinter dir die Türe zu!“ (ebenda; S. 222) Gerne folgt der Pilger diesem Rat, doch er muss erkennen, dass die Zugänge zu seiner eigenen Seele verschmutzt sind. Er muss sie erst reinigen, um Gott und durch Gott sich selbst richtig zu erkennen und darin Freiheit, Leichtigkeit, Überfluss, Sicherheit, Frieden und Freude wirklich zu finden.

Den gleichen Gedanken hat Johann Amos Comenius in seiner zwei Jahre später geschriebenen Schrift „Centrum Securitatis“ (geschrieben bis 1625, erstmals veröffentlicht 1633) durch das Bild eines Rades auszudrücken versucht: der unbewegliche Mittelpunkt ist Gott, die Welt der um diesen Mittelpunkt geschlagene Radius des Außenkreises und die Menschen sind die Speichen zwischen beiden. Ein Mensch wird glücklich leben können, wenn er nicht in die Peripherie abschweift, sondern nur wenn er des Centrums (Gott) eingedenk bleibt, von dem aus alles wirkliche Leben kommt. „Die ganze weite Welt“, so heißt es auf dem Titelblatt, „ist ein gefährliches Rad, das nichts als Unbestand und Unruh in sich hat; wer nicht in seinem Gott, als in dem Centro, bleibt, den schleuderts hin und her, bis er daran zerstäubet.“

In diesen frühen Schriften kommt eine radikale Abkehr von der Welt, die so viel Schmerz bereitet, und eine mystische Hinwendung zu Gott, der im Innern des einzelnen Menschen zu finden ist, zum Ausdruck. Johann Amos Comenius bedarf angesichts seiner äußeren Bedrohung und eigenen Angst dieses Zwischenschritts. Er wird nicht dabei stehen bleiben (wenngleich immer wieder dorthin zurückkehren), denn er ist ein viel zu aktiver Mensch, als dass er es mit einem Rückzug von der Welt bewenden lassen könnte. Hat er Gott in sich gefunden und ist er dadurch zu sich selbst gelangt, so gewinnt er eine Basis der Sicherheit, von der aus er sich wieder der Welt zuwenden kann.

·      Exil und Entwicklung der Pansophie

Dies ist dann auch der Weg des Johann Amos Comenius: zwei Jahre nach dem Tod der ersten Frau heiratet er erneut, Kinder werden geboren, und das Leid, das der große Krieg seinen Mitmenschen zufügt, verlangt seine Aktivität. Da die Gemeinde nicht in Böhmen bleiben kann, wandert Johann Amos Comenius mit ihr nach Lissa in Polen aus. Dieser Schritt ins Exil ist verbunden mit Leid und Trauer, aber sie hoffen auch, nach dem Ende des Krieges in die alte Heimat zurückkehren zu können, eine Hoffnung, die trügen wird. Zunächst einmal gilt es, das Alltagsleben in der neuen Umgebung zu gestalten. Johann Amos Comenius wird wieder Lehrer und Prediger, und er erkennt die Mühsal, die die traditionelle Pädagogik für die Kinder bedeutet. Deshalb versucht er, eine ganz neue Didaktik zu finden, die den Kindern das Lernen leicht, spielerisch und lustvoll macht. Wir werden darauf zurückkommen.

Johann Amos Comenius ist keine 40 Jahre alt, als er ein Ergebnis seiner didaktischen Reformbemühungen vorlegt: ein neues Lehr- und Lernbuch zum Erlernen der lateinischen Sprache. Sein Grundgedanke ist, dass das Lernen nicht Einpauken toten Wissens sein dürfe, sondern dass Sprachenlernen auf einer Basis der sinnlichen Anschauung gründen und immer in Sinnzusammenhängen geschehen müsse, die aus der Perspektive des Kindes dem Gelernten Bedeutung verleihen. Mit dieser „Geöffneten Sprachentür“ wird Johann Amos Comenius schlagartig in Europa berühmt, findet sein Schulbuch doch in vielen Ländern weite Verbreitung und Anerkennung (später wird ihm die schwedische Königin Christine, als sie sich mit ihm in fließendem Latein unterhält, erklären, sie habe die Sprache durch sein Schulbuch erlernt).

„Ein Schmied wird man nur durch Schmieden, ... und so müssen auch die Knaben Menschen werden, indem wir sie mit den menschlichen Angelegenheiten beschäftigen, damit ihnen im Leben gar nichts begegnen könne, ... was sie in der Schule nicht schon vorgeübt hätten“ (1639; S. 63).

Neben diesen pädagogisch-didaktischen Bemühungen beschäftigt sich Johann Amos Comenius noch mit einem zweiten Gedanken, mit dem er einen Faden seiner Studienzeit aufnimmt und den er jetzt unter die Überschrift „Pansophie“ stellt. Was ist damit gemeint? Zunächst können wir es wörtlich mit „Allweisheit“ übersetzen. Ersetzt wird dadurch der Begriff der „Enzyklopädie“. Diese gleicht eher einem „mit großer Sorgfalt und artigen Ordnung aufgebauten Haufen von Hölzern als ein Baum, der aus eigenen Wurzeln emporwächst“ (1639; S. 71). Stellen wir uns ein umfangreiches Universallexikon vor, das geordnet ist nach der Reihenfolge der Stichwörter im Alphabet. Kein Kind könnte sich dieses Wissen aneignen, wenn wir ihm sagten: beginne mit dem Buchstaben ‘Aa’ und höre mit ‘Zz’ auf. Mühsam, langweilig und überflüssig. In der Pansophie geht es demgegenüber um das gesamte Wissen, das in eine sinnvolle Ordnung gebracht ist, die drei Kriterien gleichermaßen genügt: sie entspricht erstens der Sachlogik der Gegenstände, zweitens den Bedürfnissen des realen, praktischen Lebens und drittens den Entwicklungsmöglichkeiten des Lernenden. Pansophie ist „ein lebendiges Bild des Ganzen“, sie ist nicht nutzloses Vielwissen, sondern Zusammenführung dessen, was für das Leben des Menschen nützlich ist.

Um zur Pansophie zu gelangen, muss in einem ersten Schritt alles menschliche Wissen gesammelt werden, und Johann Amos Comenius betont nachdrücklich, dass alle Menschen („Christen oder Mohamerdaner, Jude oder Heide“) hier zur Mitarbeit aufgerufen sind, denn sie sitzen alle „im gemeinsamen Amphitheater der Weisheit Gottes“ (ebenda; S. 89). In einem zweiten Schritt muss dann überprüft werden, ob dieses menschliche Wissen mit der Realität übereinstimmt, oder ob „man sich an Träume und Schatten hält statt an die Dinge“ (ebenda; S. 99). Drittens schließlich muss das an der Wirklichkeit überprüfte menschliche Wissen in die oben schon charakterisierte Ordnung gebracht werden. Die Entwicklung der Pansophie wird für Johann Amos Comenius zu einer Herzensangelegenheit, die er sein ganzes weiteres Leben verfolgen wird, weil sie den Schlüssel zur Lösung der drei Problemkreise liefert, für die er sich engagiert:

·       die pädagogische Frage, weil sie dem Lehren und Lernen eine Leichtigkeit und Sicherheit gibt, indem sie die Eigengesetzlichkeit kindlicher Entwicklung berücksichtigt,

·       die politische Frage, weil der so gebildete Mensch nicht anders kann, als sich für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen,

·       und die religiöse Frage, weil sie den Menschen zu Gott führt.

·      England, Schweden, Ungarn

Die Entwicklung der Pansophie stellt ein umfangreiches Forschungsprogramm dar, an dem Comenius arbeiten will. Er sendet ein handschriftliches Exemplar der „Vorläufer der Pansophie“ ohne Absicht auf Publikation an Freunde in England, die es gegen seinen Willen im Druck erscheinen lassen. Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt Johann Amos Comenius, eine Phase großer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Anerkennung in verschiedenen europäischen Staaten. 1641 reist er von Lissa nach England, wohin er durch einflussreiche Freunde vom englischen Parlament eingeladen wird. Durch seine pansophischen Bestrebungen versprechen sie sich eine Unterstützung ihres eigenen Reformprogramms. Doch nachdem diese politische Reform an der Wiedererstarkung des englischen Königs scheitert, reist Johann Amos Comenius nach Schweden weiter. Dort trifft er mit der Königin Christine und dem schwedischen Reichskanzler Qxenstierna, damals einem der einflussreichsten Männer Europas, zusammen. Er wird offiziell beauftragt, in der von Schweden beherrschten ostpreußischen Stadt Elbing durch die Erarbeitung von Schulbüchern und didaktischen Schriften an der geplanten Bildungsreform mitzuwirken. Äußerlich haben er und seine Familie dort ein gutes Auskommen, doch es bedrängt ihn, dass er als pädagogischer Methodiker eingeschränkt wird und seine weiterreichenden pädagogischen, gesellschaftlichen und religiösen Bestrebungen nicht geachtet werden. Sechs Jahre hält er es in Elbing aus, dann drängt seine zweite Frau angesichts ihres nahen Todes zurück nach Lissa, das zur zweiten Heimat geworden ist. Dort muss er sie alsbald begraben. Der Witwer mit einer Schar älterer und jüngerer Kinder alleine gelassen, entschließt sich als 58-jähriger zur dritten Ehe, seine Frau ist so alt wie Comenius ältere Töchter.

Das Jahr des Todes seiner zweiten Frau ist auch das Jahr seiner Wahl zum leitenden Bischof der Böhmischen Brüder, und es ist gleichzeitig das Jahr des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück. Doch für Johann Amos Comenius und seine Glaubensgemeinschaft bringt das Ende des Krieges keine Rückkehr in die Heimat, sondern vielmehr die bittere Erkenntnis, dass ihre Interessen von keiner der Parteien in den Verhandlungen Berücksichtigung gefunden haben. Die kleine Gruppe der Böhmischen Brüder wird zwischen den Interessen der großen politischen und kirchlichen Gruppierungen zermahlen. Zwei Jahre später bricht Johann Amos Comenius nochmals von Lissa aus, er wird von den siebenbürgischen Fürsten nach Ungarn eingeladen, um dort die Sache der erzieherischen Reform voranzutreiben. Doch der Widerstand der Lehrer und Schüler gegen den pädagogischen Erneuerer ist groß. In seinem autobiographischen Fragment zitiert er eine Rede, die er vor der Fürstin gehalten hat: „Meine ganze Methode dient dazu, daß sich die Arbeit in der Schule zum Spiel und zur Freude wandle. Das will hier keiner verstehen. Man geht mit der Jugend wie mit Sklaven um ... Die Lehrer gründen ihre Autorität auf finstere Mienen, harte Worte, ja auch Schläge und wollen eher gefürchtet als geliebt werden.“ (1669; S. 272) Doch er erhält durch die politisch Regierenden volle Rückendeckung, so dass er sein Programm - „Die Schule - ein Spiel“ (1965; S. 173) - durchsetzen kann.

Vier Jahre bleibt Johann Amos Comenius in Ungarn, bevor er zum dritten Mal nach Lissa geht. Dort geraten er, seine Familie und die Glaubensbrüder alsbald in die Auseinandersetzungen des schwedisch-polnischen Krieges, und schließlich überfallen polnische Truppen die Stadt, in der sie ein Symbol für protestantische Ketzer sehen. Kurz vor der polnischen Eroberung kann Johann Amos Comenius mit seiner Familie fliehen, und die Legende erzählt, wie er aus der Entfernung dem Brand der Stadt, die für ihn bei seinem Umherreisen zur zweiten Heimat geworden ist, zusehen muss. Zu dieser familiären Katastrophe kommt noch etwas weiteres hinzu: auch die Bibliothek Comenius fällt den Flammen zum Opfer. Zwar hat er Anweisung gegeben, seine Manuskripte in einer unter dem Schlafzimmer ausgehobenen Grube zu verstecken, doch als er die geretteten Überreste aus der zerstörten Stadt erhält, muss er sehen, dass sie die falschen Bücher eingegraben haben. Verlorengegangen sind so die Notizen und Vorarbeiten für das große Hauptwerk, das Johann Amos Comenius sich als Summe seines Denkens und Schaffens vorgenommen hat.

·      Lebensabend

Ein Mann, mit 64 Jahren im beginnenden „Rentneralter“, heimatlos, letzter Bischof einer Kirche, die keine Zukunft mehr hat, Familienvater, der für Frau und Kinder aufzukommen hat, beraubt der Vorarbeiten des geplanten abschließenden Werkes, politisch machtlos - was soll jetzt aus ihm werden? Laurentius de Geer, ein reicher Holländer, dessen Vater Comenius damals nach Schweden vermittelt hatte, lädt ihn nach Amsterdam ein. Hier stehen ihm jetzt 14 Jahre seines Lebensabends bevor, eine Zeitspanne, die bis zu seinem Tod mit einem umfangreichen Arbeitspensum angefüllt ist. In einer Biographie über Johann Amos Comenius lesen wir: „Comenius versandte damals in jeder Woche durchschnittlich dreißig Briefe, um nicht die Kontakte zu verlieren, die er mehr als für sich selbst zu Gunsten von Mitgliedern der Brüderunität benötigte, die in den verschiedensten Gegenden verstreut lebten ... Werden Comenius Schriften insgesamt, allein die im Druck erschienenen Schriften, ge­zählt, an die einhundertfünfunddreißig, so gab er fast die Hälfte, zweiundsechzig, wäh­rend seines letzten, vierzehn Jahre währenden Aufenthaltes in Amsterdam heraus." (256ff) Nochmals nimmt er das zusammenführende Hauptwerk in Angriff: „Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge“ (1645 bis 1670), ein siebenteiliges Werk, von dem wir den pädagogischen Teil - die Pampaedia - weiter unten betrachten werden. Und er veröffentlicht kurz vor seinem Tode ein kleines Büchlein, das als sein Testament angesehen werden kann: „Das einzig Notwendige“ (1668).

„Alles Gute in dir, du Mensch, entspringt daher, daß du nach Gottes Ebenbilde geschaffen bist; und je mehr du dich deinem Urbilde, Gott, näherst, um so leichter und müheloser wird es diesem Quell entspringen.“ (1668; S. 61)

Johann Amos Comenius nimmt nochmals das Bild des Labyrinths auf: alle Welt sowie jeder einzelne Mensch irren durch Labyrinthe und unterliegen der Selbsttäuschung. Das ruhelose Handeln und der falsch Genuss treiben den Hunger und Durst immer mehr an und befriedigen nicht. So macht der Mensch sich selbst unglücklich, er findet keine Ruhe. Doch neben der Labyrinthhaftigkeit kennzeichnet jeden Menschen auch, dass er ein „Sehnen“ in sich hat, „sich endlich aus des Lebens Labyrinth hinauszufinden“ (1668; S. 25). Das bestimmt die Widersprüchlichkeit aller Menschen: „Sie wollen das Gute und wollen es doch nicht.“ (ebenda; S. 29) Die Ursache für das nicht-glücklich-Sein liegt in der Vermischung des „Nötigen“ mit dem „Unnötigen“. Würde der Mensch zwischen beiden richtig scheiden, so wäre der Weg zum Glück einfach: „Die Vielgeschäftigkeit, in die das Verlangen nach Neuem sie treibt und verwickelt, ist ihr (der Menschen) Verderben. Darum zurück zur Einfachheit, wenn du gesunden willst.“ (ebenda; S. 56) Und: „Einfachheit ist ... der Ariadnefaden, der sicher aus allen Labyrinthen, auch den größten, herausführt.“ (ebenda; S. 54) Diese Regel der Einfachheit wird dann beachtet, wenn der Mensch in seinem Denken, Handeln und „Genießen“ sich auf sich selbst zurückzieht; er wird dann glücklich sein, wenn er sich auf sich selbst bezieht und sein Glück nicht außer sich sucht. Diese Rückkehr zur Einfachheit, das Abwerfen des Ballastes von überflüssigem Streben nach Außenwirkung - dies gilt für den Bereich der Bildung und Wissenschaft ebenso wie für die Politik und die Kirche. Nochmals nimmt er das Bild des Rades aus der Frühschrift „Centrum Securitatis“ auf, und der alte Johann Amos Comenius gibt den Rat: „fliehe eilends ... von dem Wirbel der Peripherie zur Ruhe des Zentrums, aus dem Strudel der Welt nur zu Christus.“ (ebenda; S. 137) Den Schluss der Schrift bildet eine persönliche Reflexion des eigenen Lebens. Auf der einen Seite steht: „Mein Leben war ein Wandern, eine Heimat hatte ich nicht. Es war ein ruheloses, fortwährendes Umhergeworfenwerden, niemals und nirgends fand ich einen festen Wohnsitz.“ (ebenda; S. 151) Doch auf der anderen Seite gilt auch: „Ich danke meinem Gott, daß er mich mein ganzes Leben hindurch einen Mann der Sehnsucht hat sein lassen.“ (ebenda; S. 140) Dies macht die Spannung von Verzweiflung und Hoffnung, Ruhelosigkeit und Friedenssehnsucht aus, von der wir zu Beginn gesprochen haben.

Ein Programm der Anspruchslosigkeit, das alles andere als anspruchslos ist. Auch für den sterbenden Johann Amos Comenius nicht. Kratochvìl hat in seiner Biographie eine Szene auf dem Totenbett romanhaft verarbeitet, in der Johann Amos Comenius seinen Sohn Daniel beschwört, sein Werk nicht unvollendet zu lassen: „Bei aller Liebe, mit der ich dich an mein Herz schmiegte, denke daran, daß dich aus dem Jenseits mein Fluch trifft, daß er auf dich, deine Sippe und alle fällt, die sich mit dir in der Arbeit verbinden, wenn ihr das, worin ich schon soweit fortgeschritten bin, nicht vollendet und wenn ihr die Worte, die ich nicht mehr aussagen konnte, nicht aussprecht. Und ich verfluche dich nicht im Namen meiner selbst, der sich in dir getäuscht hat, sondern im Namen der ganzen Menschheit, die ihr damit verraten würdet!“ (Kratochvìl 1984; S. 301; siehe auch Schaller 1962; S. 9) Nicht Abgeklärtheit macht den Menschen aus, sondern sein Streben, sich von Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten nicht unterkriegen zu lassen und die Hoffnung aufrechtzuerhalten. Johann Amos Comenius, ein „Mann der Sehnsucht“.

b) Böhmische Didaktik

Johann Amos Comenius hat sich sein Leben lang mit pädagogischen Fragen beschäftigt, und es zeigt sich eine erstaunliche Kontinuität seines Denkens, die realisiert, was er von der Lerngeschichte der Kinder generell fordert: sie sei vergleichbar einem Baum, der im Keim bereits alles erhält, beständig aus der Wurzel herauswächst und sich zunehmend differenziert. Aber es gibt auch Weiterentwicklungen: indem er den Gedanken des lebenslangen Lernens von der Zeugung bis zum Tod hervorhebt und indem er die Pädagogik zunehmend in die Zielsetzung einordnet, ihren grundlegenden Beitrag zu einer der Menschenwürde entsprechenden Gesellschaft zu leisten. Wir wollen die Pädagogik Comenius zur Darstellung bringen, indem wir sein erstes und sein letztes diesbezügliches systematisches Werk betrachten: die „Böhmische Didaktik“ einerseits und die „Pampaedia“ - als IV. Teil der „Allgemeinen Beratungen“ - andererseits. Dazwischen stehen zwei exemplarisch ausgewählte Beispiele, die das grundlegende Programm auszufüllen versuchen: seine Anweisungen zur frühkindlichen Erziehung in der Familie („Informatorium der Mutterschul“) und das Kinderbuch „Orbis sensualium pictus“.

·      Rahmen

Vor seiner durch die Kriegsereignisse erzwungenen Flucht hat Johann Amos Comenius sieben Jahre lang Erfahrungen als Lehrer an den Lateinschulen in Prerau und Fulnek gesammelt, jetzt, als 36-jähriger findet er sich im Exil in Lissa wieder vor die Aufgabe gestellt, Kinder zu unterrichten. In seiner Autobiographie schreibt er rückblickend: „Weil ich mich mit ihnen (den Arbeiten in der Schule) nicht nur oberflächlich befaßte, so begann ich mir besser als je zuvor der Fehler und Mängel der üblichen Methode in der Schule bewußt zu werden und über deren Verbesserung ... nachzudenken, so daß manche gute Beobachtungen in einem System der didaktischen Kunst Gestalt gewann.“ (1669; S. 210) Noch hoffen die im Exil lebenden Böhmischen Brüder, dass sie in absehbarer Zeit wieder in die Heimat zurückkehren können, und Johann Amos Comenius will seinen Beitrag dazu leisten, dass der neue Staat ein „Garten der Wonne“ (1632; S. 9) wird. Weil er in der Missachtung der Erziehung eine der entscheidenden Ursachen für die politische Katastrophe der Glaubensgemeinschaft sieht, hofft er, dass durch eine grundlegende Reform der Pädagogik die Voraussetzung für eine bessere persönliche, gesellschaftliche und religiöse Zukunft geschaffen wird. Gleichzeitig mit der Böhmischen Didaktik veröffentlicht er einen kurzen „Entwurf“, in dem es zu Beginn heißt: „Die ruhmvolle Erneuerung und herrliche Blüte der Kirche, des tschechischen Staates und der ganzen Nation ... wird ... auf der neuen, weisen und rechtschaffenden Begründung von Schulen beruhen.“ (1632a; S. 368) Die Jahre im Exil dauern an, und die Hoffnung auf baldige Rückkehr in die alte Heimat wird schwächer. Gleichzeitig wird Johann Amos Comenius in Gelehrtenkreisen in weiten Teilen Europas zu einer bekannten Person, so dass er sich entschließt, lateinisch zu schreiben und seinen Namen Jan Amos Komensky in Johann Amos Comenius zu lateinisieren. Auch die in tschechischer Sprache geschriebene „Böhmische Didaktik“ überträgt er in das Lateinische, und unter dem Namen „Didactica Magna“ wird sie weltberühmt.

Jedes pädagogische Reformprogramm, das nicht nur methodisch-technische Verbesserungen im Auge hat, sondern grundsätzlich neu über die Fragen der Erziehung nachdenken will, besteht aus einem Dreierschritt: Zunächst wird der bisherige Umgang der Erwachsenen mit den Kindern drastisch kritisiert und deren Grausamkeit, aber auch Ineffektivität angeklagt; in einem zweiten Schritt werden in deutlichem Kontrast zu der „alten“ Erziehung die Vorteile der „neuen“ verheißen, und es wird  begründet, wie selbstverständlich und „natürlich“ sie sei; drittens wird dann der vorgeschlagene Reformplan in seinen Einzelelementen dargestellt und häufig seine Richtigkeit durch eigene Versuche nachgewiesen. Wir werden auf diese Ablauffolge pädagogischer Reformprogramme noch des öfteren stoßen. Auch bei Johann Amos Comenius finden wir eine derartige Vorgehensweise.

·      Schulkiritik

Starke Worte findet er für seine Schulkritik: „Folterkammer“ und „Kopfmarter“ nennt er die bestehende Schule, die in die Kinder ihr kümmerliches Wissen „mit Gewalt einbleut“, „einpreßt“, „einstampft“ (1632; S. 70). Weil Lehrer die Kinder nicht verstehen, „machen sie aus Pferden Esel“ (S. 79). Neben ihrer Grausamkeit gegenüber den Kindern kennzeichnet die Schule auch ihre Ineffektivität: viel Zeit wird aufgewendet, aber der Lernerfolg ist sehr gering. Über Jahrhunderte hinweg die gleiche Kritik mit den gleichen Worten - bis hin zum 20. Jahrhundert, wo beispielsweise Ivan Illich die Schule mit Gefängnissen und Konzentrationslagern vergleicht, und auch er wirft ihr vor, daß bei all der pädagogischen Gewalt der Lernzuwachs durch die Schulerziehung gering sei (Illich 197 ). Über diese Kontinuität der Schul- und Erziehungskritik ließe sich nachdenken: Wenn trotz aller Reformbemühungen das Ergebnis sich gleich bleibt, liegt es dann vielleicht doch nicht an böswilligen, unwissenden, nicht richtig ausgebildeten einzelnen Lehrern und Erziehern, sondern an der grundlegenden Struktur des pädagogischen Verhältnisses von mündigen Erwachsenen zu unmündigen Kindern?

·      Theoretische Fundierung

Der aus unserer heutigen Sicht wichtigste Teil der Böhmischen Didaktik bildet die grundlegende anthropologische und gesellschaftliche Fundierung, aus der sich der Erziehungsbegriff und die pädagogische Kernforderung ergibt: Allen Menschen alles auf leichte und doch gründliche Weise zu lehren. Einen „Klumpen Lehm“, in dem „eine vernünftige, unsterbliche und ewige Seele wohnt“, und bei der „aus beidem nur eine einzige Person wird“ (1632; S. 24) - das ist für Johann Amos Comenius der Mensch, und dadurch wird gleichzeitig die Ambivalenz des Menschen gekennzeichnet. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Pädagogik ist die dreifachen Stellung, die der Mensch zu Gott, zu sich selbst und den Mitmenschen sowie zu der nichtmenschlichen Umwelt einnimmt. Beginnen wir mit dem letzten Aspekt. Da der Mensch als einziges Lebewesen auf der Erde Vernunft besitzt, ist er über die sonstige Natur gestellt: er soll „Herr über die Geschöpfe“ (S. 32) sein. Dies meint nicht, dass der Mensch willkürlich mit der Natur umgehen dürfe, sie zum eigenen Belieben benutzen könne, sondern er soll sich „wie ein Herr“ verhalten: „ehrenhaft und sittsam, indem er alle Geschöpfe ihrem Nutzen und Frommen gemäß verwendet“ (S. 33). Gerade weil der Mensch Vernunft besitzt, wird er die Natur nicht ausbeuten, sondern sich als Mitschöpfer an der Welt Gottes verstehen. Zu interpretieren ist dies im Sinne des Schöpfungsauftrages im 1. Buch Mose: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ Herrscht so ein (gebundenes) Überlegenheitsverhältnis der Menschen gegenüber der sonstigen Natur, so gilt für die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen Gleichheit. Der Mensch hat hier die Aufgabe, „deutlich über sich selbst und über alle anderen Bescheid“ (S. 33) zu wissen. Der dritte Aspekt der Stellung des Menschen macht seine Unterordnung unter Gott aus. Es ist sein Ziel, und die Erziehung der Kinder soll ihren Beitrag dazu leisten, dass der Mensch „Gottes Ebenbild“ (S. 32) wird. Aber der Mensch ist nicht Gott; der „Klumpen Lehm“ bindet ihn an die Welt und an die körperlichen Triebe. Erst nach seinem Tod wird der Mensch in seine dritte „Wohnstätte“ (nach Mutterleib und Erde) eintreten. Die Unterordnung des Menschen unter Gott zeigt sich in seiner „Frömmigkeit“, die „eine gefällige, freundliche und beständige Hinwendung unseres Herzens auf Gott“ (S. 172) meint. Dabei kann der Mensch Gott auf dreifache Art und Weise erfahren - und hier schließt sich der Kreislauf, weil diese drei Wege sich mit der grundlegenden Stellung und Aufgabe des Menschen decken: er kann Gott in der Natur erleben und durch die Erforschung der Natur verstehen; er kann durch die Kenntnis des Menschen, insbesondere durch seine eigene Innenschau (Gewissen) Gott erfahren; und schließlich liegt in der Bibel Gottes unmittelbare, wörtliche Offenbarung vor ihm. Wir fügen hier noch einen Hinweis ein, der vielleicht etwas gewagt ist, der aber den Grundgedanken Comenius in unsere Zeit übersetzen kann: Gerne wird heutzutage davon gesprochen, dass die Ziele der Erziehung auf drei Ebenen zu betrachten seien, kurz gesagt im Denken, Fühlen und Handeln. Denken meint in der Sprache Comenius der Mensch als „vernünftiges Geschöpf“, Fühlen seine Ebenbildlichkeit Gottes und Handeln das „Herr über die Geschöpfe“ Sein.

·      Erziehungsbegriff

Jede pädagogische Konzeption, die einen eigenständigen Erziehungsbegriff entfalten will, muß zuvor die Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsmöglichkeit des Menschen erklären. Johann Amos Comenius steht dazu noch nicht der Begriffsapparat und die Fülle empirischer Untersuchungen zur Verfügung, auf die wir zurückgreifen können, seine diesbezüglichen Gedanken vermitteln aber auch heute noch eine grundsätzliche Durchdringung des Themas. Jeder Mensch bedarf der Erziehung, weil er ohne sie seine eben geschilderte dreifache Stellung zu sich selbst, zur Natur und zu Gott nicht ausfüllen kann. Erst durch die Erziehung wird der Mensch zum Menschen. Dabei muss diese Erziehung in der Kindheit und Jugendzeit erfolgen, (1) weil der Mensch nicht weiß, wie lange er lebt, (2) weil es ein differenziertes und umfängliches Programm ist, auf das der Mensch vorbereitet werden muss, (3) weil die ersten Prägungen, die ein Mensch erhält, besonders wirksam sind, während grundlegende Veränderungen im Erwachsenenalter nur schwer zu erreichen sind. Der Mensch ist aber nicht nur erziehungsbedürftig, sondern auch erziehungsfähig: „In die Natur einer jeden Sache hat Gott die Wirkfähigkeit hineingelegt, das wirklich zu sein, was sie ist und wozu er sie erschaffen hat. ... Und so trägt auch der Mensch die Wurzeln der Erleuchtung, der Tugend und der Frömmigkeit ...  in sich ... Deshalb ist es nicht notwendig, in den Menschen etwas von diesen Merkmalen der Menschlichkeit hineinzutragen: Sie sind schon von Natur aus in ihm selbst vorhanden“ (S. 35).

Das letzte Zitat leitet über zu dem Erziehungsbegriff Johann Amos Comenius. In der Überschrift zu diesem Kapitel ist es so ausgedrückt: „Man kann ja auch gar nichts anderes tun, als der Natur beim Gebären zu helfen“. (1965; S. 197/199) Gegen zwei Seiten muss er sich gleichzeitig absetzen: Auf der einen führen alle Konzepte, die nicht davon ausgehen, dass die Selbstwerdung des Kindes in ihm angelegt ist, sondern dass der Neugeborene ein Nichts und Niemand sei - oder noch mehr: ein unziviliertes, dummes Bündel von triebhaftem Egoismus, - zu einer manipulierenden Gewalt über das Kind. Der Erwachsene wähnt sich als Schöpfer des Menschen, als könne er dem „Klumpen Lehm“ Seele und Geist von Außen einhauchen. Doch jeder Mensch ist Ebenbild Gottes, und dieses gilt es herauszuheben, damit ein Kind zu sich, zu seiner Menschlichkeit gelangen kann. Auf der anderen Seite muss Johann Amos Comenius sich gegen Konzepte wenden, die heutzutage in antipädagogischen Vorstellungen ihren Ausdruck finden: Wenn alles in der Natur des Kindes vorhanden ist, warum dann erziehen? Comenius schreibt, „daß die Jugend, die Bäumchen des göttlichen Paradieses, nicht von selbst wie das wilde Gehölz im Wald heranwachsen kann, son­dern daß sie wie die Obstbäume gepflanzt, veredelt und in ihrem Wachstum vorsichtig gefördert werden muß." (1632; S. 54) Weil den Menschen die Vernunft, sein verantwortungsvolles Handeln und sein Hinstreben zu Gott auszeichnen, entfaltet sich seine Menschlichkeit nicht von allein, naturwüchsig, sondern nur mit Hilfe der „Erziehungskunst“ (wie man dies später nennen wird). Erziehung hat die Aufgabe: die jungen „Menschen vor Ansteckung und Fäulnis in der Welt zu beschirmen; sie in dem Guten zu erhalten, dessen Samen in ihr Herz gelegt ist, und sie zu glücklichem Wachstum anzuregen.“ (S. 12). Nochmals: Erziehung bewegt sich zwischen den beiden Polen der Allmächtigkeit und der Ohnmächtigkeit. Wird ausschließlich die aktive Tätigkeit der Erwachsenen gesehen, wird Erziehung zur Manipulation und gewalttätigen Unterdrückung der Kinder (wie kinderfreundlich auch immer die Methoden sein mögen); wird andererseits Erziehung überhaupt abgelehnt, gerät das Kind in die Gefahr der Vernachlässigung, so dass es seine spezifische Menschlichkeit nicht ausprägen kann. Vernunft, verantwortliches Handeln und Glaube sind zwar in dem Kind angelegt, aber zu ihrer Realisierung müssen sie durch Erziehung erst noch entfaltet werden.

Allen alles auf leichte und gründliche Art zu lehren - dies ist der Kern des Erziehungsprogramms Johann Amos Comenius. „Alles“ zu lehren meint nicht ein umfassendes, aber oberflächliches Wissen aller möglichen Gegenstände. Dies wäre weder möglich noch sinnvoll. Sondern die Erziehung soll zu einem Denken, Fühlen und Handeln befähigen, das sich an den drei oben beschriebenen Aufgaben des Menschen orientiert. „Alles“ bedeutet, einen Überblick über das mögliche Wissen, eine Systematik zu gewinnen, in den wesentlichen Kern einer Sache einzudringen und die Kenntnisse an den wichtigen Handlungszielen des Menschen auszurichten. Radikal ist Johann Amos Comenius in seiner Forderung, bei der Erziehung weder soziale noch geschlechtsspezifische Unterschiede zu machen: Allen Kindern ist alles zu lehren, denn alle sind Menschen und „bei Gott gibt es kein Ansehen der Person“ (S. 59). Ausdrücklich bezieht er die Mädchen in seine Forderung nach allgemeiner Schulbildung ein: „Warum will man sie ... allein mit dem ABC abspeisen, und warum sollen sie weiterhin von den Büchern vertrieben werden? Fürchten wir uns vor ihrer Neugier?“ (S. 60). Radikal ist er auch in seiner Forderung nach einer gemeinsamen Erziehung aller Kinder. Weil die Forderung nach Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder gegenwärtig eine Rolle spielt (was gleichzeitig anzeigt, wie wenig selbstverständlich sie ist) fügen wir die diesbezügliche dreifache Begründung des Johann Amos Comenius hier abschließend an: „1. Alle Menschen, welches Gehabe sie auch an sich tragen, sind doch von menschlicher Beschaffenheit und derart ausgestattet, daß sie Menschen sind ... 2. Alle sollen einem Ziel, nämlich der Heiligkeit, der Tugend und der Weisheit zugeleitet werden. 3. In sich und außer sich sollen sie zu einem Gleichgewicht gebracht werden." (S. 80)

·      Erziehungsmethode

Einen breiten Raum nehmen in der Böhmischen Didaktik die methodischen Hinweise ein, die anzugeben versuchen, wie das Lernen zu gestalten sei, damit es für das Kind leicht und trotzdem gründlich erfolgen kann. Dabei begründet Johann Amos Comenius seine Grundsätze mit Analogien aus dem nicht-pädagogischen Bereich: der Natur der Vögel, dem Hausbau, der Veredelung von Obstbäumen. Einiges Zeitbedingte findet sich unter den Vorschlägen zur didaktisch-methodischen Reform der Erziehung. Dies wollen wir nicht weiter beachten. Andere Gedanken jedoch sind zu grundlegenden Bestandteilen der Erziehung und Bildung geworden, die sich in der Geschichte der Pädagogik bis heute immer wieder auffinden lassen. Da dies nicht bedeutet, dass diese Prinzipien in der Praxis durchgängig realisiert werden, bieten sie auch heute noch Gelegenheit, die Erziehungswirklichkeit selbstkritisch zu reflektieren. Einige der methodischen Hinweise des Comenius an dieser Stelle beispielhaft zu erwähnen, mag deshalb von Nutzen sein:

·       Erziehung muss sich an dem „Fassungsvermögen des jeweiligen Alters“ (101) orientieren, d.h. der Erzieher darf nicht zu viel auf einmal vermitteln wollen (vier Stunden Unterricht am Tag - durchgängig für alle Schularten - hält Comenius für hinreichend);

·       erst „die Dinge und hernach die Sprachen“ (S. 103) lehren, eine Forderung, die angesichts des unendlichen Wortschwalls dem Kinder heute schon im Kindergarten ausgesetzt sind, von Interesse ist (wir werden bei Johann Heinrich Pestalozzi darauf zurückkommen);

·       das Ganze vor den Teilen vermitteln, d.h. nicht mit irgendwelchen Kinkerlitzchen beginnen, in der Hoffnung irgendwann würden die Kinder sie als Erwachsene zusammenfügen können, sondern ein „organisches“ Lernen, das von dem zusammenhängenden Ganzen ausgeht, bevor es dieses differenziert;

·       „vom Leichten zum Schweren“, vielleicht wirklich eine Selbstverständlichkeit, weshalb wir die Konkretisierung hinzugeben, die Johann Amos Comenius an dieser Stelle gibt: „Künftig sollen Lehrer und Schüler eine Sprache sprechen, damit sie einander verstehen“ (S. 118); und schließlich

Es gilt die übliche "Meinung, nach der die Lehrer nichts anders vorzutragen wissen als in Form von Gefasel und nicht anders zu locken verstehen als durch Stöße, Faustschläge und mit der Rute. Wem sollte das nicht bitter ankommen? Aber mit Gottes Hilfe lassen sich Wege finden, daß der Jugend das Lernen nicht bitterer erscheint als Lebkuchen und Zuckerlecke, als Nüsseknacken und Erdbeerpflücken, nicht bitterer, als wenn sie in ihrer Lebhaftigkeit Pferdchen spielen und allerlei Märchen aufführen, auf dem Jahrmarkt umherschauen, Maulaffen feilhalten oder hübsche Geschichten anhören. Dies ist möglich, weil die verschiedenen Wissenschaften ja gar nichts anderes sind als Lockmittel für den menschlichen Scharfsinn, Leckerbissen und höchst angenehme Vergnügungen." (1632; S. 114)

·       Lernen in Bedeutungszusammenhängen „wozu es nutze ist“ (S. 123).

Die Fülle der Einzelhinweise des didaktisch-methodischen Reformprogramms Johann Amos Comenius mögen manchmal banal und zufällig erscheinen, und sie können leicht von dem ablenken, was den grundsätzlichen Kern seines Erziehungsbegriffs ausmacht. Deshalb lenken wir nochmals darauf zurück. An einer Stelle schreibt er: „Weshalb soll ich mich mit fremden Federn schmücken, wenn ich eigene habe? Wes­halb soll ich mit fremden Augen sehen, wenn ich selbst Augen besitze? Weshalb soll ich mit einem fremden Verstande verstehen; ich habe doch meinen eigenen? So wurde es allerdings bisher gemacht: Mit fremden Füßen liefen sie, mit fremden Augen sahen sie, mit fremdem Verstande verstanden sie, aus fremden Quellen tranken sie." (S. 128) Darum geht es in der Erziehung: die Selbstwerdung der Kinder zu unterstützen. Alles was wir als Erwachsene einem Kind anbieten, ist nicht mehr als Nahrung (wenngleich existentiell notwendige Nahrung), die das Kind selbst essen, verdauen und zu seiner Stärkung nutzen muss. Sie dient nicht primär dazu, damit ein Kind den vorgesetzten Inhalt reproduzieren kann, sie dient nicht dazu, damit das Kind in die Gesellschaft sozialisiert wird, sondern sie dient zum Aufbau der individuellen Persönlichkeit dieses Kindes, eine Arbeit, die nur es selbst leisten kann. Wenn wir in diesem Buch Inhalte aus der Geschichte des pädagogischen Denkens Erzieherinnen, Sozial- und Heilpädagogen, Lehrern anbieten, dann ist das im Sinne dieser Nahrungsvorstellung zu verstehen: Material zur Auseinandersetzung, um die eigene Erziehungsvorstellung entfalten zu können. Der Autor eines Buches hat es nicht in der Hand, was seine Leser daraus machen (und er sollte dies auch nicht wollen), und ein Erwachsener hat es nicht in der Hand, was ein Kind aus seinen Erziehungsbemühungen macht, wie es sie annimmt, unberücksichtigt lässt oder ins Gegenteil verkehrt (und er sollte es auch nicht wollen).

c) Didaktische Konkretisierungen

·      Informatorium der Mutterschul

Gleichzeitig mit den Arbeiten an den ersten Schulbüchern und dem zusammenführenden System der Böhmischen Didaktik beschäftigt sich Johann Amos Comenius in einer kleinen Schrift mit der Erziehung und Bildung der Kinder von der Geburt bis zu ihrem sechsten Lebensjahr. Er hat zum zweiten Mal geheiratet, und die ersten beiden Mädchen dieser Ehe sind geboren. Sie im Exil aufwachsen zu sehen, stellt den persönliche Erfahrungshintergrund für das Büchlein dar. Hinzu kommt die bildungspolitische Motivation: Durch eine veränderte Erziehung soll die Grundlage für eine bessere Gesellschaft geschaffen werden, die man nach dem Krieg in der alten Heimat aufzubauen hofft; und Comenius weiß, dass eine grundlegend reformierte Schulbildung auf einem Fundament frühkindlicher Erziehung ruhen muss. Ihr wendet er sich in dem „Informatorium der Mutterschul“ (1633a) zu. Das Wort „Schule“ in dem Titel mag für unser Verständnis missverständlich sein: Es geht nicht um eine institutionelle Bildung kleiner Kinder, sondern um deren Erziehung in der Familie. Den Eltern soll eine Anleitung dazu gegeben werden, ihre wichtige Aufgabe sinnvoll wahrnehmen zu können. Wenn Johann Amos Comenius dabei alle möglichen Wissensbereiche bis ins einzelne auf die verschiedenen Lebensjahre verteilt und auflistet, so erscheint dies zeitbedingt und für den Leser heute nur noch als Kuriosität interessant. Doch die Schrift enthält auch einige grundlegende Aussagen, die unverändert zur Auseinandersetzung einladen. Auf diese wollen wir uns im folgenden beziehen.

Auf den ersten Blick mag die frühkindliche Erziehung unbedeutend erscheinen: Latein kann man ihnen noch nicht beibringen, wissenschaftlicher Unterricht ist nicht möglich, über Gott, die Welt, den Menschen und die Zukunft lässt sich mit ihnen, die in ihrer kleinkindhaften Welt egozentrisch eingeschlossen sind, nicht reden. Also ist sie kein Gebiet für gelehrte Männer; unausgebildete Ammen mögen sie beaufsichtigen, damit sie das reale Leben nicht stören. Doch diesem langläufigen Vorurteil steht die entwicklungspsychologische Erkenntnis der Bedeutung frühkindlichen Lernens gegenüber: „The first cut is the deepest“, heißt es in einem Schlagertext. In der Sprache Johann Amos Comenius: „einen krumm gewachsenen Baum gerade zu machen und aus einem verwachsenen Walde einen Baumgarten zu machen, ist fast unmögliche Arbeit“ (ebenda; S. 26).

Die grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Erwachsenen und Kindern, die Johann Amos Comenius in dieser Schrift aufzeichnet, weist noch tiefer in die Begründung der Bedeutung frühkindlichen Lernens hinein. Kinder sind eine Kostbarkeit, „ein teures Kleinod“ (S. 18), das Gott den Eltern zur Erziehung gegeben hat, damit sie auf diese Weise an seiner Schöpfung mitarbeiten können. Kinder sind deshalb nicht das Eigentum der Eltern, über das sie gemäß ihrer Interessen verfügen können (als Spielzeug, Projektionswand für eigene unerreichte Wünsche, lästige Störenfriede), sondern sie stehen in ihrer unmittelbaren Beziehung zu Gott mit den Eltern auf der gleichen Stufe. Der Erwachsene hat eine dienende Funktion in der Erziehung seiner Kinder, die auf deren Entwicklungsinteressen bezogen ist und sich nicht von einem Erwachsenenzentrismus aus bestimmt. Dabei können die Eltern von der Beziehungsgestaltung zu ihren Kindern selbst profitieren, werden ihnen hierdurch doch positive Eigenschaften abverlangt, die in dem üblichen gesellschaftlichen Verkehr zu kurz kommen: die Kinder sind „Spiegel der Demut, Sanftmut, Gütigkeit und Versöhnlichkeit“ (S. 21).

Um die Aufgaben der frühkindlichen Erziehung in richtiger Weise auszuloten, müssen die Eltern zwei zeitliche Dimensionen gleichermaßen in den Blick nehmen: ihre Gegenwart und ihre Zukunft: Die Kinder sind zu sehen als das, „was sie schon itzo sind“, und als das, „was sie dermaleinst werden sollen“ (S. 18). Kinder sind Kinder, sie leben in der Gegenwart, freuen sich oder sind traurig. Dieses Hier und Jetzt ist keine Nichtigkeit, kein Zustand, den es schnell zu überwinden gilt, sondern in ihrer unbekümmert fröhlichen Lebensweise liegt viel Menschlichkeit, die es zu bewahren gilt. Comenius spricht deshalb von dem Kind als „teurem Kleinod“, das sie sowohl den Eltern als auch Gott selbst sind. Doch der Bezug auf die Gegenwart ist nur die eine Seite des pädagogischen Blicks. Die andere - und Johann Amos Comenius diskutiert noch nicht das Spannungsverhältnis zwischen beiden - liegt in der Bedeutung der Erziehung für die Zukunft des Kindes. Den Menschen kennzeichnet seine von Gott kommende und zu Gott wieder zurückkehrende „Seele“. In ihr liegt seine Gottebenbildlichkeit, und die Erziehung muss das Kind hinaufführen „zu höheren Dingen“ (S. 21). Glaube, Sittlichkeit, Erkenntnis - wir stießen bei der Böhmischen Didaktik schon auf diese Dreiteilung - sind die Aspekte, die das Wesentliche des Menschen ausmachen. Sie sind in jedem Menschen von Natur aus angelegt, doch ihre Entfaltung ergibt sich nicht von selbst, sondern muss durch Erziehung herausgehoben werden: „Es soll aber niemand denken, daß die Kinder von sich selbst zur Frömmigkeit, Ehrbarkeit und Kunst gelangen mögen ohne fleißige und unnachlässige Mühe und Arbeit, so an sie muß gewendet werden.“ (S. 23)

Nachdem Johann Amos Comenius die Bedeutung der frühkindlichen Erziehung grundlegend bestimmt hat, differenziert er deren Aufgaben in sechs Bereiche aus: Gesundheits-, Verstandes-, Tätigkeits-, Sprach-, sittliche und religiöse Erziehung. Wir wollen dies hier nicht nachzeichnen, sondern die Aufmerksamkeit nur noch auf drei Aspekte lenken: Erstens: Erziehung beginnt für Johann Amos Comenius nicht erst mit der Geburt, sondern er bezieht die vorgeburtliche Phase ausdrücklich mit ein: „Wenn eine christliche Matron merket, daß Gott der Schöpfer aller Dinge in ihrem Leibe anfängt zu formieren“ (S. 30), beginnt die Sorge der Mutter, aber auch des Vaters für das Kind. Durch ihre innere Einstellung (Gebet), sollen sie sich auf das Kind vorbereiten, die Mutter soll Vorsichtsmaßregeln beachten, damit sie das werdende Kind nicht schädigt, und in der Äußerung ihrer Emotionen soll sie sich bewusst sein, dass diese unmittelbar auf den Embryo wirken. Denn für all ihr Tun gilt die Begründung: „wie sie in solcher Zeit selbst ist, also wird hernach das Kind auch werden“ (S. 32).

Zweitens: Deutlich erkennt Comenius, dass Bewegung und Spiel charakteristische Äußerungsformen in der frühen Kindheit sind. Diese müssen nicht nur als notwendiges Übel toleriert werden, sondern durch die Bereitstellung von geeigneten Materialien, die die Gegenstände des Erwachsenenlebens nachbilden, durch eine tolerante Haltung der Erwachsenen, die den Aktivitätsdrang der Kinder unterstützt, und durch das gemeinsame Spiel der Eltern mit den Kindern sollen sie gefördert werden: „Womit nur die Kinder spielen wollen und ohne ihren Schaden können, das soll man ihnen lieber helfen, denn wehren, weil Müßiggehen dem Leben und auch dem Gemüte schädlich ist.“ (S. 44)

Drittens: Begründet Comenius bis hier her ein Programm frühkindlicher Erziehung zu Beginn der Neuzeit, das eine Orientierung auf kindliche Bedürfnisbefriedigung und die Selbstentwicklung des einzelnen Kindes erkennen lässt, so darf auch die andere Seite nicht verschwiegen werden. Deutlich wendet er sich gegen „etlicher Eltern Affen- und Eselsliebe“ (S. 55), die den Kindern in allem nachgeben und sie deshalb nicht erziehen. Denn Erziehung hat es für ihn immer auch mit „Zucht“ zu tun, die „unterweilen auch zu Hülf genommen werden“ muss. Kinder die „etwas Ungebührliches oder Boßhaftiges“ tun, muß man „anschreien“ und - wenn auch dies nichts hilft - „mit der Ruten zuschmeißen oder mit der Hand klopfen“ (S. 54f).

·      Orbis sensualim pictus


„Man hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder veranstaltet. ... Außer dem Orbis pictus des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände“ (Goethe, Bd. 30; S. 49), so schreibt Johann Wolfgang von Goethe in seinem Lebensrückblick „Dichtung und Wahrheit“. In seiner Kindheit ist der „Orbis sensualium pictus“ (1658) bereits über 100 Jahre alt, und bis in unsere Zeit hinein hat er unzählige Neuauflagen und Bearbeitungen erfahren. In der didaktischen Ausgestaltung erscheint er noch heute, nach fast 350 Jahren, modern. Der Hauptteil des Buches besteht aus 150 Doppelseiten, die unter einer thematischen Überschrift jeweils eine Abbildung enthält. Alle Bereiche des menschlichen Wissens werden so dargestellt. Es beginnt mit Gott, Welt und Himmel sowie den vier Grundelementen, geht über die Metalle, Pflanzen und Tiere hin zu den Menschen, den materiellen und sozialen Bestandteilen ihres Lebens und endet kreisförmig in der Darstellung des Jüngsten Gerichts. An den passenden Stellen jedes Bildes sind kleine Ziffern angebracht, die auf Beschreibungen in dem nebenstehenden Textes verweisen. Hier sind die erklärenden Wörter aufgelistet, häufig verbunden mit der kurzen Erwähnung der Bedeutung, Ursache oder Folge der jeweils dargestellten Sache. Der Text ist in zwei Spalten geteilt, so dass den deutschen Ausdrücken die lateinische Übersetzung gegenübergestellt werden kann. Diesem Hauptteil der 150 Abbildungen und Beschreibungen ist ein Alphabet vorangestellt, das neben den einzelnen Buchstaben das Bild eines Tieres zeigt, dessen Geräusch diesen Buchstaben charakterisiert. Eingerahmt ist der gesamte Text durch die wiederholende Darstellung des hier wiedergegebenen Bildes. Es zeigt einen Lehrer im Dialog mit seinem Schüler (charakteristischer Weise in der freien Natur und nicht in miefiger Schulstube). In dem Text zu dem einleitenden Bild verspricht der Lehrer dem Kind: „Ich will dich führen durch alle Dinge, ich will dir zeigen alles, ich will dir benennen alles“ (ebenda; S. 3), und auf dem letzten Bild verabschiedet er sich mit Ermahnungen für das weitere Leben und der Grußformel: „Lebe wohl!“ (S. 309). Diesem Buch für die Kinder ist ein Vorwort für den erwachsenen Leser vorangestellt, in dem Comenius seine didaktischen Absichten und die Einsatzmöglichkeiten des Orbis sensualium pictus in der Praxis präzisiert. Auf dem Titelblatt des Buches befindet sich der Spruch, mit dem Comenius die Herausgabe seiner didaktischen Arbeiten versieht: „Omnia sponte fluant, absit violentia rebus“ - Alles fließe von selbst, Gewalt sei fern den Dingen.



Der Orbis sensualium pictus ist so aufgebaut, dass er das Kind dessen gesamte Kindheit hindurch begleiten kann: Das kleine Kind kann ihn als Bilderbuch benutzen, und die differenzierte, feingliedrige Darstellung bietet viele Gelegenheiten, immer wieder etwas Neues zu entdecken. Wenn das Kind in die Schule kommt, kann es auf Grund des beigefügten Alphabets und der drucktechnisch herausgehobenen Bildüberschriften und Hauptwörter lesen lernen, und später wird es die vielschichtigen und umfangreichen Beschreibungen als Grundlage dafür nutzen können, was es im Sachkundeunterricht lernen soll. Das ältere Kind schließlich wird sich das Buch ein weiteres Mal vornehmen, und auf Grund der gegenüberstehenden Übersetzungen sich die lateinische Sprache aneignen. Ein solch schön gestaltetes Buch durchzublättern, in ihm zu lesen, die Bilder mit dem zu vergleichen, was man kennt, aber auch hinter die Kulissen blicken zu können (z.B. durch die Haut auf das menschliche Skelett), macht Spaß, und Johann Amos Comenius nennt in seinem Vorwort als den ersten Zweck des Buches: „die Gemüter herbey zu locken, daß sie ihnen in der Schul keine Marter, sondern eitel Wollust, einbilden“. (ebenda)

350 Jahre nach der ersten Veröffentlichung des Orbis sensualium pictus sind unsere technischen Möglichkeiten der Buchproduktion enorm vervielfacht, neue Medien - von der Tonkassette über das Fernsehen hin zum Computer - sind hinzugekommen. Es ist nicht mehr nur das eine Kinderbuch, das den Kindern zur Verfügung steht. Die neuen Techniken können eine Chance darstellen, Kindern die Welt so zu zeigen, dass sie deren wahrnehmungsmäßige und kognitive Strukturen ebenso wie ihre emotionalen Bedürfnisse und intellektuelle Neugierde treffen. Doch ein Vergleich zwischen unserem Medienangebot für Kinder und dem alten Buch des Comenius zeigt, dass wir noch immer etwas von ihm lernen können, vor allem von seiner didaktisch-methodischen Durchdringung. Da ist zunächst die Sorgfältigkeit, mit der das Buch gearbeitet ist: nicht billiger Kinderkitsch, auf Effekthascherei ausgerichtet, sondern ein bis in die Feinheiten der Drucktechnik hinein wohl durchkomponiertes Buch.

Aufgebaut ist es nicht wie ein Kinderlexikon nach der Willkürlichkeit des Alphabets, sondern durch ein organisches Ordnungsprinzip, bei der zunächst das Ganze dargestellt wird, das sich danach differenziert: Gott, der die Welt, die Pflanzen, die Tiere und schließlich den Menschen erschaffen hat, der zu Gott zurückkehren wird; der Mensch in seinen sich entwickelnden körperlichen und psychischen Teilen muss sich ernähren, arbeiten und zu seinen Mitmenschen vielfältige (private bis politische) Beziehungen aufbauen. Ein kleines Kind kann diese Ordnung nicht verstehen, ebenso wenig wie es die Vielfältigkeit der Welt begreift; doch es kann unbewusst die Ordnung aufnehmen und so die Gewissheit gewinnen, dass sich das Alles, was von ihm jetzt noch unverstanden ist,  in den Griff bekommen lässt und dass dies gar nicht so schwierig ist. Das Kind kann so Vertrauen haben, dass sein Nichtwissen sich in Wissen wandeln wird. Die undurchschaubare Welt kann ihren Schrecken verlieren, denn sie ist ja in dem Buch des Kindes gebannt.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der die Didaktik Comenius und die Konkretisierung im Orbis sensualium pictus kennzeichnet, ist die zentrale Bedeutung der Anschauung. Kleine Kinder lernen wesentlich dadurch, dass sie über die Sinne die große Welt in ihren Kopf hineinholen. Abbildungen sind dafür nur ein Ersatz, und Johann Amos Comenius betont deswegen, dass - wo immer möglich - reale Gegenstände den Kindern gezeigt werden sollen. Doch die Bilder bieten die Chance, auch Gegenstände, die in der anschauenden Wirklichkeit nicht vorgeführt werden können, zu versinnlichen - das menschliche Nervensystem, das Skelett, die inneren Organe beispielsweise. Darüber hinaus können sie abstrakte Begriffe versinnbildlichen - menschliche Eigenschaften, sittliche Fragestellungen und selbst Gott. Erst wenn das Kind einen wahrnehmungsmäßigen Eindruck gewonnen hat, ist es sinnvoll - dann aber auch notwendig - ihm das dazugehörige Wort zu vermitteln. Ansonsten bleiben die Wörter für das Kind leerer Schall. Mit einem Satz Johann Amos Comenius ausgedrückt: „Wir sollen die Kinder unter der Führung der Dinge die Worte lehren“ (1965; S. 259). Als letzten Punkt, in dem der Orbis sensualium pictus uns heute Anregungen zur Medienproduktion für Kinder vermitteln kann, möchten wir sein Bemühen um Heraushebung des Wesentlichen erwähnen: nicht Dinosaurier, Hexen und Zwerge, nicht Nebensächlichkeiten der Dinge, die ein unverhältnismäßig hohes Gewicht bekommen, sondern die wirkliche Welt wird in den Proportionen dargestellt, die sie der menschlichen Realität und seiner Glückseligkeit nach haben. Dazu gehört auch, auf die Ursache und den Zielpunkt der Welt und des Menschen hinzuweisen.

d) Pampaedia

Amsterdam ist eine Stadt der Toleranz, die viele Emigranten aufzunehmen bereit ist. 13 Jahre nach dem Tode Comenius wird es John Locke sein, den wir weiter unten beschreiben, jetzt ist es der heimatlose, 64-jährige Johann Amos Comenius. Hier genießt er hohes Ansehen der Universität und des Rates der Stadt; er und seine Familie sind finanziell abgesichert, und sogar Gehilfen kann er für die Mitarbeit an seinen letzten Schriften beschäftigen. Vor allem geht es um die Herausgabe des großen zusammenfassenden Werkes: „Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge“. Die Welt bedarf einer grundlegenden Reform, um einen Weg aus der Sackgasse des Krieges, der Ausbeutung und Verzweiflung herauszufinden. Die Pädagogik ist in dieses große Unternehmen eingeordnet - unter der Überschrift „Pampaedia“ als viertes der insgesamt sieben Bücher. Klaus Schaller, der wichtigste deutschsprachige Comeniusforscher in unserer Zeit, bezeichnet den Weg von der Böhmischen Didaktik hin zur Pampaedia als „Weg von der Didaktik zur Pädagogik“ (Schaller 1963; S. 4), weil Comenius hier über „das Technisch-Handwerkliche des Unterrichts“ (ebenda; S. 7) hinausgehe und auf das Ganze - Gottes, der Welt und des Menschen - gehe. Die Sprache des Johann Amos Comenius gewinnt in der Pampaedia und in der Allgemeinen Betratung insgesamt oftmals prophetische Züge: der alte Mann, gezeichnet von vielen Enttäuschungen, Erfahrungen des Krieges und Leides, lässt die Fallstricke des schlechten Weltzustandes hinter sich, um den Blick frei zu bekommen für die möglich bessere Welt. Darüber hinaus ist die Pampaedia ein klar strukturiertes Buch, dessen Hauptlinien abschließend dargestellt werden sollen.

·      Allen alles gründlich lehren

„Pampaedia meint die auf jeden einzelnen des ganzen Menschengeschlechts bezogene Pflege. Sie richtet sich in ihren Maßnahmen nach dem Ganzen und führt den Menschen in die Vollkommenheit seines Wesens ein. ... Durch Paedeia werden die Menschen aus dem Zustand der rohen Unvollkommenheit herausgeführt. Pan meint nun den Bezug zum Ganzen. So geht es hier also darum, daß dem ganzen Menschengeschlecht, das Ganze, gründlich ... gelehrt werde.“ (1965; S. 15)

In drei Hauptteile gliedert sich die Pampaedia: In dem ersten wird ihre grundlegende Zielsetzung beschrieben (Alles, allen gründlich lehren), im zweiten geht es um die Voraussetzungen, die für dieses Ziel notwendig sind (Schule, Bücher und Lehrer), und in dem dritten werden für die sieben Altersstufen des Menschen die jeweiligen Aufgaben konkretisiert (von der vorgeburtlichen Phase bis zum Greisenalter). Drei Wörter kennzeichnen das Ziel, um das es in der Pädagogik geht: „Omnes (d.h. alle Menschen), „Omnia“ (sind auf Alles, das auf das Ganze bezogen ist,) „Omnino“ (von Grund auf vorzubereiten). Für alle drei Aspekte wird jeweils begründet, warum sie notwendige Ziele darstellen, und dass ihre Erreichung den Menschen möglich, sogar leicht möglich ist, weil sie dem von Gott geschaffenen, natürlichen Wesen des Menschen eigentümlich sind.

Ohne Ausnahme alle Menschen sind zu erziehen, weil dies der dem Menschen von Gott gegebenen Würde entspricht: „Wo Gott keinen Unterschied gemacht hat, da soll auch der Mensch keine Schranken aufrichten“ (1965; S. 31). Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild, lebt in der gemeinsamen Welt und strebt zur Ewigkeit hin. Das Ziel der gemeinsamen Erziehung aller Menschen ist erreichbar, weil jeder Mensch durch seine Sinne, seinen Verstand und seinen Glauben die „Werkzeuge“ in sich hat, um die drei „Bücher Gottes“ (S. 35) - die natürlich geschaffene Welt, die Sittlichkeit des sozialen Zusammenlebens und die Offenbarungen der Bibel - verstehen zu können. Jedem Menschen ist es von Natur aus eigen, dass Gute zu wollen, das Wahre zu denken und das Richtige zu tun, und die pädagogische Aufgabe besteht nur darin, die Hindernisse zu beseitigen, die sich dem Drang der guten Natur entgegenstellen, und Hilfsmittel anzubieten, durch die jeder Mensch zu seiner positiven Selbstbestimmung heraufwachsen kann. „Omnia“ - diese Forderung steht gegen die Vorrangstellung einer standesmäßigen oder berufsspezifischen Beschränkung der Erziehung und für die allgemeine Grundbildung aller Menschen.

„Omnia“ - was ist „das Ganze“, auf das hin die Erziehung aller Menschen ausgerichtet sein muss? Der Mensch ist Gottes Ebenbild, und wenn er auch nicht werden kann wie Gott, so ist es doch sein Ziel, sich den Eigenschaften Gottes (Allwissenheit, Allmächtigkeit, Allheiligkeit) anzunähern. Die entsprechenden Fähigkeiten, die den Menschen vor den Tieren auszeichnen, sind sein Wissen, sein einsichtsvolles, selbstbestimmtes Handeln und sein Sprechen über Hintergründe und Absichten seines Tuns. Auf die Ausbildung dieser drei Fähigkeiten muss die Pädagogik sich beziehen, wobei jene sich auf wiederum drei Bereiche des menschlichen Umgangs beziehen: (1) das Verhältnis zu „den niederen Geschöpfen“, (2) sein Bezug zu den anderen Menschen, „seinen wesensgleichen Brüdern“ (S. 53), mit denen er in Frieden und Freundschaft leben soll, und (3) sein Umgang mit Gott. Wir haben diese drei Bezugsebenen des Menschen schon bei der Beschreibung der Böhmischen Didaktik kennen gelernt.

Der Erziehungsprozess ist schließlich so anzulegen, dass jeder Menschen das Ganze auf gründliche Weise erlernen kann. Mit dieser Zielsetzung spricht Comenius eine Forderung an, die in unserer Zeit unter dem Stichwort „Ganzheitlichkeit“ diskutiert wird: „daß man von allem Stückwerk läßt, daß wir alle zu unserem ungeteilten, einfachen und gemeinsamen Erbe zurückkehren, wie es uns im Paradiese verheißen war“ (S. 99). Gemeint ist nicht, dass jeder einzelne über jeden Gegenstand bis ins Einzelne gehende Erkenntnisse gewinnen soll - das wäre weder möglich noch sinnvoll. Sondern es geht um die Einsicht in die grundlegenden Strukturen, damit jeder die Aufgabe erkennt, die ihm als Menschen obliegt. Johann Amos Comenius ist erstaunlich wenig an Standes- und Berufsbildung interessiert (sie gewinnt erst Bedeutung in einer bestimmten Lebensphase des Menschen), und ihn beschäftigen nicht die unterschiedlichen (Begabungs-) Niveaus, auf denen die Aneignung von Welt, Mensch und Gott einzelnen möglich ist. Sondern ihm geht es um die allen Menschen eigenen grundlegenden Denk-, Sprach- und Handlungsfähigkeiten, die im pädagogischen Prozess auszuprägen sind, damit jeder Mensch seine Bestimmung und sein Glück selbständig zu erreichen vermag.

·      Schulen, Bücher, Lehrer

Damit alle Menschen erzogen werden können, bedarf es der allgemeinen Einrichtung von Schulen; damit sie Alles lernen können, muss es umfassende und richtige Bücher geben; und um sie gründlich zu lehren benötigt man geeignete Lehrer. Mit diesen drei Themenkreisen beschäftigt sich Johann Amos Comenius in den folgenden drei Kapiteln. Schule wird von ihm dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden: das gesamte Leben ist eine Schule, „von der Wiege bis zur Bahre“, denn: „Jedes Lebensalter ist zu Lernen bestimmt, und keinen anderen Sinn hat alles Menschenleben und alles Streben“ (S. 117). Von diesem umfassenden Begriff der Schule hebt er den er „öffentlichen Schule“ ab, der in unserem Sinne das institutionalisierte Lernen der Kinder und Jugendlichen meint. Von der Methode her soll die Schule spielerisch sein, damit die Kinder nicht zum Lernen gezwungen werden, doch von den Inhalten her ist sie nicht Spielerei, Beschäftigung mit unwesentlichen, unbedeutenden Dingen, sondern eine sinnvolle Einführung „in die Aufgaben des Lebens“ (S. 125). Kindern soll wichtiges Wissen beigebracht werden, sie sollen in Sittlichkeit und Religiosität eingeführt werden, damit sie auf die kommende Praxis vorbereitet sind.

Damit Kinder auf das Ganze des Wissens, Handelns und Redens vorbereitet werden können, bedürfen sie geeigneter Bücher. Comenius verwendet das Wort „Buch“ zunächst in allegorischer Hinsicht, wenn er von den drei Büchern Gottes spricht, in denen der Mensch lesen soll: die Welt, der Geist, die Bibel. Damit der Mensch jedoch zu dem „Lesen“ in diesen drei „Büchern“ fähig wird, bedarf es vorbereitender Hilfsbücher, Schul- und Lehrbücher, für deren Abfassung Comenius zentrale Kriterien bestimmt. Diese lassen sich durch das weiter oben schon einmal benutzte Merkmal der „Bescheidenheit“ charakterisieren: wenige und kurze Bücher sollen es sein. In zwölf Grundsätzen bestimmt er Maßnahmen, die vor der Überschwemmung mit unnützen Büchern bewahren sollen (in einer Zeit wie der unsrigen, die an ihrer Informationsflut zu ersticken droht, sind sie nicht uninteressant zu lesen): Nicht „gekochten Kohl“ aufwärmen soll man, sondern nur „neue und gute Erkenntnisse“ (S. 151) veröffentlichen; klar und deutlich sollen die Bücher geschrieben sein, damit ihre Richtigkeit unmmittelbar einleuchte; „die Sache selbst muß vor Augen gestellt werden, nicht Meinungen darüber“ (S. 149); und: „Wer schreibt, schaffe ein Buch, keinen Lumpenrock.“ (ebenda)

Damit die Forderung, allen alles zu lehren, auf gründliche Weise geschehen kann, bedarf es geeigneter Lehrer, die ihr didaktisches Handwerkszeug verstehen und beherrschen. Alles muss der Lehrer unternehmen, damit für die Kinder das Lernen leicht und spielerisch vonstatten gehen kann. Dies ist dann möglich, wenn sich die Methoden an der kindlichen Natur ausrichten: Wenn bei der Erziehung die Verhaltens-, Denk- und Gefühlsweisen der Kinder beachtet werden, dann ist der von den Lehrern an sie herangetragene Inhalt eine willkommene „Nahrung“, die sie gerne annehmen und über die sie sich freuen. „Wer sich dagegen (gegen die Natur; S.H.) stemmt, segelt gegen die Strömung.“ (S. 201) Comenius zeichnet nicht nur in Bezug auf die didaktisch-methodischen Kompetenzen, sondern auch auf die Persönlichkeit der Lehrer ein hohes Ideal, die er sich wünscht „wie das Volk der Endzeit: erleuchtet, friedvoll, gläubig, heilig“ (S. 171). Dabei gilt für ihn der Grundsatz, dass, je jünger die Kinder sind, desto „weiser“ müssen die Lehrer sein. Dabei lässt er pragmatische Aspekte nicht außer Betracht, wenn er fordert: „man sollte ihn (den Lehrer der untersten Klasse; S.H.) durch bessere Bezahlung gewinnen“ (S. 283).

·      Lebensphasen



Im dritten Teil der Pampaedia konkretisiert Johann Amos Comenius die bisher vorgetragenen allgemeinen Gedanken für die einzelnen Lebensphasen. Er unterscheidet sieben Stufen, denen jeweils spezifische Aufgaben zukommen. Auffällig ist dabei zunächst, dass er die Pädagogik nicht auf die Kindheit und Jugendzeit beschränkt, sondern die Entwicklung des gesamten menschlichen Lebenslaufes von der Zeugung bis zum Tod umgreift.

1.    Die Schule des vorgeburtlichen Werdens“: Die befruchtete Eizelle ist „der Same Gottes“ (S. 223) und von Anfang an entsprechend zu behandeln.

2.    Die Schule der frühen Kindheit“ (Geburt bis zum 6. Lebensjahr): In ihr werden die Grundlagen für das ganze weitere Leben gelegt, und dieser Phase kommt deswegen besondere Bedeutung zu. Da den Eltern die Elternliebe angeboren ist, sollen sie sich vor allem selbst um die Erziehung ihrer Kinder kümmern, und erst in der zweiten Hälfte dieser Phase (vom 4. bis zum 6. Lebensjahr) sollen die Kinder in eine „halböffentliche Schule“ (S. 275) gehen, um gemeinsam mit anderen Kindern „unter der Aufsicht ehrhafter Frauen“ (ebenda) zu spielen und zu lernen.

3.    Die Schule des Knabenalters“ (6. bis 12. Lebensjahr): Hier wird die Grundlage für das spätere Lernen in der folgenden Schulstufe gelegt, wobei die Inhalte sich nicht unterscheiden, nur sollen sie auf dieser Schulstufe für alle Kinder „knapper, volkstümlicher und in der Muttersprache“ übermittelt werden. Aus der Definition „Kinder sind junge Menschen, die künftigen Nachfahren derer, die heute die Welt ... darstellen“ (S. 283) ergeben sich die wesentlichen Bestimmungen: (1) Kinder sind „zur Menschlichkeit“ zu führen, (2) sie müssen „als Kinder ... nach dem Vermögen ihres Alters“ behandelt werden, und (3) müssen sie herangezogen werden „zu dem, was für Männer wichtig ist“ (ebenda).

4.    Die Schule der Reifezeit“: Hat ein Kind ein festes Fundament sinnlicher Erfahrungen gesammelt, so kann dieses Material jetzt dazu genutzt werden, dies „bei den Jugendlichen in eine feste Form zu bringen“ (S. 327).

5.    Die Schule des Jungmannesalters“: In dieser letzten Phase institutionalisierter Bildung weitet sich der Erfahrungskreis ein weiteres Mal: „die ganze Welt, der ganze Kampfplatz des Geistes und das ganze Buch der Hlg. Schrift“ (S. 347) bilden den Hintergrund, so dass die didaktischen Einschränkungen, die in früheren Lebensphasen der Kinder und Jugendlichen pädagogisch notwendig waren, jetzt entfallen. Das Studium in der Akademie (Universität), das Reisen und die Berufswahl bilden die Unterabschnitte dieser Schule.

6.    Die Schule des Mannesalters“: Hier geht es darum, dass das Gelernte in der Praxis sich bewährt. Es ist die Phase des Lebens im Beruf, der in Bezug auf Gott, die Gesellschaft und die eigene Zufriedenheit recht gewählt sein muss. Eine wichtige Lebensregel dieser „Schule“ beschreibt Comenius mit dem Satz: „Tu das, was du bei deinem Tode möchtest getan haben!“ (S. 391)

7.    Die Schule des Greisenalters“: In ihr muss der alte Mensch dreierlei lernen: „I. das bisher durchlebte Leben recht zu erfüllen, II. den Rest des Lebens richtig zu vollenden und III. das ganze irdische Leben richtig zu beschließen und fröhlich in das ewige Leben einzugehen“ (S. 423).

Johann Amos Comenius schreibt die Pampaedia als alter Mann, und gerade seine Äußerungen zu den letzten beiden „Schulen“ sind voll von beeindruckenden Weisheiten, die er dem eigenen Leben abringt. Auch der alte Mensch ist in einer Schule, er muß die Summe seiner Erfahrungen zusammenfassen, so dass er zu seinem Leben stehen kann, und er muss lernen, „gut zu sterben“ (S. 445). „Integrität gegen Verzweiflung und Ekel“ (Erikson 1977; S. 118) - so hat ein Psychologe des 20. Jahrhunderts diese Aufgabe des Alters beschrieben, und er hat wie Comenius ein Programm der Entwicklung entfaltet, das die gesamte menschliche Lebensspanne umfasst. Johann Amos Comenius weiß: auch das „Lernziel“ der „Schule des Greisenalters“ ist nicht abgehobene, der Welt entrückte Tatsache, sondern ein lernendes Bemühen eines „Mannes der Sehnsucht“.


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