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Sigurd
Hebenstreit
Anleitung
zum Glücklich-Sein - Jean-Jacques Rousseau
als Anreger und Provokateur
I.
Biographisches
·
Mutter/Geliebte/Lebensgefährtin
Ein
Säugling wird geboren, und ihm stirbt
die Mutter in den ersten Tagen seines
Lebens. Keine Muttermilch, nie die Erfahrung
von Liebe ohne Bedingung, von absoluter
Verläßlichkeit in einer Zeit voller
Schwankungen, keine, die einem Bedeutung
zuspricht, so daß man lernen könnte,
bedeutsam zu sein. Als Heranwachsender,
aber da ist es schon zu spät, wird der
Säugling auf seinen umherschweifenden
Wanderschaften eine ältere Frau kennenlernen,
die er „Mama“ nennt und von der er „Kleiner“
gerufen wird. In einer merkwürdigen
Zwitterstellung lebt er mit ihr, denn
nicht nur mütterliche Aufgaben nimmt
sie wahr, sondern sie führt ihn auch
in die Geheimnisse der sexuellen Liebe
ein. „Es war mir, als hätte ich Blutschande
begangen“, so wird er in seinen Lebenserinnerungen
sich dieses Erlebnisses erinnern. Eine
Zeit lang lebt er mit ihr als ihr Gutsverwalter
und Liebhaber zusammen, bis auch diese
Phase des Lebensglücks zerbricht: nach
einem psychosomatisch bedingten Kuraufenthalt
muß er, den hypochondrische Züge sein
Leben lang begleiten, feststellen, daß
Mama ihn durch einen neuen Gutsverwalter
und Liebhaber ersetzt hat. Als der etwas
infantile Heranwachsende schließlich
erwachsen wird, will er in der Hauptstadt
in den Salons der Adeligen und Intellektuellen
Karriere machen. Aber es bleibt die
Liebessehnsucht: die mütterliche und
die sexuelle. Bei der Wahl der Frau
seines Lebens greift er daneben: Intellektuell
ist sie etwas minderbemittelt, so daß
eine gleichberechtigte Kommunikation
nicht möglich ist, und Liebe ist es
nicht, was die beiden zusammenhält,
seinerseits eher sexuelle Triebbedürfnisse,
deren er sich jedoch auch enthält, als
er meint, sein Blasenleiden weniger
zu spüren, wenn er abstinent lebt. Trotzdem:
ein Leben lang bleibt er ihr treu, und
als alter Mann wird er mit ihr vor den
Traualtar treten.
·
Vater/Vaterschaft
Kehren
wir noch einmal zurück zum Lebensanfang.
Der Vater, Uhrmacher von Beruf, muß
sich um den Kleinen kümmern. Doch er
ist ein rechter Schuft, der seine Frau
verlassen hat, als sie das erste Mal
schwanger war, und der erst zurückkehrte,
um den zweiten Jungen mit ihr zu zeugen.
Der erstgeborene Sohn wird häufig vom
Vater verprügelt, und bald landet er
in einer Besserungsanstalt, wo seine
Lebensspur sich für uns verliert. Der
zweite Knabe ist Erinnerungsstück an
die gestorbene Frau, und die Ambivalenz
der Gefühle des Vaters läßt sich an
ihn heften. Der Vaterschuft hat keine
Skrupel, den noch nicht zehnjährigen
Knaben alleine zurückzulassen, als ihm
eine Gerichtsverhandlung droht, weil
er in seinem Jähzorn sich mit einem
höher gestellten Bürger eingelassen
hat. Lange sehen sich Vater und Sohn
nicht wieder, und wenn sich später für
kurze Momente ihre Lebenswege kreuzen,
bestimmt Fremdheit ihre Beziehung. Als
das mutter- und vaterlose Kind erwachsen
wird, ist er selbst unfähig, seine Vaterpflicht
zu erfüllen. Die fünf Kinder, die er
mit seiner Lebensgefährtin zeugt, schickt
er unmittelbar nach der Geburt ins Findelhaus.
Neben vielen anderen Gründen gibt er
auch den für seinen Schritt an, auf
diese Weise am besten für das Wohl der
Kinder gesorgt zu haben, da sie dort
besser als in seiner nichtehelichen
Lebensgemeinschaft, zu der auch noch
die böse Schwiegermutter gehört, zu
lebenstüchtigen Menschen heranwachsen
könnten. Generationen von nachfolgenden
Moralpädagogen haben ihm diesen Schritt
vorgehalten, der ihn auch als ernstzunehmenden
Theoretiker der Erziehung diskreditiere.
·
Professioneller Erzieher
Doch
nicht nur als Vater versagt er, auch
sein Versuch, als professioneller Pädagoge
tätig zu werden, endet im Fiasko. Zwei
Kinder soll er als Hauslehrer erziehen,
und ein Jahr hält er es mit ihnen aus
- bzw. die Familie mit ihm. In seiner
Selbstreflexion muß er sich seine erzieherische
Unfähigkeit eingestehen, da er den Kindern
nur dann ein guter Mensch war, wenn
sie sich so verhielten, wie der Erzieher
es sich wünschte. Waren sie widerspenstig,
dann bestimmte Jähzorn, Wut und Unnachsichtigkeit
sein Verhalten. So bleibt die berufliche
Erziehertätigkeit zum Glück ein einmaliges
Gastspiel in seinem Leben. Es ist meine
These, daß eine wichtige Fähigkeit,
die ein professioneller Erzieher haben
muß, die ist, für die Zeit des Umgangs
mit den Kindern seinen Egozentrismus
zurückstellen zu können. Wenn diese
These richtig ist, wie soll da ein Mensch
im pädagogischen Geschäft Erfolg haben
können, den vor allem sein Egozentrismus
auszeichnet?
·
Religion
Damit
ein Kind gesund groß werden kann, bedarf
es vor allem anderen der langen, verläßlichen
Erfahrung von Heimat. Vater und Mutter
gehören dazu, und auch die Religion
trägt ihren Teil dazu bei: Kirchenlieder,
die im Kopf klingen, Reste von Gebeten
und liturgischen Formeln, Gerüche und
Bilder. Der Junge wächst im reformierten
Bekenntnis auf, doch der herumstreunende
Jugendliche gibt für ein Butterbrot
und Dach über den Kopf seinen Glauben
auf und tritt zur katholischen Kirche
über. Selbst einen, wenn gleich nur
kurzen und erfolglosen Versuch, Priester
zu werden, unternimmt er. Als erwachsener
Mann wird er den Schritt der Konvertierung
bedauern und als einen Verlust von Heimat
empfinden. Er tritt zurück in das alte
Bekenntnis, doch auch in dieser Hinsicht
ist es zu spät. Eine der stärksten literarischen
Stücke, das er uns hinterlassen wird,
ist ein flammendes Bekenntnis zu einer
natürlichen Religion, die jedem Menschen
eingeboren ist, und die jeder spezifischen
Bekenntnisformulierung vorgeordnet ist,
sei sie christlicher, jüdischer oder
moslemischer Art. Weil der Mensch nicht
wissen kann, was die „richtige“ Kirche
sei, ist Toleranz allen religiösen Bekenntnissen
gegenüber wichtige Forderung. Doch trotzdem
folgt für ihn daraus nicht eine religiöse
Beliebigkeit, sondern die unbedingte
Forderung, in der Religion der „Väter“
zu verbleiben und ihre Forderungen zu
erfüllen. Ein Mensch auf der Suche nach
Heimat.
·
Flucht/Verfolgung
Die
Zeit, in der er sein „Glaubensbekenntnis“
schreibt, ist die Zeit atheistischer
Spielereien breiter intellektueller
Kreise. Diese vertragen sich durchaus
mit den Mächtigen der Amtskirche, während
der auf seine Weise Gott Suchende einer
unerbittlichen Verfolgung ausgesetzt
wird. Nicht nur die katholische, sondern
auch die eigene, reformierte Kirche
beteiligt sich, und das Leben endet
so in Flucht, Verfolgung
und Verfolgungswahn.
II.
Grundgedanken
·
Menschliches Glück
Doch
Resignation ist nicht die Sache unseres
Helden, weder in ihrer selbstbemitleidenden
depressiven noch in ihrer auflehnerisch
aggressiven Form. Und in unsere Zeit
hinein, in der die Watzlawicksche „Anleitung
zum Unglücklichsein“ Rekordauflagen
erreicht, können seine theoretisch-pädagogischen
und seine autobiographischen Schriften
als provokative „Anleitungen zum Glücklich-Sein“
gelesen werden. „Man muß glücklich sein“,
so schreibt er in seinem Emile, „das
ist der Endzweck eines jeden fühlenden
Wesens“ (S. 588). Glücklich sein meint
nicht, für die anderen glücklich scheinen,
sondern unabhängig von den Vorurteilen
der anderen ganz in sich selber ruhen.
In seinem unvollendeten, letzten Werk,
den „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“,
gibt er die Summe seiner lebenslangen
Lernerfahrung wieder, „daß die Quelle
des wahren Glückes in uns selbst ist
und daß keine irdische Macht einen Menschen
wahrhaft unglücklich zu machen vermag,
der da weiß, daß er glücklich sein will“
(657).
Was
habe ich zu tun, um dieses menschliche
Glück zu erreichen? Die wichtigste Regel
lautet: „das Joch der Notwendigkeit
ohne Murren ertragen“ (733). Das Schicksal
wirft uns zur einen oder zur anderen
Seite, ohne daß wir es beherrschen können.
Krankheiten mögen kommen, gesellschaftliche
Veränderungen, die uns nach unten treiben,
und kleinlicher Zank mit den Mitmenschen
kann uns niederdrücken. Wohin das Schicksal
dich treibt, es kann dir nichts anhaben,
wenn du ruhig deinen eigenen Lebensplan
weiterverfolgst: zu dir „selbst zurückzufinden“
(734). Diesen Gedanken gilt es ins Pädagogische
zu wenden, mit einer prägnanten Formulierung
Jean-Jacques Rousseaus ausgedrückt:
wenn es sein muß, „auf Islands Eisschollen
oder auf Maltas glühenden Felsen“ (16f)
leben zu können, ist das Ziel der Erziehung.
Reeichtum oder Armut, Gesundheit oder
Krankheit, gesellschaftliche Anerkennung
oder Verachtung werden dem Menschen
nichts anhaben können, der von Kindheit
an gelernt hat, seine Bedürfnisse auf
das Maß einzuschränken, das er mit seinen
eigenen Fähigkeiten befriedigen kann.
·
Entwicklungspädagogik
Das
zentrale Motiv, das Jean-Jacques Rousseau
in die Geschichte erzieherischen Denkens
einbringt, ist das der Entwicklungspädagogik.
Diese These klingt banal und ist alles
andere als die an dieser Stelle von
der Tagungsleitung vorgesehene „Provokation“.
Natürlich ist es alltägliches Erzieherwissen,
daß ein Kind ein Kind ist, daß es sich
anders verhält, anders denkt und fühlt
als ein Erwachsener und daß es demgemäß
zu behandeln ist. Auf jedweder Stufe
der Ausbildung für pädagogische Berufe
stehen entwicklungspsychologische Inhalte
auf dem Stundenplan, damit der angehende
professionelle Erzieher lernt, wie er
in seinem Verhalten auf die Strukturen
kindlichen Denkens und Fühlens Rücksicht
zu nehmen habe. Doch diese heutige Sichtweise
trifft nicht, was Rousseau mit Entwicklungsgemäßheit
meint. Ihm geht es damit nicht nur um
die methodische Frage nach dem „Wie“,
auch nicht vorwiegend um die inhaltliche
nach dem „Was“ in der Erziehung. Im
Mittelpunkt steht vielmehr die Zielfrage
nach dem „Wohin“: Auf jeder Stufe seines
Lebens soll Emile glücklich sein, und
erst wenn die jetzige Stufe zu ihrer
vollen Reife gelangt ist, kann der Überschlag
zur nächsten erfolgen. Mit anderen Worten:
pädagogisch gesehen habe ich nicht auf
die nächste Entwicklungsphase zu schielen,
die es durch ein Beschleunigungsprogramm
zu erreichen gälte, sondern die Möglichkeiten
zu verstärken, die ein Kind in seiner
jetzigen Lebensphase hat. Um es noch
einmal an einem Beispiel zu sagen: Das
Ziel des Kindergartens ist es nicht,
daß ein Kind „schulreif“ wird, damit
es zur Schule überwechseln kann, sondern
das Ziel des Kindergartens ist die „Kindergartenreife“.
Was Jean-Jacques Rousseau uns anbietet,
ist nicht eine psychologische, sondern
eine pädagogische Sichtweise des Prinzips
der Entwicklungsgemäßheit, deren wichtigste
Forderung an den Erzieher lautet: denk
dir das Kind nicht weiter, als es jetzt
ist; sei um das Glück seiner Gegenwart
bemüht, diese Aufgabe ist schwieriger
als du glaubst!
·
Bedürfnis und Fähigkeit
„Glück“
ist das Ziel des Menschen, der dieses
dann erreicht, wenn er frei ist, und
frei ist er, wenn er stark ist, um auf
eigenen Füßen unabhängig zu leben, und
stark ist er, wenn seine körperlichen,
geistigen und seelischen Kräfte in einem
ausgeglichenen Verhältnis zu seinen
Bedürfnissen stehen. Die Reihenfolge
des letzten Satzes anders herum formuliert:
habe ich nur so viele Bedürfnisse, wie
ich Fähigkeiten habe, diese selbst zu
befriedigen, so bin ich stark, unabhängig
und frei; ich kann mich auf mich selbst
zurückziehen, egal welche Geschehnisse
mich von außen her zu beeinflussen versuchen,
und ich bin deshalb glücklich. Das entscheidende
Prinzip, nach dem Jean-Jacques Rousseau
die Entwicklungsstufen des Menschen
bildet, ist das des Verhältnisses von
Kraft und Bedürfnis. Fünf Phasen sind
es, die er unterscheidet: das Säuglingsalter,
die frühe Kindheit, die Lernzeit vor
dem „Erwachen der Leidenschaften“, das
Jugend- und schließlich das Heranwachsendenalter.
III.
Frühe Kindheit
Nach
der Säuglingszeit, die gekennzeichnet
wird durch das Recht des Kindes auf
ungehinderte Bewegung, durch sein Recht
auf die Mutterbrust und sein Recht auf
den Vater, und an dieser Stelle läßt
Jean-Jacques sein schlechtes Gewissen
bezüglich der eigenen Verfehlung mehr
als durchscheinen, beginnt die Epoche,
die wir als „frühe Kindheit“ bezeichnen,
die Zeit vor dem ABC- und dem Rechenlernen,
die Zeit vor der Schule. Die erste Überraschung
ist, daß Rousseau diese Phase bis ins
zehnte/zwölfte Lebensjahr ausgedehnt
wissen will. Lernen Kinder in unserer
Zeit immer früher in wohl ausgeklügelten
didaktisch-methodischen Arrangements,
so fragt Jean-Jacques Rousseau viel
grundsätzlicher: worin besteht das Glück
des Kindes, und was ist pädagogisch
geboten, um dem Kind zur Kindheitsreife
zu verhelfen? Nicht, daß Emile nichts
lernt, wenn er lernt, glücklich zu sein.
Denn “den ganzen Tag zu springen, zu
spielen, herumzulaufen“ (107f), das
ist doch etwas!
·
Konsequenzen aus der Schwäche des Kindes
In
seinem Lebensziel, glücklich zu sein,
hat das kleine Kind ein entscheidendes
Handikap: es ist „von Natur aus“ schwach,
weil es noch nicht einmal seine elementarsten
Bedürfnisse selbst befriedigen kann.
Aus diesem Gedanken ergeben sich wichtige
pädagogische Konsequenzen. Zum ersten:
Eltern sind dazu da, angesichts der
fehlenden
Kräfte dem Kind beizuspringen.
Ähnlich wie es der Pfarrer vor der Kollekte
zu der Gemeinde sagen kann, sollen auch
wir Erzieher dem Kind fröhlich, freiwillig
und großzügig geben. Die zweite Konsequent
ist: verhelft dem Kind zur größeren
Stärke, indem ihr Gelegenheit schafft,
daß es seinen Körper üben kann. Maria
Montessoris „Übungen des täglichen Lebens“
lassen sich durchaus als Konkretisierung
dieser Rousseauschen Forderung verstehen.
Die dritte Konsequenz aus der natürlichen
Schwäche des kleinen Kindes ist charakteristisch
für Jean-Jacques Rousseau: Halte dein
Kind in der Abhängigkeit von den Dingen,
die es nicht ändern kann, aber vermehre
diese nicht durch die widernatürliche
Abhängigkeit von den Menschen. „Das
schwere Joch der Notwendigkeit“ (84f)
läßt sich nicht vermeiden - für den
Erwachsenen nicht und für das Kind auch
nicht -, und wir müssen lernen, dies
zu akzeptieren, um nicht unnötig unseren
Kopf daran zu stoßen. In diesem Sinne
polemisiert Rousseau gegen verzogene
Kinder, die den Tisch schlagen oder
das Meer auspeitschen. „Sie werden“,
so schreibt er, „viel zu peitschen und
zu schlagen haben, ehe sie zufrieden
sind“ (79) Während dem Gesetz der Herrschaft
der Dinge ausweichen zu können, gefährliche
Illusion ist, ist die Herrschaft des
Erziehers über das Kind Willkür. Gilt
für die Dingwelt die Forderung der Notwendigkeit,
so soll in der Beziehung des Erwachsenen
zu dem Kind Freiheit herrschen.
Die
vierte pädagogische Konsequenz schließlich,
die sich aus der natürlichen Schwäche
des Kindes ergibt, ist die Mahnung an
die Erziehenden, die Schere zwischen
Begierden und Fähigkeiten nicht durch
eine künstliche Vermehrung der Bedürfnisse
weiter auseinandergehen zu lassen. Ein
Kind, das immer mehr erhält, wird immer
abhängiger von den Erwachsenen, weil
seine Bedürfnisse dadurch entfacht werden,
ohne daß die Fähigkeitsentwicklung mithalten
könnte. In unseren Tagen können wir
ein Lied von den Konsumkindern singen,
die unglücklicher werden, je mehr sie
geschenkt bekommen. Es ist, als tränken
sie aus einem Salzmeer. Jean-Jacques
Rousseau stimmt hier in den Ton ein,
den der Theologe und Pädagoge Johann
Amos Comenius gut 100 Jahre vorher in
seinem Alterswerk „Das Einzig Notwendige“
angestimmt hatte: Einfachheit ist der
Ariadnefaden aus den menschlichen Labyrinthen.
·
Zielformulierung
Mit
zwei Zitaten möchte ich die Zielformulierung
für die Stufe der Kindheit im Sinne
Jean-Jacques Rousseaus umschreiben.
Vielleicht können Sie sie als Provokation
auf unsere Kindheits- und Erziehungsverständnisse
wirken lassen. Das erste richtet sich
an die Mutter, und es findet sich am
Beginn des Erziehungsromans: „Mutter: ... Baue beizeiten einen Zaun um die Seele deines Kindes.“
(10) Der zweite ist eine Ermahnung an
den „jungen Lehrmeister“, der als Professioneller
das Erziehungsgeschäft betreiben will.
Es steht gegen Ende des Buches, das
sich mit der Kindheitsphase beschäftigt:
„Junger Lehrmeister ... Sie werden es niemals so weit bringen, daß Sie
Weise schaffen, wenn Sie nicht zunächst
Gassenbengel geschaffen haben.“
(126f) Der Zaun um die Seele des Kindes
und der Gassenbengel - was fangen wir
mit diesen Zielformulierungen an?
·
Kindheitsaustreiber und Allesversteher
Der
erste Satz richtet sich zunächst gegen
die Kindheitsaustreiber: Jetzt bist
du sechs Jahre alt, und du müßtest doch
endlich dies oder jenes wollen, können
oder tun!“ Ja: er ist sechs Jahre alt;
aber nein: er will, kann oder tut nicht.
Erziehung hat es nicht primär damit
zu tun, daß ein Kind anders wird, als
es gegenwärtig ist, sondern Erziehung
hat eine bewahrende Funktion: Hüter
der Kindlichkeit der Kinder zu sein.
Der Satz von dem Bau des Zaunes um die
Seele des Kindes richtet sich auch gegen
die Allesversteher, eine Gruppe von
professionellen Pädagogen, die gerade
in unserer Zeit Konjunktur hat. Vor
welchem psychologischen Hintergrund
man auch immer ausgeht - Freud, Rogers
o.ä. -, mit der Theorie meint man einen
Schlüssel in der Hand zu haben, von
dem her sich die Tür zu einem Verständnis
der Seele des Kindes auftut. Man meint
irgendeine und jede Äußerung eines Kindes
verstehen zu können, und versteht nicht,
daß man nur vorurteilshaft seine theoretischen
Vorurteile bestätigt. Demgegenüber waren
die alten Intelligenztests schon einfacher
zu durchschauen, die kreisförmig begründeten,
daß Intelligenz das sei, was der Intelligenztest
mißt. Der Zaun um die Seele des Kindes
schützt gleichermaßen vor dem Überschwemmtwerden
des Inneren durch den ganzen Schmutz
des Außen wie vor den neugierigen Blicken
der scheinbar psychologisch Kompetenten.
Wie will ein Erwachsener ein Kind verstehen,
das noch nicht einmal selbst weiß, wer
es ist, da es sich noch nicht zu dem
gebildet hat, was es sein kann. Der
Zaun schützt die Blume vor den Übergriffen
derer, die die Knospe aufreißen wollen,
um in das Innere zu sehen.
·
Bewahrung/Handeln nicht quatschen
Der
„Zaun um die Seele des Kindes“ hat Auswirkungen
für das praktische Handeln des Erziehers.
Eine Konsequenz, die Jean-Jacques Rousseau
wichtig ist, lautet: Lasst sowohl die
Vernunft wie die Seele des Kindes in
Ruhe. Die Kindheit ist der „Schlaf der
Vernunft“ (107f), und wir sollen uns
hüten, ihn aufzuwecken. „Jedes Ding
hat seine Zeit“, heißt es im Alten Testament,
und die Zeit der Kindheit ist die Zeit
des körperlichen und sinnlichen, nicht
aber des vernunftmäßigen und moralischen
Lernens. Das ist das, was Jean-Jacques
Rousseau mit „negativer Erziehung“ meint:
dem Kind nicht „Tugend und Wahrheit“
lehren, „sondern das Herz vor dem Laster
und den Verstand vor dem Irrtum“ (88)
bewahren. In diesen Zusammenhang gehört
auch die wichtigste Erziehungsregel,
die Rousseau uns für die Kindererziehung
gibt: Die Zeit gilt es nicht „zu gewinnen,
sondern .,.. zu verlieren“ (87f). Wie
lange hält es heute ein professioneller
Pädagoge aus, wenn ein traurig- weinendes
Kind oder ein aggressiver Rabauke vor
ihm steht? Zeit verlieren, nicht gewinnen.
Eine
zweite praktische Konsequenz aus dem
Bild von dem Bau des Zaunes um die Seele
des Kindes läßt sich umgangssprachlich
so ausdrücken: handelt mit dem Kind
und quatscht nicht! Hier wäre jetzt
Platz für viele satirische Bemerkungen
zur Kindererziehungssituation in unseren
Tagen, denn nichts charakterisiert sowohl
das professionelle wie die mittelschicht-familiale
mehr, als daß alles zum Gegenstand des
Zerredens wird. Es läßt sich geradezu
ein Gesetz formulieren: Je professioneller
der Erziehungsbereich ist, desto mehr
wird alles zerredet. Kein Furz des Kindes,
der nicht Gegenstand ausführlicher verbaler
Debatten würde, der nicht hin- und hergespiegelt
würde - in aller Ausführlichkeit gegenüber
dem Kind und, weil das nicht ausreicht,
in Gesprächsrunden der Professionellen
im internen Bereich, die glücklich sind,
wenn sie ein Kind mal richtig „durchsprechen“,
von allen Seiten beleuchten. Das „Besprechen“
gehört in den Bereich des Aberglaubens,
dort sollten wir es belassen.
·
Gassenbengel
Lassen
wir die Polemik und wenden uns der zweiten
Zielbeschreibung Jean-Jacques Rousseau
zu: Es gilt, einen Gassenbengel zu schaffen
und nicht einen Weisen. Neben dem notwendigen
„negativen“ Pol der Erziehung steht
damit das Positive. Nun mag jeder, der
die Geschichte von dem „Gassenbengel“
hört, unterschiedliche Assoziationen
zu diesem Wort haben. Eine erste Annäherung
ist vielleicht ein Zitat von
Janusz Korczak, das ich Ihnen in diesem
Zusammenhang anbieten kann: „Kinder wollen lachen, herumtollen, ihren Mutwillen
treiben. Erzieher, wenn das Leben für
dich ein Friedhof ist, so laß doch wenigstens
sie es als eine Wiese betrachten.“
(Das Internat, in: Wie man ein Kind
lieben soll, Göttingen 19723,
S. 205) Darum geht es auch Jean-Jacques
Rousseau: Kinder tollen herum, sie sind
ausgelassen, manchmal bis zur Übermütigkeit,
ständig bereit, ihren Körper dahin zu
wenden, wo ein interessantes Schauspiel
zu erwarten steht, sie lachen, und es
kann passíeren, dass ihr Lachen augenblicklich
in Weinen umschlägt, immer ist ihr Kopf
und Körper bereit, die Gelegenheit zum
Spiel zu nutzen, als die Welt verdrehendes
Symbolspiel bei den Kleinen und als
Wettkampfspiel, das die eigenen Fähigkeiten
herausfordert, bei den Größeren. Kinder
haben ihre Gassenbengelschläue, die
ihnen den Weg weist, um Spannendes zu
entdecken; sie haben ihre Gassenbengelmoral,
die sich so sehr von unserer unterscheidet
und eher nach dem Prinzip „jeder für
sich und Gott (und Eltern) für alle“
funktioniert; und sie haben ihr Gassenbengelgefühl,
das vor großen Gefahren nicht zurückschreckt
und den Schmerz ertragen kann, wenn
er im fairen Kampf und auf dem Weg zum
Abenteuer passiert, das aber äußerst
empfindlich ist, wenn ungerecht man
sich behandelt glaubt oder die Gefahr
des Verlustes der schützenden Hand der
Eltern droht. Ziel der Erziehung ist
es nicht, die Kindlichkeit zu vertreiben,
das Kind an das anzupassen, was er dermaleinst
als Erwachsener sein soll und sein wird.
Ziel der Erziehung ist es vielmehr,
die Gassenbengelschläue, die Gassenbengelmoral
und das Gassenbengelgefühl zur vollen
Reife kommen zu lassen.
·
Bewegungserziehung
„Jedes
Ding hat seine Zeit“ - und die Zeit
der Kindheit ist nicht die der Förderung
der Vernunft, der sprachlichen Intelligenz,
der Moral, der gesellschaftlichen Eingliederung,
der Religion. All dies ruht jetzt noch,
und es kann erst unterstützt werden,
wenn das Kind aus dem vernünftigen,
moralischen, sozialen und religiösen
Schlaf erwachen wird. Jetzt gilt es,
den Körper zu üben, der Träger aller
weiteren psychischen Funktionen ist.
„Bewegungserziehung“ ist der Hauptgegenstand
des Lernens der Kinder. Und für die
Zuhörer, die jetzt mit leuchtenden Augen
an „Psychomotorik“ denken, möchte ich
folgende Stelle aus dem Emile vortragen,
in der Jean-Jacques Rousseau auf den
Tanzlehrer gemünzt schreibt: “Ich würde
... meinen Zögling, anstatt ihn ewig
mit Herumgebhopse zu beschäftigen, an
den Fuß eines Felsen führen. ... Ich
würde viel eher einen Nacheiferer der
Gemsen als einen Operntänzer aus ihm
machen.“ (155f) Vergessen wir also die
Künstlichkeit der Reizzufuhr des Snoezelens,
das ausgefeilte didaktisch-methodische
Arrangement der Motopädagogik. Die Entwicklung
der Förderung der körperlichen Entwicklung
erfolgt am besten im normalen Leben
und in den Herausforderungen, die die
Natur stellt.
IV.
Das starke Kind
·
Vorrat an Kräften
Im
Anschluß an die Lebensperiode der „frühen
Kindheit“, die, wie erwähnt, Jean-Jacques
Rousseau bis ins zehnte oder sogar zwölfte
Lebensjahr ausdehnt, folgt die Etappe,
die Sigmund Freud später „Latenzphase“
nennen wird. Das Kind ist jetzt sehr
stark, weil es seinen Körper so weit
entwickelt hat, so daß es unabhängig
von den anderen seine Bedürfnisse befriedigen
kann, und weil die sexuellen Leidenschaften,
die bald in dem Kind aufbrechen werden,
noch nicht virulent sind. Jetzt gilt
es die Zeit gut zu nutzen, um „einen
Vorrat (an Kräften) für den schwachen
Mann“ anzuschaffen (192). Eine Phase
intensiven Lernens ist diese Epoche,
die Jean-Jacques Rousseau sich jedoch
nicht als angefüllt mit schulischen
Bildungsprogrammen vorstellt. Seine
Skepsis gegenüber pädagogischen Lerninstitutionen
geht so weit, daß er seinen Emile nur
ein einziges Mal in dessen Leben mit
derartigen Einrichtungen konfrontiert.
Mit dem jugendlichen Emile wird er im
Zusammenhang mit dem Studium der Verdorbenheit
der Gesellschaft einen Besuch in einer
Hochschule machen. Wörtlich schreibt
er: „Um ihn zu belustigen, lasse ich
ihn das Gewäsch der Akademien hören;
ich erkläre ihm, daß jedes ihrer Mitglieder
für sch allein mehr wert ist als innerhalb
der ganzen Körperschaft.“ (449)
·
Nützlichkeit/Lernen des Lernens/Arbeitserziehung
„Natürlichkeit“
und „Lebensnähe“ sind die Kennzeichen
auch der Lernprozesse in dieser Phase.
Die „Nützlichkeit“ des zu erwartenden
Wissens für das gegenwärtige Leben steht
ganz oben auf der pädagogischen Forderungsliste
Rousseaus, gefolgt von dem, was wir
als „Lernen des Lernens“ bezeichnen,
und das sich mit den Worten Jean-Jacques
Rousseaus wie folgt liest: „“Es kommt
nicht darauf an, daß man es die Wissenschaften
lehre, sondern daß man ihm eine Neigung,
sie zu lieben, und die Art und Weise
beibringe, wie es sie lernen soll, wenn
diese Neigung besser entwickelt sein
wird.“ (200f) Rousseaus drittes wesentliches
Element des Erziehungsprogramms dieser
Phase ist die Hinführung zur Arbeitswelt.
Nicht zum Spaß soll Emile die Handwerker
besuchen, um ihnen bei der Arbeit nur
zuzuschauen, sondern er soll selbst
Hand anlegen, denn „eine Stunde Arbeit
(wird ihn) mehr lehren ..., als er von
den Erklärungen eines Tages behalten
würde“ (222). Im Tischlerhandwerk schließlich
soll das Kind so weit eine Meisterschaft
entwickeln, daß er die Möglichkeit hätte,
sein Leben lang auf diese Fähigkeiten
zurückzugreifen, um sich selbständig
erhalten zu können. Zwar ist es nicht
das Ziel, aus Emile einen lebenslangen
Tischler zu machen, aber man weiß ja
nie, wo einen das Schicksal noch hintreiben
wird. Und in der Not zu einem unabhängigen
Beruf zurückkehren zu können, der einem
tägliches Auskommen bietet, ist eine
wichtige Voraussetzung, um unabhängig
zu sein. In dem Fragment gebliebenen
Fortsetzungsroman wird es Emile in der
Tat so ergehen: von Frau, Kindern und
aller Welt verlassen kann er auf die
Fähigkeit seiner Hände zurückgreifen
und sich durch seine Arbeit selbständig
erhalten.
V.
Der Jugendliche
·
Beschreibung
Was
jetzt folgt ist die Epoche, die „Pubertät“
zu nennen wir uns angewöhnt haben. Ich
möchte Sie an dieser Stelle auf die
Sprache hinweisen und auf die Bedeutung,
die die sprachliche Gestaltung für die
Blickrichtung des Erziehers haben kann.
Wenn ich Ihnen jetzt eine längere Passage
aus dem Emile präsentiere, möchte ich
Sie bitten, sie still zu vergleichen
mit dem, was Sie aus einem Handbuch
der Sozialisationsforschung oder Entwicklungspsychologie
kennen: „Er
ist weder Kind noch Mann, und er kann
von keinem von beiden den Ton annehmen.
... er wird empfindlich, ehe er weiß,
was er empfindet; er ist unruhig ohne
jede Ursache. Alles das kann langsam
kommen und einem noch Zeit lassen. Wenn
aber seine Lebhaftigkeit gar zu ungeduldig
wird, wenn ein hitziges Wesen sich in
Wut verwandelt, wenn er von einem Augenblick
zum andern sich erzürnt und wieder sanftmütig
wird, wenn er ohne Ursache Tränen vergießt,
wenn bei den Dingen, die gefährlich
für ihn zu werden anfangen, sein Puls
sich beschleunigt und sein Auge sich
entflammt, wenn eine weibliche Hand,
die auf seiner liegt, ihn erschauern
läßt, wenn er in der Gegenwart einer
Frau verstört oder furchtsam wird: Odysseus,
o weiser Odysseus! so nimm dich in acht;
die Schläuche, die du mit soviel Sorgfalt
zugebunden hast, sind geöffnet; die
Winde sind schon losgelassen; verlaß
keinen Augenblick mehr das Ruder, oder
alles ist verloren.“ (257)
Das
Verhältnis von Bedürfnissen und Kräften
ändert sich jetzt in der Phase, die
Rousseau als „zweite Geburt“ kennzeichnet,
dramatisch, weil eine Fülle neuer Begierden
auf den Jugendlichen einstürmen und
er hinter all den neuen Empfindungen
nicht recht hinterherzukommen weiß.
Da der Bezugspunkt der Pädagogik Rousseaus
die Relation von Fähigkeiten und Wünschen
ist, und da das Glück des Menschen nur
im Falle des Gleichgewichts der beiden
Faktoren erreichen werden kann, ergibt
sich in der Pädagogik des Jugendalters
erneut eine dramatische Veränderung
in der Bestimmung des pädagogischen
Verhältnisses, der erzieherischen Inhalte
und der anzuwendenden Methoden.
·
Leidenschaften
Die
Natur des Menschen ist gut - nichts
kann Rousseau von dieser Überzeugung
abbringen. Wie könnte dann das Erwachen
der „Leidenschaften“, die im Programm
der Natur vorgesehen sind und die jetzt
mit großer Heftigkeit nach außen drängen,
„böse“ sein? Gleichzeitig ist Rousseau
zu sehr Gesellschafts- und Kulturkritiker,
als daß er alle Erscheinungen des Menschen
unter dem Gesichtspunkt der guten Natur
betrachten könnte. Ein Programm der
künstlichen Beschleunigung bewirkt,
daß die Bedürfnisse immer weiter ausgedehnt
und verzerrt werden. Die natürliche
„Eigenliebe“, nach der die erste Bestrebung
eines jeden Menschen in der Suche nach
dem eigenen Glück besteht, wird in die
„Selbstliebe“ („Selbstsucht“ Röhrs)
verwandelt, die von allen anderen fordert,
auch sie mögen unser und nicht ihr Glück
an die erste Stelle setzen. „Herrschsüchtig,
eifersüchtig, betrügerisch, rachgierig“
(S. 259) wird ein solcher Mensch werden.
Wie muß demgegenüber das Programm einer
Erziehung aussehen, das sich an dem
„Gang der Natur“ orientiert? In vier
Schritten entwickelt Rousseau seine
Empfehlungen zur Jugenderziehung.
·
Verzögerung
Dem
starken gesellschaftlichen Druck der
Verfrühung, der den sexuellen Begierden
der Jugendlichen immer neue Anreize
verschafft, gilt es pädagogisch gegenzusteuern:
nicht möglichst schnell den Schritt
vom Kind zum Mann provozieren, sondern
„die
Unschuld der Kinder“ (S. 262) möglichst
lange erhalten. Denn der Weg, den der
Jugendliche zurückzulegen hat, ist nicht
nur der Schritt der sexuellen Reife,
der erste Geschlechtsakt als Befriedigung
triebmäßiger Bedürfnisse, sondern es
gilt ein ausführliches Studium zu absolvieren,
um zur Liebe fähig und ein sittlicher
Mensch zu werden. Der pädagogischen
Forderung nach Langsamkeit kommt der
Erzieher dadurch nach, daß er den Ort,
die Umgebung und den Freundschaftskreis
des Jugendlichen sorgfältig auswählt:
Nicht in der lärmenden Großstadt Paris
soll Emile diese Lebenszeit verbringen,
sondern in der ländlichen Abgeschiedenheit;
nicht in vergnügungssüchtigen Gesellschaften,
die die Begierden aufheizen, soll er
sich bewegen, sondern in kleinen Kreisen
wirklicher, einfacher Freundschaften.
Langsamkeit bewirkt der Erzieher weiterhin
dadurch, daß er den Inhalt des Studiums
richtig auswählt: Nicht den scheinbaren
Glanz des prunkvollen, prahlerischen
Lebens soll Emile erfahren, sondern
es geht um das Studium des gemeinsam
Menschlichen, und da Leiden dasjenige
ist, dem kein Mensch in seinem Leben
ausweichen kann, soll Emile „Mitleid“
lernen. Der Jugendliche soll an einigen
Beispielen das Leid von Menschen erfahren,
indem er zur Selbstbetroffenheit geführt
wird. Langsamkeit wird schließlich dadurch
erreicht, daß das Verhältnis des Jugendlichen
zu dem Erzieher sich verändert: Weil
der Jugendliche in seiner gesamten Kindheit
erfahren hat, daß der Erzieher um sein
Wohl besorgt gewesen ist, wird er jetzt
Freundschaft zu ihm verspüren, und die
Freundschaft geht nach Rousseau der
gegengeschlechtlichen Liebe voraus.
·
Menschenstudium
Der
Jugendliche soll in der Gesellschaft
handlungsfähig werden, denn es ist nicht
das Ziel der Pädagogik, einen „Wilden“,
einen fiktiven „Naturmenschen“ zu erziehen.
Weil andererseits eine kritiklose Anpassung
an die menschenverachtende Gesellschaft
nicht der Zielpunkt einer Erziehung
sein kann, die auf das Glück des Kindes
und Jugendlichen ausgerichtet ist, ergibt
sich die Frage, welche Stellung der
Mensch zu dem Leben seiner Zeit einnehmen
soll. Weil einerseits unbefragte Teilnahme
an dem gesellschaftlichen Spiel nicht
sinnvoll, andererseits ein freies und
unabhängiges Leben in der Natur nicht
möglich ist, muß der Jugendliche den
Menschen in seiner Doppelgestalt studieren.
Auch an diesem kritischen Punkt der
Erziehung soll er nicht durch wortreiche
Erklärungen die Moral erlernen: Er soll
vielmehr in „die Gefahr laufen“ (S. 306) - allerdings
auch hier mit wohlwollender Begleitung
seines Erziehers -, um die Hinterlistigkeiten
und Betrügereien am eigenen Leibe zu
spüren. Wichtig ist also, daß man dem
Jugendlichen das Recht einräumt, Fehler
machen zu können. Hat er so den „Menschen
in der Maske“ studiert, so wird er angesichts
des Kontrastes zu der bisher von ihm
empfundenen positiven Menschlichkeit
nur zu einem negativen Urteil des empirischen
Menschen und seiner Verhältnisse gelangen
können. Jetzt gilt es nur noch seiner
Hoffärtigkeit vorzubeugen, sich als
moralisch Überlegener zu fühlen. Neben
dem Studium der Geschichte und der aktiven
Teilhabe am gesellschaftlichen Spiel
ist die „Übung der Tugend“ (S. 313) das dritte Element in der zweiten Etappe
der Erziehung im Jugendalter. Emile,
der das Mitleiden gelernt hat, soll
durch „aktive Nächstenliebe“ sich anderen
Menschen zuwenden, indem er Hand anlegt,
um Menschen mit Problemen zu helfen,
·
Religion
Rousseau
wendet sich mit Heftigkeit gegen eine
religiöse Erziehung im Kindesalter.
Weil die Kinder noch keine Vernunft
haben, können sie ein Reden über Gott
nicht verstehen, und sie würden ihr
Gottesbild an dem orientieren, was sie
kennen: die Stärke des Vaters beispielsweise.
Habe sich aber erst einmal ein falsches
Urteil im Kopf des Kindes festgesetzt,
so würde es späterhin nur sehr schwer
möglich sein, dieses Vorurteil zu korrigieren
und ein Gottesbild zu entwickeln, das
diesem angemessen sei. „Götzendiener“ (S. 322) nennt Rousseau deshalb das Kind, das scheinbar
an Gott glaubt. „Jedes Ding hat seine
Zeit“ - und die Zeit der Erfahrung von
Religion und Sittlichkeit ist das Jugendalter.
Hier allerdings ist sie ein, ja sogar
der wichtigste und notwendigste Schritt
in der Bildung des Menschen.
·
Liebe
Die
Zeit der pädagogisch bewußt reflektierten
Verzögerung ist vorbei. Der Jugendliche
ist zum „Mann“ geworden, und der Erzieher
muß ihn als solchen behandeln: „Denken
Sie daran, daß man, wenn man einen Erwachsenen
führen will, das Gegenteil von alledem
tun muß, was man getan hat, um ein Kind
zu führen.“ (S. 413) Der Heranwachsende hat Vernunft gewonnen, und es gilt
also, mit ihm über die Hintergründe
der zu treffenden Entscheidungen bewußt
zu diskutieren. Dies heißt nicht, mit
ihm zu „vernünfteln“,
denn auf „Leidenschaften
(kann man) nur durch Leidenschaften
einwirken“ (S. 425) und „die Sprache
des Geistes (muß) durch das Herz gehen,
damit sie verständlich wird“ (S.
419).
In
einem Ablauf von vier Unterphasen soll
das Programm der Erziehung am Ende des
Jugendalters realisiert werden. Jean-Jacques
gibt zunächst in aller Offenheit Emile
Rechenschaft über seine bisherigen Bemühungen,
er reflektiert seine Vorstellungen über
die positiven Ziele der Erziehung, er
redet über die Gefahren, denen sich
Emile im Kommenden gegenübersieht, und
er nennt die Aufgaben, die noch vor
ihnen liegen, um den Bildungsprozeß
zum Abschluß zu bringen. Danach wird
ein neuer „Vertrag“ zwischen dem Erzieher
und Emile geschlossen. Dieser verlangt
dem Zögling Gehorsam gegenüber dem Erzieher
ab, wenn seine Leidenschaften ihn in
Gefahr bringen könnten; er fordert zum
zweiten von dem Erwachsenen, daß er
in den anschließenden ruhigen Zeiten
seine Gründe für mögliche Einschränkungen
offenlegt; und er bestimmt zum dritten,
daß Emile „zum Richter“ zwischen dem
Erzieher und sich selbst festgelegt
wird. Von der so bekräftigten Autorität
des Erziehers sagt Jean-Jacques, „wird meine erste Sorge sein, daß ich die Notwendigkeit
entferne, mich ihrer zu bedienen“
(S. 425). So paradox wie dieser Erziehungsvertrag
ist auch die folgende Phase: Emile wird
in die Pariser Gesellschaft eingeführt,
indem ihm gleichzeitig das Bild einer
möglichen Ehefrau vorgestellt wird.
Der Prozeß des Verliebtmachens, der
Herausbildung einer Vorstellung von
der möglich-wirklichen „Gefährtin“ geht
so weit, daß diese einen Namen erhält:
„Wir
wollen“, sagt Jean-Jacques zu Emile,
„deine
künftige Geliebte Sophie nennen. Sophie
ist ein Name von guter Vorbedeutung“
(S. 428f). Die vierte Phase besteht
schließlich darin, daß Emile den Teil
der Bildung nachholt, den der übliche
Zögling wesentlich früher erhält: Bücher
lesen, Sprachen lernen, die Literatur
kennenlernen, Theater besuchen usw.
Emile
hat jetzt die große Welt hautnah erlebt,
doch im Angesicht des Bildes seiner
künftigen Geliebten kann sie nur Verachtung
erzeugen. Sophie kann hier nicht gefunden
werden, und so gilt es Abschied zu nehmen:
„Lebe
wohl, Paris; wir suchen die Liebe, das
Glück, die Unschuld; wir können uns
dabei niemals weit genug von dir entfernen.“
(S. 465)
VI.
Abschluß
·
Fragen
Ich
habe Ihnen eine Kurzzusammenfassung
der jugenderzieherischen Vorstellungen
Jean-Jacques Rousseaus vorgetragen,
ohne sie durch angedeutete Bezüge auf
unsere heutige Situation zu unterbrechen.
Bei einigen Zuhörern mag angesichts
der eigenen Erfahrungen mit einem schwierigen
Klientel der Eindruck welt- und zeitfremder
Ideen aufgekommen sein, die im aktuellen
Erziehungsgeschäft wenig helfen. Ich
möchte Sie nicht vom Gegenteil überzeugen
und statt dessen lediglich zwei Punkte
beispielhaft herausgreifen:
Welcher
Jugendliche, der heute in eine Einrichtung
der Erziehungshilfe kommt, läßt sich
von seinem Erzieher etwas sagen, was
über die allernotwendigsten Dinge hinausginge,
die ein Miteinder gewährleisten? Mit
wem ließe sich ein Vertrag abschließen,
der den Vorstellungen Jean-Jacques nahekäme?
Also beschränkt man sich auf das Notwendigste
und läßt die Jugendlichen, schiebt man
sie nicht in andere Einrichtungen ab,
machen, was sie wollen- Nur: was ist
das für eine Autorität, die es laufen
läßt, wie es eh liefe? Dieser ganze
Fragenkomplex ist zugegebenermaßen ein
äußerst schwieriges Konfliktfeld, und
einfache Antworten verbieten sich. Nur
auf einen Aspekt möchte ich hinweisen:
die starke Rolle des Jean-Jacques gegenüber
Emile beruht auf jahrelangen Erlebnissen
ehrlicher Freundschaft, und diese auf
einer fortdauernden Erfahrung der Bedürfnisbefriedigung
und des Sicherheit gebens. Die Entwicklung
des pädagogischen Bezuges läßt sich
nicht von oben her aufbauen, sondern
nur von unten nach oben.
Und
die zweite Frage: viele der Jugendlichen
in Einrichtungen der Erziehungshilfe
wissen bereits als Kinder alles: Sie
haben sexuelle Ausbeutung und körperliche
Gewalt erfahren, Alkoholismus und Drogensucht
erlebt, materielle Armut gespürt und
das Gesetz des Dschungels als Heilmittel
dagegen erobert. Was soll da die pädagogische
Forderung nach Langsamkeit und Verzögerung?
Ich mache mich doch nicht lächerlich!
Zugegeben. Nur: Gerade weil sie Hilflosigkeit,
Sexualität, Gewalt, Alkoholismus usw.
in einem Alter erfahren haben, wo Schutz,
Versorgung, eigene Kraftentwicklung
angestanden hätten, wird die pädagogische
Forderung nach einem „Zurück“ notwendig.
Soll der Jugendliche das Erlittene jetzt
nicht mechanisch als aktive Gewalt oder
Selbstzerstörung ausleben, soll er vielmehr
herausfinden, wer er seinem Wesen nach
sein kann, dann bedarf er der Erfahrungen,
ohne die kein Mensch gesund groß werden
kann. Verläßlichkeit, Versorgtwerden,
Heimat, pädagogische Liebe gehören dazu.
Die
Provokationen, die Jean-Jacques Rousseau
in seinem Erziehungsroman „Emile“ für
uns heute bereithält, sind noch lange
nicht zu ende. Da jedoch Ihre Geduld
als Zuhörer wohl langsam erschöpft ist,
möchte ich nur noch auf zwei Punkte
hinweisen und vielleicht zum eigenen
Lesen oder Wiederlesen des Buches motivieren:
·
spannend, weil in so deutlichem Kontrast
zu unseren Vorstellungen von Emanzipation
der Frau stehend, sind die Gedanken
Rousseaus zur Mädchenerziehung;
·
und provokant ist auch die Tatsache,
daß das Erziehungsverhältnis bis zu
dem Zeitpunkt andauert, als Emile, zwischenzeitlich
längst mit seiner gefundenen Sophie
verheiratet, selbst Vater wird.
·
Der letzte Satz
Schließen
möchte ich mit dem Satz, mit dem Jean-Jacques
Rousseau seinen Erziehungsroman beendet.
Emile spricht ihn zu seinem Erzieher,
nachdem er die Schwangerschaft Sophies
angekündigt hat: „Ruhen Sie aus: Es ist Zeit.“ (641)
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