Sigurd
Hebenstreit
John
Locke (1632 bis 1704) :
„Erziehung bringt den großen Unterschied
bei den Menschen zuwege“
Aufklärung
meint kein Programm, das ausschließlich
auf die kognitive Entwicklung der
Persönlichkeit bezogen wäre; vielmehr
ist der gesamte Mensch - mit seinem
Denken, Fühlen, Handeln und Glauben
- in die Forderung einbezogen. Es
geht also auch um eine „Modellierung“
der affektiven Impulse, der Spannung
von „Engagement und Distanzierung“,
wie der Soziologe Norbert Elias
(1987) dies im 20. Jahrhundert genannt
hat. Die Vernunft übernimmt die
Führung auch im Gefühlsbereich
- und ein solcher Mensch
ist nicht weniger emotional als
derjenige, der jedem Impuls unmittelbar
Ausdruck verleihen muss, sondern
er weist lediglich eine andere Formung
seiner Triebe auf. John Locke, der
„Gentleman-Philosoph und Gentleman-Politiker“
(Euchner, 1996, S. 9), bleibt sein
Leben lang Junggeselle. Familienleben
erfährt er nur in den ersten 12
Jahren seiner Kindheit. Danach ist
er Internatsschüler und Collagestudent;
er lebt als Leibarzt und politischer
Berater in dem Haus seines Arbeitgebers; er ist in Frankreich und Holland im Exil, bevor er seinen Lebensabend
als zahlender Mieter zweier Räume
in dem Haus der Familie seiner ehedem
größten Liebe lebt, die sich zwischenzeitlich
mit einem anderen Mann verheiratet
hatte. Die Vernunft übernimmt auch
die Führung im Glaubensbereich.
John Locke, der als junger Student
mit dem Gedanken gespielt hatte,
Theologie zu studieren, sich dann
aber doch den empirischen Naturwissenschaften
zuwandte, bleibt überzeugter Christ,
der „die Existenz Gottes mit mathematischer
Sicherheit“ (ebenda, S. 159) zu
beweisen glaubt: Aus dem „Nichts“
kann nichts entstehen; da aber der
Mensch zumindest um seine eigene
Existenz weiß, muss es Gott geben,
der alles erschaffen hat (siehe
Specht, 1989 S. 124ff). Gott hat
den Menschen die Fähigkeiten gegeben,
die für sein Leben notwendig sind.
Dazu gehört auch die Vernunft, und
es wäre widersinnig, wenn diese
gegen die göttliche Offenbarung
streiten würde. Deshalb kann John
Locke schreiben: „Die Vernunft muß unser letzter Richter und
Führer in allen Angelegenheiten
sein.“ (in: Euchner, 1996, S.
160)
a)
Biographisches und Inhaltliches
Politisch
sind es in England sehr unruhige
Zeiten, in denen John Locke lebt.
Es geht um die Frage der Macht zwischen
dem nach Absolutismus strebenden
König und dem auf Einfluß pochenden
Parlament; religiöse Grundsatzfragen
stehen auf der Tagesordnung, die
sich um die inhaltliche und organisatorische
Reform der anglikanischen Kirche
und um Tendenzen zur Rekatholisierung
drehen; eine neue, kapitalistische
Wirtschaftsordnung angesichts des
englischen Erwerbs von Kolonien
versucht sich durchzusetzen; und
die Auseinandersetzung dreht sich
um die Frage des politischen Liberalismus,
der den Schutz des bürgerlichen
Individuums als seinen Hauptzweck
ansieht und religiöse Toleranz und
Meinungsfreiheit fordert. Im England
des 17. Jahrhunderts sind dies keine
akademischen Streitfragen, sondern
politische Positionsbestimmungen,
die man mit Gewalt durchzusetzen
versucht; ein Auf und Ab, in dem
mal die eine, mal die andere Seite
obsiegt - bei gewaltsamer Unterdrückung
der jeweiligen Gegenseite. John
Locke spürt diese Ausschläge am
eigenen Leibe: er ist politisch
einflussreicher Berater des Regierungschefs;
er flieht nach Frankreich als dieser
verhaftet wird; er kehrt nach England
zurück, als seine Partei wieder
an die Macht kommt, schließlich
geht er nach Holland ins Exil, als
der nach absolutistischer Macht
und Rekatholisierung strebende König
die Oberhand gewinnt. Es ist die
Zeit der unblutigen „glorreichen
Revolution“ mit einem relativen
Machtausgleich zwischen den verschiedenen
Parteien und der Durchsetzung einer
gewissen Liberalität, in der John
Locke seinen Lebensabend gesichert
und geachtet in England verbringen
kann.
·
Lebensstationen
1632
|
29. August:
Geburt John Lockes
|
1646
|
Westminster-Schule
in London
|
1652
|
Studium
an der Universität Oxford
|
1658
|
Magistertitel,
Lehrtätigkeit
|
1665
|
Sekretär
der Gesandtschaft am brandenburgischen
Hof in Kleve
|
1667
|
Umzug nach
London zu Shaftesbury
|
1675
|
Aufenthalt
in Frankreich
|
1679
|
Rückkehr
nach London zu Shaftesbury
|
1683
|
Emigration
in die Niederlande
|
1689
|
Rückkehr
nach England
Posten
in Kommission für Steuerfragen
Schriften:
2 Traktate über die Regierung
Essay über
den menschlichen Verstand
|
1693
|
Schrift:
Einige Gedanken zur Erziehung
|
1696
|
Posten
im nationalen Handelsrat
|
1700
|
Rücktritt
aus den Kommissionen
|
1704
|
28. Oktober:
Tod John Lockes
|
Schon
in seiner Kindheit und Jugend ist
John Locke den unterschiedlichen
Strömungen des geistigen und politischen
Lebens durch unmittelbare Erziehungseinflüsse
ausgesetzt. Da ist zunächst sein
Elternhaus, das puritanisch geprägt
ist. Der Vater ist Rechtsanwalt
und hat von seinen in der Textilindustrie
erfolgreichen Vorfahren ein kleines
Vermögen geerbt. Später wird dies
John Locke bekommen, und er kann
einen Teil seines Lebensunterhalts
dadurch bestreiten. Die Puritaner
sind eine religiöse Gruppe, die
sich gegen die offizielle anglikanische
Kirche wendet, da diese sich zwar
politisch von Rom gelöst hat, in
ihrer organisatorischen Verfassung
(Bischofsprinzip) und inhaltlichen
Ausrichtung aber der alten Kirche
unverändert entspricht. Duch reformatorische
Impulse, die den Bestrebungen Calvins
nahe stehen, soll eine neue Kirche
geschaffen werden (Galling, 1961,
Bd. V; S. 723f). Fleiß, Disziplin,
Ordnung - dies sind Eigenschaften,
die für den Puritanismus wichtig
sind, und die John Locke über seine
frühe Erziehung geprägt haben. Anfang
der 40er Jahre des 17. Jahrhunderts
gewinnen die Puritaner an Einfluß
im englischen Parlament (dies ist
auch die Gruppe, die derzeit Johann
Amos Comenius nach England eingeladen
hat).
Dieser
Tatsache verdankt sich auch die
Möglichkeit, dass der zwölfjährige
John Locke aus dem Städtchen Pensford
an die angesehene Westminster Schule
in London gehen kann - Voraussetzung
für eine akademische Karriere. Es
ist nicht nur das großstädtische
Leben, in das John Locke hier hineinkommt,
sondern auch eine grundlegend andere
politische Ausrichtung, die jetzt
auf ihn wirkt. Trotz gegenteiliger
Anschauung kann ein „konservativer
Royalist“ (Thiel, 1990, S. 12ff)
die Schule leiten. Das pädagogische
Klima - „Disziplin, Leistung und
harte Arbeit“ (ebenda) - ist mit
dem bisher Erfahrenen vergleichbar,
doch die inhaltlichen Positionen
stehen konträr zueinander. Der Besuch
der renommiertesten Schule Englands
ermöglicht es dem 20jährigen, auf
das Christ Church College in Oxford
zu wechseln. Hier trifft er auf
einen Leiter, der neue, liberal-demokratische
Ideen vertritt, so dass der Heranwachsende
sich mit einer dritten politischen
Grundausrichtung auseinandersetzen
muss. Er absolviert das Studium
in vorgezeichneten Bahnen: zunächst
das stark verschulte Grundstudium
und dann mit 26 Jahren der
Abschluss als Masters of Art. Dieser
ist die Voraussetzung, um auf die
andere Seite des Tisches zu wechseln:
John Locke bleibt als Dozent am
Christ Church College in Oxford.
In dieser Zeit wendet er sich den
Naturwissenschaften zu, die außerhalb
des traditionellen Verfahrens der
Universität neue, revolutionäre
Wege beschreiten. Nicht durch Buchwissen,
nicht durch dogmatische Aneignung
von vorgegebenen Lehrsätzen, sondern
durch Experiment und empirische
Forschung sollen die Naturgesetze
entdeckt werden. Dies gilt auch
für die Medizin, der John Locke
sich verstärkt zuwendet.
Lebensentscheidend
für den 35-jährigen wird die Begegnung
mit dem 1. Grafen von Shaftesbury
(damals Lord Ashley), einem der
politisch einflussreichsten Menschen
der damaligen Zeit in England. Dessen
Auf und Ab in der Politik (mal ist
er Lordkanzler, mal im Tower inhaftiert)
bestimmen im folgenden den Lebensgang
John Lockes. Zunächst wird er als
dessen Leibarzt eingestellt, und
es wird erzählt, dass er durch eine
Notoperation einmal das Leben des
Grafen rettete. John Locke siedelt
nach London über, und er berät seinen
Arbeitgeber auch in politischer
Hinsicht. Shaftesbury gehört zu
den liberalen Politikern, für die
die Schaffung wirtschaftspolitischer
Rahmenbedingungen angesichts des
aufstrebenden Kapitalismus und die
auf individuelle Freiheit sowie
bürgerliche Mitbestimmung ausgerichteten
Forderungen in unmittelbarem Zusammenhang
stehen. Der bislang eher konservativ
denkende John Locke muss sich zunächst
selbst neu orientieren, um den Erwartungen
gerecht zu werden. Er vollzieht
diese Wendung nicht nur auf einer
oberflächlichen Ebene, sondern er
durchdenkt sie in so grundsätzlicher
Weise, dass er zu dem Theoretiker
des politischen Liberalismus wird.
·
Politische
Theorie
Lockes
politische Theorie ist motiviert
durch die Fragen nach der Legitimität
und den Grenzen staatlicher Macht,
deren Beantwortung erst die Grundsätze
einer politischen Verfassung ergeben
lässt. In seiner Argumentation greift
er dabei sehr weit zurück: Ausgangspunkt
ist ein ursprünglicher, idealer
Naturzustand, ein „Zustand
des Friedens, des Wohlwollens, der
gegenseitigen Hilfe und Erhaltung“
(in: Euchner, 1996, S. 82). Die
Menschen waren hier frei und gleich,
und wenn jemand gegen das unumstößliche
Selbsterhaltungsrecht des anderen
verstieß, so hatte jedermann das
individuelle Recht der Bestrafung
des Rechtsbrechers. Dieser gute
Naturzustand hatte dadurch jedoch
seine Schwierigkeiten, dass die
Rechte und Pflichten nicht eindeutig
abgesteckt waren, so dass egoistische
Individuen den Frieden und die Freiheit
der anderen bedrohen konnten. Die
Abwehr dieser Gefahr war der Entstehungsgrund
der Gesellschaft und ist auch der
Rechtfertigungsgrund für staatliches
Eingreifen: Durch verbindliche Gesetze
und eine legitim strafende gesellschaftliche
Instanz soll „das
Leben, die Freiheit und das Vermögen“
(ebenda, S. 84) der Individuen besser
geschützt werden. Gesellschaft und
Staat beruhen somit auf einem zustimmenden
Vertrag freier Menschen, woraus
sich eine Beschränkung des legitimen
Eingriffsrechts des Staates ergibt.
Politische Macht darf nur so weit
reichen, wie ihr ursprünglicher
Zweck - der Schutz des Individuums
- greift, und der Staat ist auf
Zustimmung der Mehrheit der Bürger
angewiesen. Greift er zu weit und
unterdrückt die Menschen diktatorisch,
so haben diese ein Widerstandsrecht.
Um die Gefahren staatlicher Übergriffe
abzuwehren, muß die politische Verfassung
eine strikte Gewaltenteilung in
Legislative und Exekutive vorsehen.
Aus dem Staatsverständnis John Lockes
ergibt sich eine klare Trennung
von Staat und Kirche (als der Institution,
die den Weg der rechten Gottesverehrung
sucht) sowie die Forderung von Toleranz
gerade in religiöser Hinsicht (wenngleich
John Locke zeitbedingt Katholiken
und Atheisten von diesem Anspruch
ausnimmt). Kritisch formuliert er
in Bezug auf die vorangegangene
politische Epoche: „Es ist nicht die Verschiedenheit der Meinungen
(die nicht vermieden werden kann),
sondern die Verweigerung der Toleranz
(die hätte gewährt werden können)
für die, die verschiedener Meinung
sind, die alle die Tumulte und Kriege
erzeugt hat, die es in der christlichen
Welt wegen der Religion gegeben
hat.“ (in: ebenda, S. 117)
·
Wissenschaftstheorie
Dies
ist die eine Seite des beruflichen
Lebens John Lockes: seine Tätigkeit
als Politikberater, der die diesbezüglichen
Fragen grundsätzlich durchdenkt
und so zu theoretischen Aussagen
gelangt, die über den Tag hinausreichen.
Doch er ist dabei nicht der abgehobene
Wissenschaftler, sondern bis ins
hohe Alter hinein arbeitet er in
regierungsamtlichen Kommissionen
mit, die Vorschläge für die Neugestaltung
des Staates erarbeiten. Die andere
Seite seiner beruflichen Tätigkeit
ist die Auseinandersetzung mit philosophischen
Fragen, ohne dass er dabei eine
akademische Karriere realisiert.
Er entwickelt eine Erkenntnistheorie,
die für das empiristische Programm
der Neuzeit charakteristisch wird.
In einem knappen Exkurs wollen wir
auch diese kennzeichnen.
Der
Mensch besitzt keine „angeborenen
Ideen“ - weder von sich selbst,
der Welt außen oder von Gott -,
sondern als „leeres Zimmer“, als „dunkler
Raum“, als „Tabula
rasa“, als „weißes Papier“ (in: ebenda, S. 30) betritt
er mit der Geburt die Welt. Das
Wissen ist noch nicht in seinem
Kopf, sondern durch „mühevolle
Gedankenarbeit“ (in: ebenda
S. 29) muß es erst aufgebaut werden
- muss das leere Zimmer möbliert,
der dunkle Raum erhellt, das weiße
Papier beschrieben werden. Dabei
beginnt der Säugling seine Verstandesentwicklung
mit einem passiven Prozess: Er hat
seine Sinnesorgane, seine Augen,
Ohren usw., und diese prägen ihm
ein Bild von der Welt außen in seinen
Kopf ein. Hinzu kommen die Wahrnehmungen,
die der Säugling von seinem eigenen
Inneren erhält - der Bauch zwickt,
die Hand drückt den erfassten Gegenstand.
Die inneren und äußeren Wahrnehmungen
bilden das Grundmaterial, auf das
die folgende aktive Phase der Erkenntnisgewinnung
aufbaut: Sinnesempfindungen werden
eingruppiert, miteinander verglichen,
durch Wörter repräsentiert usw.
Wir werden weiter unten noch sehen,
wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Maria Montessori den erkenntnistheoretischen
Ansatz John Lockes pädagogisch nutzt,
und der richtigen Sinneswahrnehmung
des kleinen Kindes eine entscheidende
Bedeutung zuweist. Da unsere Erkenntnisse
auf einzelnen Wahrnehmungen aufbauen,
können wir nie ganz sicher sein,
ob unser Wissen richtig ist: unsere
Sinne können uns täuschen und unsere
im Kopf vorgenommene Vergleichung
und Begriffsbildung können der Welt
außen nicht adäquat sein. Deshalb
führt John Locke den Begriff der
„Wahrscheinlichkeit“ ein, der die
Überzeugung von der absoluten Wahrheit
ersetzt. Auch dieser Gedanke spielt
in der wissenschaftstheoretischen
Diskussion des 20. Jahrhunderts
- nämlich in der Position des Kritischen
Rationalismus Karl Poppers, s.u.
- eine wichtige Rolle. In Bezug
auf das Problem der Beschränktheit
unserer Sinnesorgane - und damit
der Beschränktheit unserer Erkenntnismöglichkeit
- argumentiert John Locke in gleichermaßen
pragmatischer wie religiöser Weise:
„Für die Erfordernisse unseres praktischen
Lebens hat uns ... Gott in seiner
unendlichen Weisheit mit hinlänglichen
Erkenntnismitteln ausgestattet.“
(ebenda, S. 52)
„Verweile Wanderer,
Hier liegt John Locke. Wenn du fragst, was
für ein Mann er war, so
antwortet er: einer, der
mit seinem bescheidenen
Los zufrieden lebte. Durch
die Wissenschaften genährt
erreichte er gerade so
viel, daß er der Wahrheit
allein diente. Dies lerne
aus seinen Schriften;
sie werden Dir mitteilen,
was von ihm übrig ist,
und zwar wahrhafter als
die verdächtigen Lobpreisungen
einer Grabschrift. Seine
Tugenden, wenn er welche
besaß, waren zu gering,
als daß er sich ihrer
rühmen oder sie Dir zur
Nachahmung hinstellen
könnte. Seine Fehler seien
mit ihm begraben. Wenn
Du ein Vorbild der Tugend
suchst, Du hast es im
Evangelium; ein solches
der Laster mögest Du nirgendwo
finden. Ein Bild des Todes
(Dir zum Nutzen) hast
Du gewiß hier und überall.
Daß er a.D. 1632 am 29. August geboren wurde
und a.D. 1704 am 28. Oktober
gestorben ist, daran erinnert
diese Tafel, die bald
selbst vergehen wird.“
(in: Thiel, 1990, S. 134)
|
Vier
Jahre vor seinem Tod zieht sich
John Locke aus dem öffentlichen
und politischen Leben zurück, und
er verbringt die letzte Zeit vollständig
in dem Haus der ehemals Geliebten.
An seinem letzten Lebenstag liest
sie dem Sterbenden aus den Psalmen
vor, und der geachtete Philosoph
wird in einem einfachen Holzsarg
beerdigt, da er die ersparten Kosten
den Armen spenden wollte (Thiel,
1990, S. 124). Die nebenstehende
Grabinschrift hat er selbst verfaßt.
Sie charakterisiert Selbstbewusstsein
und Bescheidenheit John Lockes gleichermaßen.
b)
„Einige Gedanken über die Erziehung“
Viele
Jahre seines Lebens verbringt John
Locke im Exil, und er kann nur brieflich
Kontakt zu Freunden in England halten.
Unter dieser Korrespondenz befinden
sich auch Ratschläge zur Erziehung
eines Kindes. Die Anregungen, die
er dort gibt, fasst er später in
einer Schrift zusammen, der er einen
für ihn charakteristischen, weil
unsystematischen Titel gibt: „Einige
Gedanken über die Erziehung“. Auf
den ersten Blick liest sich das
Buch wie ein Erziehungsratgeber:
konkrete Vorschläge zur richtigen
Erziehungsmethode werden angeboten,
ohne dass eine ausführliche anthropologische
Herleitung oder eine differenziert
begründete Zielanalyse erfolgen
würden. Im Vergleich zu Johann Amos
Comenius, dessen pädagogische Schriften
durch das Ringen um das „All“ des
Menschen, der Welt und Gottes motiviert
sind, ist John Locke wesentlich
pragmatischer. Dies macht seine
Schwäche aus, denn nicht alle „Gedanken“
erscheinen eindeutig begründet,
und neben den „Einigen“ Gedanken,
die geäußert werden, vermisst man
andere; aber die pragmatische Orientierung
macht auch die Stärke des Buches
aus, weil dadurch ein lebendiges
Bild des Erziehungsverhältnisses
von Erwachsenem und Kind immer spürbar
ist. So unsystematisch dieser Erziehungsratgeber
auf den ersten Blick erscheint,
so ergibt eine genauere Betrachtung
seiner Ratschläge einen unmittelbaren
Bezug zu den politischen Grundannahmen
und dem Menschenbild. Die fehlende
Festgefügtheit der pädagogischen
Theorie korrespondiert mit der Selbstbeschränkung
des liberalen Staates. Die Scheu
vor den großen Worten und dem allumfassenden
gedanklichen System speist sich
auch aus der Furcht vor den Gefahren
des Dogmatismus: Wenn die Theorie
von den obersten Normen bis zu den
konkretesten methodischen Verfahrensvorschlägen
ein einheitliches, scheinbar geschlossenes
Gedankengebäude darstellt, dann
wird das individuelle Kind nur noch
zum Anwendungsfall dieser Theorie.
Solcherart konzipierte Pädagogiken
neigen zu einem Rigorismus, der
nur noch das in den Blick nimmt,
was der Theorie gemäß ist, und alles
andere oft gewaltsam unterdrückt.
Weil John Locke ein solches System
„normativer Pädagogik“ nicht vorlegt,
sondern lapidar nur „Einige Gedanken“
formuliert, kennzeichnet seine Pädagogik
eine Offenheit, die nicht mit Willkürlichkeit
oder Beliebigkeit zu verwechseln
ist. Wir werden vielmehr gleich
sehen, dass seine pädagogischen
Sätze klar und eindeutig sind und
daß hinter ihnen eine Vorstellung
des durch Erziehung mitzuschaffenden
menschlichen „Glücks“ steht.
Wiederum
auf den ersten Blick kennzeichnet
eine geschlechts- und eine standesmäßige
Beschränkung den Text John Lockes. Es geht um die Erziehung eines Jungen, und
es geht um die Erziehung eines Jungen
aus der bürgerlichen Oberschicht.
Dies ergibt sich aus dem eben erwähnten
Anlass der Schrift, aber auch aus
der biographischen Herkunft des
Autors. Der Adressatenkreis ist
die Schicht, von der sich John Locke
die aktive Gestaltung der politischen
Reform verspricht. Ist deshalb der
ausdrückliche Bezug auf die „Gentleman-Erziehung“
nicht zufällig, so enthält das Buch
in einer demokratischen Gesellschaft
des 20. Jahrhunderts gelesen, aber
doch pädagogische Anregungen, die
über diese Beschränkung hinausgehen.
·
Wissen
Der
Bereich der Erziehung, der John
Locke am wenigsten wichtig erscheint,
ist das wissensmäßige Lernen, wobei
er gleich die Verwunderung des Lesers
vorwegnimmt, ein solches Urteil
„aus dem Munde eines Buchgelehrten“ (S. 137) zu hören. Er beschreibt
zwar ein differenziertes Bildungsprogramm,
das vom Lesen- und Schreibenlernen
über den Erwerb des Französischen
als erster und des Lateinischen
als zweiter Fremdsprache hin zu
dem Grammatikunterricht und der
Vermittlung mathematischer, geographischer
und geschichtlicher Kenntnisse reicht
und darüber hinaus Berufsfertigkeiten
(Gärtnern und Schreinern) einschließt.
Doch die Aneignung dieser Inhalte
hat nur Sinn, wenn der Primat der
Charaktererziehung bedacht wird.
Ist diese unzureichend, dann stellt
eine ausgezeichnete wissenschaftliche
Schulbildung eher ein Problem als
einen Gewinn dar, weil durch sie
der falsche Egoismus nur noch verstärkt
würde. Erst in den Rahmen der richtigen
Erziehung eingeordnet gewinnt der
Wissenserwerb seinen Stellenwert.
John Locke macht sich über die Eltern
lustig, die die Schulbildung ihrer
Kinder so hoch achten, und er vermutet,
dass dies durch deren immer noch
vorhandene eigene „Furcht vor der Rute des Schulmeisters“
(S. 138) motiviert sei. Weil der
Bereich der Bildung gegenüber dem
der Erziehung zweitrangig ist, fordert
John Locke von dem professionellen
Erzieher vor allem charakterlich
einwandfreie Eigenschaften, während
er den wissenschaftlichen Vorkenntnissen
nicht so viel Gewicht beimisst.
Innerhalb
des Bereiches wissensmäßigen Lernens
stellt John Locke zwei Ziele in
den Vordergrund: Zum einen muss
es an der „Nützlichkeit“ (S. 153) orientiert sein,
es ist Vorbereitung auf das tatsächliche
Leben der Kinder; und er schreibt
deshalb ironisierend in Bezug auf
das Übergewicht des Grammatikunterrichts
der traditionellen Schule: „Würde
nicht ein Chinese, der diese Art
von Ausbildung gewahrte, auf den
Gedanken verfallen, all unsere jungen
Leute gehobenen Standes seien dazu
bestimmt, Lehrer und Professoren
der toten Sprachen fremder Länder
zu werden und nicht Geschäftsleute
in ihrem eigenen Land?“ (S.
156) Zum anderen sollte es beim
Lernen weniger um die Aneignung
eines konkreten Inhalts gehen als
um das „Lernen des Lernens“: die
natürliche Motivation der Kinder,
sich Wissen von der Welt anzueignen,
gilt es zu verstärken, und sie sollten
darauf vorbereitet werden, wie sie
sich selbst Wissen aneignen können.
Bei seinen Unterrichtsmethoden muss
der Lehrer darauf Acht geben, dass
das Lernen ohne Angst geschehen
kann. Denn: „Es ist ebenso unmöglich, schöne und regelmäßige
Schriftzüge in ein zitterndes Gemüt
einzuzeichnen wie auf ein verrutschendes
Papier.“ (S. 153) Lernen soll
Erholung sein, und dies ist dann
möglich, wenn der Lehrer in den
Vordergrund stellt, was das kindliche
Spiel kennzeichnet: die Selbstbestimmtheit.
Wenn dem Kind das Lernen nicht aufgezwungen,
sondern wenn seine natürliche Neugierde
in den Mittelpunkt gestellt wird,
die danach drängt, Antworten auf
eigene Fragen zu bekommen, dann
kann dem Lernen der Zwangscharakter
genommen und die Effektivität des
Unterrichts gesteigert werden.
·
Körperliche
Erziehung
John
Locke beginnt seine „Gedanken über
die Erziehung“ mit den körperlichen
Entwicklungsfaktoren. Diese sind
ihm wichtiger als der soeben beschriebene
Bereich schulmäßiger Bildung. Als
Arzt fühlt er sich berufen, Aussagen
zur Gesundheitserziehung zu machen,
wobei er von seinem Berufsstand
keine positive Meinung hat. Deshalb
rät er, bei Krankheiten nicht zu
schnell den Arzt zu rufen, dem er
vorwirft, häufig „zum
Herumpfuschen geneigt“ (S. 27)
zu sein. Es sei besser, die Kinder
„ganz der Natur zu überlassen“ (ebenda),
und sein Naturprogramm äußert sind
in dem Motto: „Unser Körper kann alles ertragen, woran er von Anfang an gewöhnt wird“
(S. 10). Deshalb sollen die Kinder
nicht zu warm gekleidet werden,
und insbesondere die Füße sind der
Kälte und Feuchtigkeit auszusetzen;
in weiten, nicht einschnürenden
Kleidern soll viel Bewegungsmöglichkeit
verschafft werden; beim Essen sollen
Gewürze und Salz nur sparsam eingesetzt
werden, Zucker ist zu meiden, und
das Trinken soll nicht übermäßig
sein. Schlaf ist als einziges der
Bedürfnisse, die „weichlich
und weibisch“ (S. 22) sind,
hinreichend zu gewähren: auf harter
Lagerstätte, mit frühem Aufstehen
am Morgen und entsprechend frühem
zu Bett Gehen abends. Die Ratschläge
zur körperlichen Erziehung sind
im wesentlichen ein Programm der
Abhärtung, das mit der Forderung
der „Natur“ begründet wird. Wir
werden im Verlauf der Geschichte
der Pädagogik noch des öfteren den
Einfluss, den John Locke diesbezüglich
gehabt hat, spüren - nächstens bei
Jean-Jacques Rousseau, aber auch
in explizit kindzentrierten Ansätzen
der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts.
·
Charakterbildung
Es
ist die „hauptsächlichste
Aufgabe, den Geist zu
befähigen, daß er bei
allen Anlässen geneigt
ist, nur in das einzuwilligen,
was der Würde und dem
hohen Range eines vernünftigen
Wesens angemessen ist.
... die Grundlage aller
Tugend und alles Wertes
besteht darin, daß ein
Mensch imstande ist, sich
seine Wünsche zu versagen,
seinen eigenen Neigungen
entgegenzutreten und lediglich
dem zu folgen, was die
Natur als das Beste vorschreibt,
auch wenn die Neigung
nach einer anderen Seite
hinzieht.“ (Locke, 1967,
S. 28f)
|
Wichtigster
Bereich der Erziehung der Kinder
und Jugendlichen ist die Charaktererziehung.
Der Mensch muß lernen, „Beschwernisse zu ertragen“ (S. 28), um
mit den Widrigkeiten des Lebens
zurechtkommen zu können. Dabei sind
zwei Erziehungsfehler gleichzeitig
zu vermeiden: Einerseits darf dem
Bedürfnis der Kinder nicht ständig
nachgegeben werden, und John Locke
polemisiert heftig gegen Eltern,
die ihre Kinder „verzärteln“,
„verhätscheln“
und die elterliche „Liebe zur Vernarrtheit“ (S. 29) verkehren.
Gibt man kleinen Kindern in ihren
Wünschen ständig nach, dann lernen
die Kinder keinen Maßstab, um ihre
Bedürfnisse einzuschränken, sondern
diese wachsen ins Unermessliche
und erzielen einen Erwachsenen,
den es nach „Weib oder Weibern“ (S. 30) zieht. Andererseits sollen nicht „furchtsame, knechtische und duckmäuserische“
(S. 38) Kinder erzogen werden, die
in ihrer Angst gefangen sind und
nicht aktiv auf die Welt zugehen
können. Das Ziel der Erziehung ist
ein Erwachsener, der selbstbestimmt
über sich entscheiden kann, weil
er nicht von seinen triebhaften
Begierden beherrscht wird. Dieser
Erwachsene kontrolliert sich selbst
durch seine Vernunft, die ihm einen
Maßstab zur Unterscheidung von „eingebildeten und natürlichen Bedürfnissen“
(52) eingibt.
Es
ist „die
große Kunst“ der Erziehung,
die „anscheinenden
Widersprüche zu versöhnen“ (ebenda),
nämlich eine Synthese von Freiheit
und Triebeinschränkung herzustellen.
Sind die Erzieher zu nachgiebig,
dann fördern sie eine ungehemmte,
nicht von der Vernunft beherrschte
Bedürfniseinforderung. Sind sie
andererseits zu streng, dann wird
die Selbstbestimmung des Kindes
nicht erreicht, weil es in Ängsten
gefangen ist. Trotz dieser Anerkenntnis
der Widersprüchlichkeit des Erziehungsgeschäftes
liest sich der größte Teil der Schrift
John Lockes als Unterdrückung der
unmäßigen kindlichen Begierden.
Seine Ausführungen zum Weinen des
Kindes sind ein Beispiel dafür:
Entweder weine das Kind aus „Herrschsucht“
(S. 99) oder wegen Schmerzen. In
beiden Fällen darf das Weinen jedoch
nicht geduldet werden, wobei dies
im ersten Fall unmittelbar einleuchtet,
würde ein Nachgeben des Erwachsenen
hier bedeuten, den erpressten Wünschen
der Kinder Vorschub zu leisten.
Aber auch im zweiten Fall muss der
Erzieher das Weinen unterdrücken,
damit das Kind „gegen
jegliches Leid, besonders aber das
körperliche, abgehärtet“ (S.
101) wird. Das Leben wird für das
Kind viele schmerzvolle Situationen
bereit halten, denen nicht ausgewichen
werden kann. Die „Starkmütigkeit
und Unempfindsamkeit der Seele ist
die beste Rüstung“ (S. 102)
dagegen, und die Erziehung hat das
Kind frühzeitig darauf vorzubereiten.
·
Erziehungsgrundsätze
„Die
kleinen, fast unmerklichen
Eindrücke unserer zarten
Kinderjahre haben sehr
wichtige und dauernde
Folgen; es geht mit ihnen
wie mit den Quellen mancher
Flüsse, bei denen eine
leichte Handbewegung die
lenksamen Gewässer in
Kanäle zwingt, durch die
sie in ganz entgegengesetzte
Richtungen geleitet werden.
Infolge dieser Beeinflussung
ihres Laufes schon an
der Quelle fließen die
Gewässer in verschiedene
Richtungen und gelangen
am Ende nach sehr entlegenen,
weit voneinander liegenden
Orten. ... Ich meine nun,
es sei der Geist des Kindes
ebenso leicht nach dieser
oder jener Richtung hin
zu lenken wie das Wasser.“
(Locke, 1967, S. 9)
|
Wichtigstes
Erziehungsprinzip ist das
der Altersgemäßheit. Es begründet
sich bei John Locke noch nicht durch
die Eigenstruktur kindlichen Lebens,
wie wir dies im Fortgang der Geschichte
der Pädagogik später beobachten
werden, sondern durch das Verhältnis
von Vernunft und Begierden. Das
kleine Kind muss erst zu einem vernünftigen
Menschen erzogen werden. Solange
es dies noch nicht ist, muss die
Autorität der Eltern an die Stelle
der fehlenden kindlichen Vernunft
treten. Für die erste Erziehung
hat deshalb die Autorität der Erwachsenen
eine große Bedeutung, und die Kinder
müssen sich ihr unterordnen. Im
Verlauf der Entwicklung, wenn das
Kind zunehmend vernünftiger wird,
ist diese Herrschaft zu lockern,
bis schließlich Freundschaft und
Vertrautheit an ihre Stelle treten.
Mit den Jugendlichen soll der Erwachsene
offen auch über seine eigenen Probleme
reden, er soll einbezogen werden
in die Geschäfte und Gedanken der
Großen. Dies bedeutet nicht, daß
hier Erziehung keinen Platz mehr
hätte, vielmehr ist es auf dieser
Altersstufe wichtig, den Jugendlichen
offensiv auf die Gefahren der Welt
vorzubereiten. Dies geht jetzt nicht
mehr, indem man ihn wie das kleine
Kind vor den Problemen und Verführungen
der Gesellschaft behütet, sondern
indem man ihm diese vor die Augen
stellt. Ist der Erzieher durch den
freundschaftlichen Umgang mit dem
Jugendlichen verbunden, dann wird
er in dessen Überlegungen und moralische
Kämpfe vertrauensvoll einbezogen
und erhält seine Einflussmöglichkeiten.
Ausführlich
beschäftigt sich John Locke mit
dem Thema der Strafen. Sicherlich
lassen sich diese nicht vollständig
vermeiden, doch vor ihrem maßlosen
Gebrauch ist zu warnen. Sowohl beim
Beschimpfen wie beim Schlagen wirkt
der Erwachsene oft so, als sei er
selbst nicht durch seine Vernunft
kontrolliert, und das Kind empfängt
ein schlechtes Beispiel für das,
was das wichtigste Ziel der Erziehung
ist: Selbstbeherrschung. Die Anlässe
für Strafen müssen eingeschränkt
werden, und wenn sie doch erforderlich
sind, dann überlässt man ihre Durchführung
lieber dem eingestellten Erzieher,
während der Vater bei der Züchtigung
des Kindes lediglich anwesend ist.
Unnachgiebig muss die Bestrafung
aber in dem Falle sein, in dem das
Kind den Eltern und Erziehern den
Gehorsam verweigert. Da hier die
Autorität des Erwachsenen in Frage
gestellt ist, muss
er in dem Konflikt mit dem
Kind „unbedingt
den Sieg davontragen, welche Schläge
es auch kosten mag“ (S. 65).
Sind die Fronten dann wieder geklärt,
dann kann wieder eine Erziehung
Platz greifen, die mehr auf Vorbild
und Nachahmung, Beispiel und Übung
beruht. Dann ist es auch falsch
und überflüssig, das Kind durch
allzu viele Verhaltensmaßregeln
einzuengen, oder von ihnen die übermäßige
Beachtung der Anständigkeit äußerer
Gesten zu fordern, denn John Locke
erwartet nicht, dass Kinder, „noch ehe sie Hosen tragen, das Verhalten und das Benehmen von Ratsherren
zeigen“ (S. 34). Maßstab für
Milde oder Strenge ist der hinter
dem Verhalten stehende Wille des
Kindes und nicht die konkrete Handlung.
So soll ein großer Schaden, den
das Kind aus Unachtsamkeit, aber
ohne schlechte Absichten beispielsweise
im Spiel anrichtet, unbeachtet bleiben,
während ein geringer Schaden, der
aber auf einem bösen Willen fußt,
eine angemessene Strafe zur Folge
haben muss.
Deutlich
argumentiert John Locke gegen eine
gemeinsame Erziehung vieler Kinder
in der Schule und für eine individuelle
Erziehung des Kindes in der Familie
und mittels eines „Hofmeisters“.
In einer Zeit wie der unsrigen,
in der die institutionelle Betreuung
der Kinder immer ausgedehnter wird,
ist dabei die Begründung von Interesse:
Die vielen Kinder in der Schulklasse
verhindern, dass der Lehrer sich
ihnen einzeln zuwenden kann, aber
die „Beschaffenheit
des Geistes“ weist ebenso viele
Verschiedenheiten auf wie das „Antlitz des Menschen“ (S. 90). „Der
Geist eines jeden Menschen hat ebenso
etwas ihm Eigentümliches wie sein
Gesicht, das ihn von allen anderen
unterscheidet. Es gibt vielleicht
kaum zwei Kinder, die nach genau
derselben Methode erzogen werden
können.“ (S. 197f) Die Individualität
des einzelnen Kindes erfordert eine
individuelle Erziehung, in der der
Erwachsene das einzelne Kind betrachten
muss, dessen Neigungen, Anlagen,
Wesenszüge zu erforschen sucht,
um auf diese Einmaligkeit reagieren
zu können.
„Wir dürfen nicht hoffen, das ursprüngliche
Wesen der Kinder ganz
umzugestalten, weder die
heiteren nachdenklich
und ernst, noch die melancholischen
lustig zu machen, ohne
sie zu verderben. Gott
hat dem Geiste der Menschen
gewisse Charaktereigenschaften
eingeprägt, die, wie ihre
körperliche Gestalt, vielleicht
ein bißchen verbessert,
aber schwerlich völlig
umgestaltet und ins Gegenteil
verwandelt werden können.
... Eines jeden Kindes
natürliche Anlage sollte
soweit gefördert werden,
wie es möglich ist. Aber
den Versuch zu unternehmen,
ihm eine andere beizubringen,
wird vergebliche Bemühung
sein.“ (Locke, 1967,
S. 47f)
|
Wenn
das Erziehungsgeschäft von der Sache
her widersprüchlich ist, dann lässt
sich von einem pädagogischen System
schwerlich Widerspruchsfreiheit
erwarten. Es überrascht deshalb
nicht, dass auch die Schrift John
Lockes Spannungen von entgegengesetzten
Vorstellungen und Argumenten aufweist.
In dem bisher Beschriebenen ist
dies schon deutlich geworden. Rücksichtslos
und mit starken Worten kann er für
die unnachsichtige Durchsetzung
der Erwachsenenautorität werben,
die den Eigenwillen des Kindes bricht;
aber es finden sich auch
Passagen, in denen er mit einer
für einen Junggesellen erstaunlichen
Sensibilität die kindliche Eigentümlichkeit
einfängt und liebendes Engagement
für sie fordert: „Ich
sehe sie (die Kinder; S.H.) durchaus
als Kinder an, die liebevoll behandelt
werden, die spielen und ihr Spielzeug
haben müssen.“ (S. 34) Neben
der Widersprüchlichkeit in dem zentralen
pädagogischen Verhältnis kennzeichnet
den Text noch eine andere Spannung,
die sich auf die Frage des Einflusses
der Erziehung bezüglich der kindlichen
Entwicklung bezieht. John Locke
ist der Autor, der ihre Bedeutung
klar herausstreicht: 90 % des Menschen,
so sagt er es zu Beginn seiner Abhandlung
pointiert, beruhe auf der Prägung
durch die Erziehung. Sie erscheint
geradezu allmächtig, das „unbeschriebene Blatt Papier“ zu beschreiben,
das „Wachs“
zu „pressen und formen ..., wie man will“ (S.
198).
Aber
es findet sich auch die gegenteilige
Vorstellung, und wir wollen eine
diesbezügliche Stelle hier abschließend
ausführlicher zitieren. Betrachten
wir es ausschließlich unter quantitativen
Gesichtspunkten, dann überwiegen
in dem Text die Stellen, die der
Möglichkeit der Erziehung, ein Kind
zu prägen, großes Gewicht beimessen,
und auch John Lockes Menschenbild
legt diese Vorstellung nahe. Doch
die andere - für Locke weniger typische
- Seite soll nicht verschwiegen
werden, weil sie unmittelbar hineinführt
in die zentrale pädagogische Frage
nach dem Eigenen, dem Persönlichkeitskern
des Kindes, der von den Erwachsenen
nicht beeinflussbar ist. In der
Praxis der Erziehung erleben wir
oft ein Schwanken zwischen Allmachtsphantasien
und Ohnmächtigkeitserfahrungen,
und auch für die Theorie der Erziehung
ist die Grundantinomie von Chance
und Grenze der pädagogischen Beeinflussung
konstitutiv.