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Johann Heinrich Pestalozzi I

  Home / Texte / II / Johann Heinrich Pestalozzi I

Sigurd Hebenstreit

Johann Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827):
„Besorge dein Kind! Liebe Dein Kind! Versäume es nicht“

Johann Heinrich Pestalozzi ist wohl die bekannteste, größte Erziehergestalt des deutschsprachigen Raumes. Im Verlaufe seines einundachtzigjährigen Lebens hat er uns ein umfangreiches Schrifttum überlassen - 28 dicke Bände umfassen seine „Sämtlichen Werke“, hinzu kommen noch 13 Bände der von ihm verfassten Briefe -, und die Literatur über Pestalozzi ist im Verlaufe der Jahrhunderte zu einem Berg angewachsen, der kaum noch zu überblicken ist. Wie ein riesiger Felsbrocken steht sein Werk in der Landschaft der Geschichte der Pädagogik. Wie Johann Wolfgang von Goethe, mit dem Pestalozzi sich nicht verstanden hat und der ihn nicht verstand, in der Literatur so ist Johann Heinrich Pestalozzi „der“ Klassiker der Pädagogik, an dem kein Weg vorbeiführt. Alle großen pädagogischen Themen finden wir bei ihm wieder: die Frage nach dem Menschen, die Ausdifferenzierung des Verhältnisses von kindlicher Selbstentwicklung und Notwendigkeit des erzieherischen Eingreifens, die Bestimmung der Beziehung von Erziehung und Politik, die Erarbeitung eines differenzierten Erziehungsbegriffs, der nach den Zielen und Methoden pädagogischer Beeinflussung fragt.

Ist er auch ein Klassiker, vergleichbar mit der Gestalt Goethes, so ist gleichzeitig auf eine wichtige Differenz hinzuweisen. War dieser dem aristokratischen Prinzip verpflichtet, an der „Höhe“ des einzelnen Menschen orientiert, so watet Johann Heinrich Pestalozzi durch den „Kot“ der Welt. Gerade der arme Mensch, der entfremdete, unterdrückte interessiert ihn. Kann Erziehung zu seiner Freiheit und Selbstbestimmung etwas beitragen? Pestalozzi wird so zu einem Begründer sozialpädagogischen Denkens in der Pädagogik, der die Schule nicht von ihren sozialen Aufgaben trennt, sondern auch dem ABC-Lernen seine politische und soziale Funktion zuweist.

Und noch ein Unterschied zu Goethe drängt sich auf. Dieser war ein Genie, mit einem leichten Federstrich traf er mitten ins Schwarze, er spielte mit Worten, die dem Leser voll Bewunderung tiefen Sinn vermitteln. Anders Johann Heinrich Pestalozzi. Er wirft seine Gedanken nicht locker dahin, sondern erarbeitet sie sich in mühseligem Prozess. Er rackert, schuftet, um das zu Papier zu bringen, was seinen Kopf bewegt. Goethe ist Künstler, Johann Heinrich Arbeiter. Jener kann ironisch über dem Leben stehen, dieser steckt mitten in den Schwierigkeiten des Lebens. Sein Schreiben ist ein Versuch, den Berg von Problemen Schritt für Schritt abzuarbeiten. Mancher Schritt erweist sich dabei als Fehlgriff, er muss erneut ansetzen - die Anstrengung ist dabei an vielen Stellen auch heute noch spürbar -, um millimeterweise vorwärts zu kommen. Langsam gräbt er sich einen Tunnel durch den Berg. Das Lesen seiner Schriften ist so kein leichtes Vergnügen; es ist nur erfolgreich, wenn man die Anstrengungen des Autors mitträgt, wenn man sich mit ihm gemeinsam durchgräbt, bereit ist, Durststrecken zu ertragen, um späterhin das Licht jenseits des Tunnels zu sehen. Es lohnt sich.



a) Biographisches
Johann Heinrich Pestalozzi ist ein Held, wohl der berühmteste Name in der Geschichte der Pädagogik, so sehr popularisiert, dass jedermann ihn in seinem Gedächtnis hat. Warum aber ausgerechnet Johann Heinrich Pestalozzi? Warum ein Mann, der so gar nichts heldenhaftes an sich hat, dessen Geschichte sich vielmehr eher als die Geschichte eines Scheiterns erzählen lässt? Wenn man von einem Helden etwas Strahlendes, immer Gelingendes, allzeit Beliebtes, etwas Widerspruchsfreies erwartet, dann eignet sich Johann Heinrich Pestalozzi zu nichts weniger als zu einem Helden. Er hat Macken und Kanten - und gerade sie machen ihn liebenswürdig. Er hat die Spur seines Lebens gesucht, wurde aus dem Gleis geworfen und hat Ausschau gehalten, seinen Weg wiederzufinden. Er hat für die Sache einer besseren, gerechteren Welt gekämpft, Niederlagen einstecken müssen und sich Blessuren zugefügt, und er ist aufgestanden, hat weitergekämpft, um sein Ziel und das Ziel der Menschlichkeit nicht aus dem Auge zu verlieren.

Johann Heinrich Pestalozzi - ein Held? Die Geschichtsschreibung der Pädagogik hat das ihre dazu beigetragen, aus ihm einen Heiligen zu machen, der dem irdischen Leben entrückt ist. Johann Heinrich Pestalozzi - ein Held! Doch nicht in seiner Heiligkeit, sondern in seiner Menschlichkeit liegt seine Größe, und das Menschliche ist nicht glatt, sondern voll von Widersprüchlichkeiten. Menschliche Größe zeigt sich nicht darin, diese zuzukleistern, um im äußeren Schein eines glücklichen Lebens zu erscheinen, sondern in der Aufnahme der Konflikte, in der Konfrontation der Widrigkeiten des menschlichen Lebens mit seinen vorgestellten besseren Möglichkeiten. Das Leben mag dann manchmal weniger glücklich erscheinen; die existentiell durchlebte Erfahrung, das sich nicht unterkriegen lassen, das Festhalten an den Idealen und Zukunftsvorstellungen  führt aber zu einem tieferen glücklich Sein.

·       Kindheit und Jugend

1746

12. Januar Geburt in Zürich

1751

Tod des Vaters

1767

Landwirtschaftliche Lehre

1769

Heirat mit Anna Schuldheß

Tätigkeit als Landwirt auf dem Neuhof

1774

Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof

1780

Schriftsteller auf dem Neuhof

1798

Anstaltsleiter in Stanz

1799

Lehrer und Institutsleiter in Burgdorf

1804

Institutsleiter in Yverdon

1816

Niedergang des Instituts in Yverdon

1825

Rückzug auf den Neuhof

1827

17. Februar Tod in Brugg

Johann Heinrich Pestalozzi wird am 12. Januar 1746 als Sohn von Johann Baptist Pestalozzi und seiner Ehefrau Susanne geboren. Der Vater ist von Beruf Chirurg, eine Profession, die damals weniger Ansehen hatte als heutzutage, und für die man keine akademische Ausbildung benötigte. In den neun Jahren ihrer Ehe bekommen die Pestalozzis sieben Kinder, von denen vier allerdings im frühen Alter versterben. Als der kleine Johann Heinrich fünf Jahre alt ist, stirbt der Vater im Alter von 33 Jahren. Zwei Frauen, seine Mutter und die Magd, erziehen ihn. Wirtschaftliche Sorgen bestimmen seine Kindheit. Man will zwar die Zugehörigkeit zur Mittelschicht der Stadt nicht aufgeben, hat also ein Maß an Repräsentationskosten zu verkraften, doch innerhalb der Familie herrscht „äußerste Sparsamkeit“. Der alte Pestalozzi erinnert sich daran, wie er und seine Geschwister im Haus gehalten wurden, um die Kleider beim Spielen auf der Straße nicht abzunutzen. Neben den ökonomischen Zwängen steht die Frauendominanz, die zu einer „träumerischen“ Kinderexistenz führt, die sich im rauen Alltagsleben der Gleichaltrigengruppe nicht recht behaupten kann. Geborgenheit im inneren Kreis der kleinen, unvollständigen Familie steht der Abgeschlossenheit von der Welt außerhalb gegenüber. Ein gewisses Gegengewicht vermag allenfalls der Großvater Andreas Pestalozzi zu schaffen, der als Pfarrer in Höngg - damals ein Dorf nahe Zürichs - lebt. Durch die häufigen Besuche bei ihm kommt Johann Heinrich auch mit dem Landleben in Kontakt.

Mit fünf Jahren besucht er die Elementarschule und wechselt mit acht Jahren auf die Lateinschule über. Positive Erinnerungen sind es wenige, die Pestalozzi von seiner Schulzeit behält. Er scheint zunächst kein guter Schüler zu sein, wobei sich die Leistungen späterhin bessern. Ein wenig als Sonderling erscheint er, der von den Schulkameraden gehänselt und verspottet wird.

Mit 17 Jahren wird Johann Heinrich Pestalozzi Student am Carolinum, eine Züricher Akademie, die auf die Pfarrerslaufbahn vorbereitete. Nach zwei Jahren bricht Pestalozzi sein Studium ab, wobei die Gründe für diese Entscheidung im Dunkel bleiben. Vielleicht gibt den Ausschlag dazu ein Disziplinarverfahren, in das er sich verwickelt sieht, weil er gemeinsam mit Mitstudenten einen Universitätsangestellten denunzierte. Pestalozzi soll ein Studienjahr wiederholen, erscheint jedoch nicht mehr zu den Prüfungen.

In die Zeit der wenigen Studienjahre und der Ungewissheit danach fällt auch Pestalozzis Mitgliedschaft in einer politischen Vereinigung, den „Patrioten. Man wählt bewusst asketische Ideale (kein Tee, Kaffee, Wein, Tabak) und will zurück zur ursprünglichen Einfachheit in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Schriften Rousseaus stehen ganz oben auf der Liste der gemeinsam gelesenen und diskutierten Bücher. Für Johann Heinrich Pestalozzi wird die Zugehörigkeit zu diesem jugendbewegten Kreis in mehrerer Hinsicht zur entscheidenden Weichenstellung: Seine politische Position, für die er ein Leben lang kämpft, wird hier geprägt, auch wenn er sich späterhin gegen den blauäugigen Idealismus gewendet hat; die Berufsentscheidung, Bauer zu werden, erhält hier seine ideenmäßige Vorbereitung, steht das Landleben doch gegen die Verderbtheit der Stadt; und durch diesen Kreis wird er seine spätere Frau kennen lernen.

Johann Heinrich Pestalozzi ist jetzt 21 Jahre alt, finanziell von Seiten der Familie nicht mit einem tragenden Hintergrund ausgestattet, das Studium abgebrochen, politisch ins Gerede gekommen und ohne eine klare berufliche Perspektive. Was soll aus so einem werden?

In diesem Jahr (1767) nähert er sich seiner zukünftigen Frau (Anna Schulthess, 1738 bis 1815). Beide lernen sich durch die Brüder Annas kennen, die wie Pestalozzi zum Kreis der „Patrioten“ gehören. Johann Heinrich liebt Anna, und nach einer Zeit des Zögerns, des Bedenkens, des Abwartens liebt Anna auch Johann Heinrich. Doch insbesondere die zukünftige Schwiegermutter stellt sich der Verbindung entschieden entgegen, sind die Schulthess doch eine wesentlich angesehenere Familie als die Pestalozzis, und in der Ehe mit dem perspektivlosen Johann Heinrich droht Anna der soziale Abstieg. Dazu kommt, dass die Tochter acht Jahre älter ist als der Bräutigam und sie ihm nicht nur sozial, sondern auch erfahrungsmäßig überlegen. Nach zwei Jahren stimmen die Eltern der Hochzeit schließlich zu, Anna ist immerhin 31 Jahre alt und ewig Jungfer soll sie auch nicht bleiben.

Das Jahr der beginnenden Liebe, 1767, ist auch das Jahr der Berufsentscheidung Johann Heinrich Pestalozzis. Er beschließt, Bauer zu werden, und macht eine Lehre auf dem Musterhof von Tschiffeli in Kirchberg .Tschiffeli hat sich in der Schweiz dadurch Ansehen erworben, dass er durch veränderte Anbaumethoden den traditionellen Landbau grundlegend reformierte. In einem Brief beurteilt er Johann Heinrich Pestalozzi einmal wie folgt: „Unser lieber Freund Pestluz ist voll Gefälligkeit und Eifer für mein Haus. ... Etwas Schüchternes in seinem Äusserlichen, und eine ein wenig unverständliche Rede machen den Meinigen seinen Umgang etwas weniger angenehm.“ (in: Stadler, Bd. 1, S. 113) Nicht gerade eine euphorische Beurteilung. Auch die Betrachtung der Dauer der Ausbildungszeit lässt nicht auf Intensität schließen: Eigentlich sollte sie eineinhalb Jahre umfassen, faktisch kam er Anfang September 1767 in Kirchberg an, und im Mai 1768 ist er wieder in Zürich - wohl von der Liebe getrieben. Von diesen acht Monaten sind nochmals drei abzuziehen, die Pestalozzi gemeinsam mit Tschiffeli in dessen Winterquartier in Bern verbringt: noch nicht einmal eine Abfolge von Aussaat und Ernte. Doch Pestalozzi treibt es, sich selbständig zu machen, um eine Familie gründen zu können. Da er kaum Eigenmittel hat, um einen Hof kaufen zu können, und da er von den zukünftigen Schwiegereltern nichts zu erwarten hat, bemüht er sich um Kredite. Schlißlich kommt auch ein entsprechender Vertrag zustande - ausgerechnet mit einem Onkel Annas, dem Bankier Hans Konrad Schulthess.

·       Neuhof

Mit der Heirat beginnt eine nahezu dreißigjährige Zeit, die Johann Heinrich Pestalozzi auf dem Neuhof in der Nähe von Brugg im Reusstal verbringt. Landwirtschaftlich nutzbare Äcker werden gekauft, und Pestalozzi beginnt mit dem Bau eines Gutshofes. Am 13. August 1770 wird der Sohn Hans Jakob (Jean Jacques) geboren, eine Namensgebung, die durch Johann Heinrichs Idol Jean Jacques Rousseau eingegeben ist. Hans Jakob bleibt das einzige Kind der Eheleute Pestalozzi, und dazu haben sie mit ihm nicht viel Freude. Er erscheint geistig zurückgeblieben, was Pestalozzi an einer Stelle enthusiastisch zu begrüßen scheint: „Ich habe einen Knaben von 11 1/2 Jahren; er kann keine zwei Linien Gebätter auswendig; er kann weder schreiben noch lesen. Ich hoffe zu Gott, diese Unwissenheit, in welcher die Vorsehung mir erlaubt, ihn lassen zu können, werde das Fondament seiner vorzüglichen Ausbildung und seiner besten Lebensgeniessungen seyn.“ (in: Stadler, Bd. 1, S. 148) Pestalozzis Rousseauverständnis scheint hier durch: Wächst ein Kind bis in die Zeit der Vorpubertät glücklich heran, ohne durch Schul- und Bücherbildung vom Gang der Natur abgelenkt zu werden, so ist die beste Basis für eine gesunde Entwicklung gegeben. Nur Hans Jakob ist weder glücklich, noch wird er sich gesund weiterentwickeln. Pestalozzi gibt den Sohn in eine befreundete Baseler Familie, damit er dort recht erzogen wird, und mit den Kindern dieser Familie geht er ins Elsas, um eine kaufmännische Ausbildung zu erhalten. Doch Hans Jakob erweist sich auch hier als untüchtig, und als sich bei ihm Anzeichen von Epilepsie zeigen, wird Johann Heinrich ihn mit 17 Jahren auf den Neuhof zurückholen. 1790 überschreibt er das Anwesen auf seinen Sohn, auch um es vor finanziellen Anforderungen seiner Gläubiger zu schützen. Ein Jahr später verheiraten die Eltern ihren Sohn, der ihnen Enkelkinder schenken wird, von denen aber nur der 1798 geborene Gottlieb überlebt. Am 15. August 1801, zwei Tage nach seinem 31. Geburtstag stirbt Hans Jakob. Zeit seines Lebens wird sich Johann Heinrich Pestalozzi Vorwürfe über den Untergang seines eigenen Sohnes machen, dessen Scheitern er auch auf seine falsche, vernachlässigende Erziehung zurückführt.

Vor dieser persönlichen Katastrophe steht aber zunächst das Scheitern als Landwirt. Verschiedene Gründe führen dazu. Da ist zunächst einmal der Rückzug seines Kapitalgebers, der nicht in ein Fass ohne Boden und einen unfähigen Bauern investieren möchte und sein Geld - mit eigenen Verlusten - zurückfordert. Hinzu kommt, dass Johann Heinrich Pestalozzi sich bei den Bodeneinkäufen übers Ohr hat hauen lassen: Seine Äcker sind teilweise unfruchtbar. Probleme bekommt er auch, weil er einem Mann vertraut, der als Metzger und Wirt im Dorf lebt, und den Pestalozzi als seinen Berater einsetzt. Entscheidend für das Scheitern ist, dass Johann Heinrich Pestalozzi zu einer Gigantonomie neigt: Haus und Hof sind für seine Verhältnisse viel zu überproportioniert, und auch die privaten Ausgaben, beispielsweise für die Bewirtung von Gästen, übersteigen bei weitem die Einnahmen.

Ab den Jahren 1773/74 stellt Pestalozzi seinen Betrieb um, indem er eine Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof gründet. Zunächst werden die Kinder als billige Arbeitskräfte gebraucht, doch als dies das Scheitern der Landwirtschaft nicht aufhält, versucht Pestalozzi durch die Verbindung von Kinderarbeit und deren Ausbildung eine neue wirtschaftliche Basis zu finden. Seine Rechnung geht dahin, dass er den Kindern für ihre Arbeit freie Unterkunft und Essen bietet und darüber hinaus noch für eine solide Erziehung der Kinder sorgt. Die so ausgebildeten Kinder würden schon über die Erziehungszeit hinaus aus Dank heraus auf dem Neuhof bleiben, um als billige Arbeitskräfte das in sie Investierte zurückzubezahlen. Doch dies erweist sich als eine Milchmädchenrechnung: die Kinder genießen die Vorteile und verstreuen sich dann in alle Winde. Bereits 1778 zeichnet sich der Misserfolg auch dieses Projektes ab. Zwei Jahre später, 1780, ist schließlich endgültig klar, dass auch das zweite Neuhofvorhaben, die Armenerziehungsanstalt, gescheitert ist. Die Kinder müssen den Hof verlassen, ein gut Teil des Landes wird verkauft, aber Pestalozzi kann den Hof behalten, auch weil der Schwiegervater zuzahlt.

Begonnen hat es mit hochtrabenden Plänen: die Heirat mit der geliebten Frau, um die er zwei Jahre gekämpft hat, die Erwartung einer großen Kinderschar, der Wunsch, als selbständiger Landwirt eine gesicherte Existenz aufzubauen, die Vorstellung, dadurch nicht nur für das eigene Wohl und das der Nächsten zu sorgen, sondern durch diese Arbeit einen verändernden politischen Akzent zu setzen. Und jetzt? Die Erbschaft der Frau ist durchgebracht, der einzige Sohn auch durch eigenes Verschulden behindert, die Landwirtschaft pleite und von den Kontakten zu einflussreichen Männern ist er als gescheiterte Existenz weitgehend abgeschnitten. Wo mag Johann Heinrich Pestalozzi, 34 Jahre alt, Hoffnung hernehmen?

Doch es zeigt sich jetzt, wie es sich noch des öfteren in seinem Leben erweisen wird, daß er die Münchhausensche Kraft besitzt, sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen. In dieser Zeit der Depression versinkt er nicht, sondern findet einen Weg heraus, der ihn zu Ruhm und Ehre führen wird. Dabei spielen Zufälle zunächst eine Rolle: ein Bekannter sieht kurze Textstücke, die Pestalozzi verfasst hat, und ermutigt ihn zum Schreiben: „Dieser Mensch kann sich helfen, wie er will; er hat Talente, auf eine Art zu schreiben, die in dem Zeitpunkt, in dem wir leben, ganz gewiss Interesse erregen wird“ (XXVIII/236). Das Werk, das ihn vor allen anderen bekannt macht, ist der erste Teil des Volksromans „Lienhard und Gertrud“, erstmals 1781 erschienen. Pestalozzi ist bei seiner Abfassung in einem rauschartigen Zustand. Das Buch wird ein großer Publikumserfolg, es wird viel gelesen und auf damals weit verbreiteten Kalenderblättern erneut abgedruckt. Der Name des Autors wird bekannt, so dass sich seine soziale Isolierung aufhebt, der Roman öffnet Türen zu einflussreichen Menschen, die vordem verschlossen blieben, und er bringt auch Geld ein.

Doch das rasch aufgetauchte Glück scheint schnell wieder zu verschwinden, weil Pestalozzi andere Ansprüche hat. Er will nicht der Konsalik des 18. Jahrhunderts sein, sondern er hat eine politische und pädagogische Botschaft, die er der Öffentlichkeit vermitteln will. Sein Roman soll keine seichte Unterhaltungslektüre sein, die einen momentanen Modegeschmack trifft, sondern er will auf die schwierige Lage des einfachen Volkes aufmerksam machen und Wege aus der Krise aufzeigen. Damit diese Botschaft herüber kommt, schreibt Pestalozzi weiter: es folgen die Teile zwei bis vier von „Lienhard und Gertrud“, er gibt für ein Jahr eine Zeitschrift heraus („Schweizer Blatt“) und verfasst „Christoph und Else“, die im gemeinsamen Lesen von Lienhard und Gertrud gesellschaftspolitische und erzieherische Kommentare zu dem Buch abgeben. Doch mit all dem hat Johann Heinrich Pestalozzi nur mäßigen Erfolg.

·       Stanz

Verglichen mit den beiden ersten Etappen seines Lebens und auch mit der folgenden sind die Jahre 1798/1799 nur eine kurze Zeit. Doch in ihrer Bedeutung für die Biographie Johann Heinrich Pestalozzis - und damit für die Geschichte der Pädagogik - stellt sie den entscheidenden Wendepunkt dar. Sie markiert den Übergang von dem Schriftsteller, der ein festes anthropologisches Fundament für seine politischen und erzieherischen Vorstellungen errichtet hat, zu dem praktischen Pädagogen, der in der Zukunft seine Gedanken zu der Idee der Elementarbildung verdichten wird. Geschichtlich fällt dieser Wendepunkt in die Epoche der grundlegenden Wandlung der Schweiz von einem feudalistischen Gesellschaftssystem zu einem bürgerlichen Staat.

Immer hat Johann Heinrich Pestalozzi gehofft, eine politische Einflussmöglichkeit zu erhalten, um seine sozialpolitischen und pädagogischen Pläne realisieren zu können. Nie hatte das geklappt, doch jetzt sieht er sich in einer neuen Situation. Er hat Freunde und Bekannte, die im neuen Staat das Sagen haben. Galt er früher als der naiv politische Idealist, so wird er jetzt als Vermittler zwischen auseinanderstrebenden Parteien eingeschaltet. Sein Name ist bekannt in der Schweiz, wenngleich er als merkwürdiger Sonderling behandelt wurde, und seine Fürsprache für die Revolution zählt etwas. Und Pestalozzi stellt sich eindeutig auf die Seite der Helvetischen Republík. Hatte er bislang auf die Aristokratie gesetzt, so haben ihm seine Erfahrungen gezeigt, dass zumindest in der Schweiz das alte Regime zu einer wirklichen Reform nicht in der Lage war. Jetzt gilt es also die historische Chance zu nutzen und die alten Ideen einer verbesserten Armenfürsorge und Volkserziehung einzubringen. „Ich will Schulmeister werden“ (XXVIII/246), so sagt er zu dem befreundeten Philipp Albert Stapfer, helvetischer Minister für Künste und Wissenschaften.

1798 konkretisiert er den neuen Machthabern sein Erziehungsprojekt einer Armen- und Industrieschule. Von höchster Regierungsstelle erhält er hierfür grünes Licht. Pestalozzis Erziehungsunternehmen in Stanz ist kein Rückzug in die pädagogische Provinz, sondern eine hochbrisante politische Mission. Die Revolution kann nicht nur auf die Waffen setzen, sondern sie bedarf der Zustimmung der breiten Bevölkerungsmehrheit. Außerdem soll das Waisenhaus zu einer Musteranstalt werden, durch die Wege einer veränderten Erziehung erprobt werden, die sich auf andere Einrichtungen übertragen lassen.

Ganze sechs Monate dauert die Leitung des Stanzer Waisenhauses durch Pestalozzi: vom 7. 12. 1798 bis zum 7. 6. 1799. Er ist sich der für ihn selbst lebensgeschichtlichen Bedeutung des Unternehmens von Anfang an bewusst. Seine Ideen wurden bisher von den anderen verachtet, er galt als untüchtiger Mann, der das nicht realisieren konnte, was er sich selbst vornahm. Sicherlich war er gutwillig, aber auch unfähig. Jetzt will er es beweisen, mit seinen pädagogischen Ideen ist er nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern er ist ihr voraus; er baut nicht nur Luftschlösser ins Wolkenkuckucksheim, sondern er hat die Kraft, seine menschenfreundlichen Pläne in die Praxis umzusetzen. Beinahe 53 Jahre alt stellt er sich der Herausforderung, für seine auf achtzig Köpfe anwachsende Kinderschar alle Aufgaben zu übernehmen.

Nach einem halben Jahr ist die Zeit in Stanz zu Ende. Das Gebäude des Waisenhauses muß als Lazarett für französische Soldaten genutzt werden, der größere Teil der Kinder geht zu den Eltern zurück, und die Restanstalt kommt an anderem Ort unter andere Leitung. Stanz ist für Johann Heinrich Pestalozzi eine Zeit dichtester Erfahrung, er saugt sich wie ein Schwamm voll, und die kommenden fast dreißig Jahre seines Lebens sind Reflexion, Ausarbeitung, Modifikation und Variation dieses pädagogischen Urerlebnisses. Zuvor aber ist er erschöpft, ausgelaugt, sicherlich auch enttäuscht und traurig. Er erholt sich auf dem Gurnigel nahe Bern, bevor er als Lehrer in Burgdorf die nächste Etappe seines Lebens beginnt.

·       Burgdorf und Yverdon

Die halbjährige Zwischenphase in Stanz ist vorüber, äußerlich nicht gerade ein Erfolg, aber sie bringt die entscheidende Weichenstellung im Leben Johann Heinrich Pestalozzis. Er bleibt seiner Berufsentscheidung als Erzieher treu und wird am 23. Juli 1799 Lehrer in der Stadt Burgdorf. Auch diese Karriere bleibt nicht frei von Schwierigkeiten. Seine erste Stelle ist die eines Hilfslehrers in der Hintersassenschule des Schusters und Schullehrers Samuel Dysli. Man muss sich die Szene vorstellen: der Schuster, der Schulemachen hält, wie es die Tradition vorschreibt und mit strenger Disziplin die große Kinderschar beherrscht, und daneben der bekannte, von einflussreichen Politikern und Persönlichkeiten geförderte Johann Heinrich Pestalozzi, dessen Kopf voll von Ideen ist, die Pädagogik auf ein neues Fundament zu stellen. Die Konstellation kann nicht gut gehen, auch die Eltern beschweren sich über den Neuerer, der seine Ideen lieber an Bürgerkindern ausprobieren soll. Johann Heinrich hat Glück, er kann bei einer anderen Lehrperson als Hilfskraft unterkommen, eine angeheiratete Verwandte seines Sohnes.

In dem Jahr der Jahrhundertwende wird schließlich die Zustimmung der Helvetischen Regierung erreicht, Pestalozzi das Burgdorfer Schloss zum Zwecke der Gründung eines Erziehungsinstituts zu überlassen. In kurzer Zeit gelingt ihm jetzt der Aufbau einer Einrichtung, die europaweit berühmt wird und Besucher von weither anlockt.

Je älter Pestalozzi wird, desto mehr zieht er sich von dem täglichen Schulehalten zurück und überlässt dies seinen Lehrern. Dies bedeutet nicht, dass er sich auf seine schriftstellerische Arbeit beschränkt, sondern er lebt gemeinsam mit den Lehrern und Schülern, hält Morgen- und Abendandachten, bespricht täglich mit den Mitarbeitern die konkreten praktischen Probleme. Sein Engagement gilt jetzt der Entwicklung der Methode der Elementarbildung, diese Idee wird ihn bis zu seinem Lebensende nicht mehr loslassen. Methode meint dabei nicht Unterrichtsmittel oder Tipps und Tricks, wie ein Lehrer seine Schulklasse in den Griff bekommt, sondern sie meint die Grundfrage der Pädagogik: wie lässt sich die natürliche Selbstentfaltung der kindlichen Kräfte mit der Erziehungskunst auf organische Weise verknüpfen.

Das Erziehungsinstitut floriert, Waisenkinder aus der ganzen Schweiz werden ihm zugeführt, Besucherscharen kommen hierhin, so dass die Einrichtung für die Stadt Burgdorf zu einem touristischen Wirtschaftsfaktor wird. Die Dinge scheinen gut zu laufen, und auch eine von Pestalozzi gewünschte regierungsamtliche Überprüfung durch den Helvetischen Staat liefert positive Ergebnisse. Die Regierung faßt Beschlüsse, die auf eine finanzielle Förderung Pestalozzis hinauslaufen und ihm die Aufgabe der Lehrerausbildung auftragen.

Doch dann ändert sich die politische Großwetterlage, die alten Kräfte gewinnen wieder die Oberhand, und zum 1. Juli 1804 muss Pestalozzi das Burgdorfer Schloss räumen. Es ist das zweite Mal in kurzer Zeit, dass nach Stanz äußere Faktoren Pestalozzi zum Auszug zwingen, und dieses Mal trifft es ein Institut, das sich im Aufwind befindet. Deprimiert verlässt Johann Heinrich Pestalozzi Burgdorf.

Nach einer einjährigen Zwischenphase bekommt Pestalozzi in Yverdon eine neue Chance. Hier kann er an seine Erfolge von Burgdorf anknüpfen. Stetig steigt die Zahl der Schüler. 1805 sind es 20, ein Jahr später 80, nochmals zwei Jahre danach 134. Im Jahr des äußeren Höhepunktes, 1809, besuchen 165 Schüler das Institut, eine Zahl, die schon aus organisatorischen und ökonomischen Gründen die Obergrenze bildet. Auch die Zahl der Lehrkräfte steigt: im Jahr 1807 sind es 20 Lehrer und zwei Jahre später 31. Hinzu kommt noch eine schwankende Zahl von Praktikanten, die sich in der Pestalozzischen Methode ausbilden lassen wollen. Wieder sind es Besucherscharen, die zum Schloß pilgern, um die neue Pädagogik zu erleben, um sich in ihr ausbilden zu lassen, oder um einfach den Meister aus der Nähe zu sehen - obwohl hier immer wieder sein liederliches Äußeres auf den ersten Blick abstoßend wirkt, und Mitarbeiter dafür sorgen müssen, ihn für den Empfang von höhergestellten Persönlichkeiten auszustatten.

Pestalozzi Tätigkeit ist nicht mehr die des täglichen Schulehaltens - er befindet sich ja in einem Alter, in dem Lehrer heutzutage ihre Pension erhalten -, sondern die des Organisators, der einen großen Betrieb zusammenhalten muss, des Propagandisten, der die „Methode“ als Markenartikel nach Außen verkauft, und die des Multiplikators. In täglichen Besprechungsrunden der Lehrer, Besucher und Praktikanten, die des abends stattfinden, werden pädagogische Probleme diskutiert, Schwierigkeiten einzelner Kinder besprochen, Perspektiven für die konzeptionelle Weiterentwicklung entfaltet. Johann Heinrich Pestalozzi ist das Herz eines sich zunehmend ausweitenden Kreises, der Yverdon als Ausgangspunkt hat, aber auf eine Veränderung der pädagogischen Verhältnisse insgesamt zielt.

Wir sehen Pestalozzi als erfolgreichen, internationales Ansehen genießenden Institutsleiter einer großen Einrichtung. Doch das ist eine der Tragiken seines Lebens: sein eigentliches Bestreben ist es, für die armen Menschen zu wirken, eine Erziehungsarbeit für deren Kinder zu leisten, damit sie selbständig und selbstbewusst ihr Leben gestalten können; aber er macht Karriere als Vorsteher einer Schule und eines Internats, in dem vor allem die Kinder reicher und einflussreicher Personen erzogen werden. Auch in dieser Zeit lässt ihn die Idee, eine Armenerziehungsanstalt zu realisieren, nicht los. Ab 1807 entwickelt er diesbezügliche Pläne, die sich jedoch nicht realisieren lassen. Erst elf Jahre später kann er in Clindy, nahe Yverdon, eine entsprechende Einrichtung gründen, auch indem er eigenes Geld, das er durch Honorarvorschüsse auf die Herausgabe seiner gesammelten Schriften bezieht, zuschießt. Nur sechs Jungen und sechs Mädchen sind es am Anfang, doch ihre Zahl steigt schnell auf 30 an. Damit ist Pestalozzi jedoch finanziell überfordert, und die Anstalt in Clindy muss als eigenständige Einrichtung aufgegeben werden. Die Kinder erhalten die Möglichkeit, auf das Schloss in Yverdon umzuziehen. Noch bis zu seinem Tode wird Johann Heinrich Pestalozzi die Hoffnung nicht aufgeben, auf dem Neuhof seine wichtigste Idee, armen Kindern zu einer richtigen Erziehung zu verhelfen, in die Tat umzusetzen, auch wenn dieses Vorhaben zu seinen Lebzeiten nicht wirklich gelingt.

Je länger die Zeit in Yverdan dauert, desto schwieriger wird es, den großen Erfolg des Instituts festzuhalten. Bis Pestalozzi 1825 Yverdon verlassen wird, zeichnet sich ein zunehmender Niedergang ab. Zunächst sind es finanzielle Probleme, die Pestalozzi sein Leben lang begleitet haben und die auch hier wieder auftreten. Noch tiefgreifender als die ökonomischen Probleme wirkt der zwischen den Lehrern des Instituts auftretende Streit untereinander, der letztlich zu dessen Auflösung führen wird. Pestalozzi treffen die Auseinandersetzungen persönlich in starkem Maße, verstärkt dadurch, dass er nach dem Tod seiner Frau alleine dasteht, er erkrankt depressiv und erholt sich nur langsam. Hinzu kommt, dass der Streit nach außen dringt. Das Pestalozzische Institut wird verleumdet, so dass die Schülerzahlen sinken. Die Anerkennung, die das Institut so überreich genoss, lässt nach.

·       Lebensabend

Pestalozzi ist ein alter Mann, es lässt sich nicht mehr leugnen. Er hat nicht mehr die Kraft, aus sich heraus klare Entscheidungen zu treffen, die aus der Krise herausführen könnten. Er kann nicht anders, als Yverdon zu verlassen. Knapp zwei Jahre verbleiben Johann Heinrich Pestalozzi noch bis zu seinem Tod, eine zu kurze Zeit für einen wirklich geruhsamen und wohlverdienten Lebensabend, zumal er in diesen Jahren einerseits die heftigen Nachwehen des Yverdoner Streites spürt und andererseits seine Kräfte für letzte, herausgehobene schriftstellerische Leistungen sammelt. Beginnen wir mit dem zweiten.

Überschattet werden die beiden letzten Jahre, in denen Pestalozzi bei seinem Enkel und dessen Frau auf dem Neuhof lebt, durch die publizistische Fortführung des Streites mit seinen ehemaligen Schülern, die zu Feinden geworden sind. Nachdem Pestalozzi ein Buch verfasst hatte, in dem er die Burgdorfer und Yverdoner Zeit aus seiner Sicht erzählt, und in dem er den Mitarbeiter, der als einziger ihm verbliebenen ist, in den Himmel lobt, fühlt sich dessen Rivale herausgefordert. Um seine Verletzungen zu überwinden, motiviert er eine ehr beiläufige Gestalt, ein Buch über Pestalozzi zu schreiben, dass diesen im äußerst negativen Licht erscheinen lässt. Vor allem seine angeblich antichristliche Haltung wird herausgestellt, ein nicht unbedeutender Vorwurf in einer Zeit, in der die politische Reaktion herrschte. Johann Heinrich Pestalozzi fühlt sich verleumdet, und er versucht bis auf sein Totenbett hin eine rechtfertigende Erwiderung zu schreiben.

Es ist zu spät. Der Körper ist ausgelaugt. Am 15. 2. 1827 wird er von seinem Enkel und dessen Frau in einem Schlitten zu der wenige Kilometer vom Neuhof entfernten Stadt Brugg gefahren, damit er in der dortigen Pension unter näherer Aufsicht des Arztes stehe. Zwei Tage später stirbt Johann Heinrich Pestalozzi.

b) Sozialpädagogik:

Die halbjährige Tätigkeit im Stanzer Waisenhaus bildet das praktische Gelenkstück des beruflichen Lebens Johann Heinrich Pestalozzis . Er, der fast 20 Jahre ohne konkrete, handfeste Arbeit gewesen war, nimmt hier seine Versuche wieder auf, die mit der Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof begonnen hatten. Sowohl seine politischen wie pädagogischen Pläne, die er inzwischen auf ein festes anthropologisches Fundament gestellt hat, kann er jetzt in der Wirklichkeit erproben. Auf der anderen Seite leitet Stanz zu einer Lehrer- und Lehrerausbildungstätigkeit hinüber, die ihn zur Entfaltung einer fundierten Erziehungstheorie bringen wird.

Im Anschluss an die französische Revolution gibt es in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts auch in der Schweiz heftige politische Unruhen. Es geht um die Aufhebung der einseitigen Machtverteilung zu Gunsten der wenigen Patrizierfamilien in den großen Städten und um die Schaffung einer einheitlichen Helvetischen Republik, die an die Stelle der relativ großen Autonomie der einzelnen Kantone treten soll. Die rechtliche Unmündigkeit und die ökonomische Ausbeutung der breiten Landbevölkerung soll beendet werden. 1798 siegen nach langen blutigen Kämpfen schließlich die revolutionären Kräfte, auch weil sie die Unterstützung der französischen Truppen unter Napoleon erhalten. Die kriegsähnlichen Zustände dauern jedoch an, da in einigen Kantonen gegenrevolutionäre Kräfte aktiv sind, die durch Österreich militärisch gestützt werden.

Pestalozzi, der „Revolutionär wider Willen“ (Liedtke), unterstützt in Eindeutigkeit die Sache der Helvetischen Republik. Er verfasst politische Artikel, die über die Hintergründe und die Folgen der politischen Umwälzung aufklären sollen, und er wird schließlich als Herausgeber einer Regierungszeitung so etwas wie ein „Regierungssprecher“ der neuen Machthaber. Doch in dieser Umbruchsituation hofft Pestalozzi auf etwas anderes, nämlich darauf seine Lieblingsidee wieder aufgreifen zu können, die er Zeit seines Lebens nicht aus dem Auge verliert: die Gründung einer Armenerziehungsanstalt. Er entwickelt entsprechende Pläne, und da er durch Freund- und Bekanntschaft mit einigen Ministern des neuen schweizer Staates verbunden ist, erfreut er sich auch entsprechender Unterstützung. Man will, dass er durch eine Lehrerausbildungsstätte multiplikatorisch wirkt, doch Pestalozzi selbst will erst mal einen eigenen Erziehungsversuch starten. Diese Absicht findet schließlich durch die in Aussichtnahme finanzieller Förderung Unterstützung.

·       Der Erziehungsversuch

Dass die Anstalt ausgerechnet in Stanz eingerichtet wird, hat politische Ursachen: Stanz liegt in der Nähe des Vierwaldstätter-Sees im Kanton Unterwalden. Mehrheitlich ist es katholisch, und die Bevölkerung ist der neuen Regierung feindlich gesinnt. Es brechen gegenrevolutionäre Unruhen aus, die mit Hilfe der französischen Truppen unterdrückt werden. Nach diesem blutigen Ereignis sieht sich die Zentralregierung vor der Aufgabe, die Kriegswaisenkinder zu versorgen. Außerdem muss durch eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse die Bevölkerung des Kantons für die Sache der Revolution günstig gestimmt werden. Das von Pestalozzi jetzt geleitete Waisenhaus soll für beide Aufgaben eine Rolle spielen. Nehmen wir es gleich vorweg: auch für das Ende des nur halbjährigen Erziehungsversuchs in Stanz sind politische Ursachen ausschlaggebend. Auf schweizerischem Boden kämpfen französische und österreichische Truppen gegeneinander, und das von Pestalozzi benutzte Gebäude wird in ein französisches Militärhospital umgewandelt.

Untergebracht ist das Waisenhaus in einem Teil eines ehemaligen Klosters. Die Räumlichkeiten sind anfangs beschränkt, weil sie erst für den neuen Zweck hergerichtet werden müssen, sind nachdem aber recht großzügig bemessen. Finanziell wird es von der Regierung unterstützt, die in dem Heim so etwas wie eine Musterversuchsanstalt sieht. Diesen positiven äußeren Faktoren stehen jedoch eine Reihe negativer gegenüber. Als erste erwähnt Pestalozzi die massive Ablehnung der Bevölkerung der Anstalt gegenüber, die in politischen und religiösen Gründen ihre Ursachen hat. Pestalozzi gilt als Vertreter der neuen Machthaber, die man erbittert bekämpft, und er ist reformierter Christ, dem die mehrheitlich katholische Bevölkerung nicht die Erziehung ihrer Kinder überlassen will.

Diese prinzipiell ablehnende Haltung der Bevölkerung drückt sich auch in dem Widerstreben der Eltern aus. Pestalozzi beschreibt, wie ein Teil der Eltern ihre Kinder gegen ihn aufhetzten und wie ein anderer versucht, ihm die Kinder wieder abzuwerben, weil sie als Bettelkinder für das Familieneinkommen aufkommen sollen. Andere Eltern schließlich nutzen die Anstalt als zeitweilige Unterkunft der Kinder, um sie dann wieder zurückzuholen, wenn die Kinder von Krankheiten geheilt und neu eingekleidet sind. Schließlich wird noch von Eltern berichtet, die von Pestalozzi Geld fordern, weil sie ihm ihre Kinder überlassen. Eine kontinuierliche Aufbauarbeit ist unter diesen Umständen nur schwer möglich.

Der Widerstand der Eltern bleibt auch auf die Kinder nicht ohne Wirkung, so dass Pestalozzi sich deren Wohlwollen hart erarbeiten muss. Dies gelingt aber eher als bei den Eltern, und über den Weg der Kinder erreicht Pestalozzi schließlich auch die Zustimmung einiger Erwachsener. Die gesundheitliche Verfassung vieler Kinder ist katastrophal, und es bedarf vieler pflegerischer Bemühungen, die verschiedenen Krankheiten ausheilen zu lassen. Ähnlich wie einige Eltern die zeitweise Unterbringung ihrer Kinder nutzten, um sie aufpäppeln zu lassen, sehen einige Kinder in der Anstalt eine Art von „Hotel“, dessen Vorteile sie egoistisch genießen wollen, ohne selbst etwas zu geben.

Schließlich muss (oder will) Pestalozzi ohne direkte Unterstützung durch Mitarbeiter auskommen - eine Haushaltshilfe ausgenommen. Pestalozzi argumentiert, dass ausgebildetes Personal ihm nicht helfen könne, weil es seine pädagogische Konzeption nicht verstehen würde: „keine künstlichen Hülfsmittel, sondern blos die die Kinder umgebende Natur, die tägliche Bedürfnisse, und die immer rege Thätigkeit derselben selbst als Bildungsmittel derselben zu benutzen.“ (XIII/7) Die alleinige Verantwortung für 60 bis 80 Kinder für 24 Stunden am Tag, die Pestalozzi schließlich physisch und psychisch überfordern, scheint ihm inhaltlich notwendig. Er benötigt die dichte Erfahrung, um den Grundstein seiner Erziehungsmethode legen zu können; er muss selbst alles tun, von der täglichen Versorgung über die Pflege bis zu Erziehung und Unterricht, um den Umfang der pädagogischen Aufgabenstellung erfassen zu können.

·       Erziehungsziele und -prinzipien

Pestalozzi beschreibt das Ziel des Erziehungsversuchs als Unterstützung der Selbständigkeit der armen Kinder. Dies bedeutet konkret:

·       die Kinder müssen in der Zukunft arbeitsfähig sein, um sich und ihre Familie durch ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren zu können;

·       die Kinder müssen ein richtiges Wissen erwerben, um sich in der Welt orientieren zu können;

·       die Kinder müssen vor allem sittlich gebildet werden, um als Mensch leben zu können.

 „Ich wollte eigentlich durch meinen Versuch beweisen, daß die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müsse nachgeahmt werden, und daß die leztere nur durch die Nachahmung der Erstern für das Menschengeschlecht einen Werth hat. ... Jede gute Menschenerziehung fordert, daß das Mutteraug in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit in seinem Auge, auf seinem Munde und seiner Stirne lese.“ (XIII/7f)

Aus dieser Zielsetzung ergeben sich eine Reihe von pädagogischen Prinzipien. Zunächst: die Erziehung muss sich auf die soziale Situation beziehen, aus der die Kinder kommen, und in der sie leben werden. Dies allein vermittelt ihnen ein wirklich brauchbares Wissen, um nicht auf ein Wolkenkuckucksheim vorbereitet zu werden. Nur dadurch ist auch gegeben, dass die Kinder ein sinnliches Fundament der Anschauung haben, auf das alles spätere Lernen aufbauen, an das es anknüpfen muß.

Zweitens muss die professionelle Erziehung auf den Prinzipien der familiären beruhen. Dies bedeutet für Pestalozzi nicht die bruchlose Übernahme häuslicher Erziehungsmaßnahmen, was faktisch schon angesichts der größeren Kinderzahl nicht funktionieren würde; sondern es meint, dass alle Erziehung auf Liebe zu dem einzelnen Kind und auf umfassender Besorgung aller seiner Bedürfnisse beruhe. Drittens schließlich muss in der Erziehung der armen Kinder Arbeit und Lernen miteinander verbunden  werden. Ziel der Arbeitserziehung ist nicht der ökonomische Gewinn durch Kinderarbeit, sondern die Vorbereitung der Kinder auf eine zukünftige Berufstätigkeit, um sich selbständig ernähren zu können. Pestalozzi bedauert, dass er in Stanz diesen dritten Aspekt nicht in gewünschter Weise hat realisieren können, da die geplante Baumwollspinnerei nur anfänglich hat organisiert werden können.

·       Sittliche Erziehung

Pestalozzi beginnt seine Arbeit mit einer großen Schar schwieriger Kinder: Aggressivität, Misstrauen, Egoismus, Ausnutzen des kurzfristigen Vorteils, äußere und körperliche Verwahrlosung, psychische Verwilderung bestimmen das Bild. Wie wird man mit einer solchen Situation fertig, in der die Fehler der Kinder sich noch gegenseitig bestärken und steigern? Wie wird man damit nicht nur fertig, sondern gestaltet sie pädagogisch, da die Kinder nicht nur verwahrt werden sollen, sondern ihnen eine Perspektive eröffnet werden muss? Wenn Pestalozzi der Erziehung zur Sittlichkeit die erste Stelle zumisst, so liegt einer der Gründe dafür darin, dass bei solchen Kindern zunächst ein Fundament der psychischen Ausgeglichenheit und des sozialen Miteinanders gelegt werden muss, bevor an Lernen und Arbeit zu denken ist. Bei den konkreten, bis ins methodische hineinreichenden Antworten, die Pestalozzi zu dem Fragenkreis der sittlichen Erziehung gibt, muss man Zeitgebundenes von dem trennen, was uns auch noch heute zu denken geben kann.

Zunächst ist abzugrenzen: Sittlichkeit wird nicht erzielt durch den großen Plan, die Konzeption, die man dann in der Praxis umsetzen könnte, sondern durch das sich Einlassen der Erzieherin auf die konkreten Kinder. Im Kontakt mit ihnen müssen die Möglichkeiten entwickelt und erprobt werden. Sittlichkeit wird zum zweiten nicht durch Aufsetzen einer äußeren Ordnung erzielt. Deren Regeln, so hilfreich sie für ein funktionierendes Sozialwesen sind, würden in der Anfangssituation nicht helfen, im Gegenteil, sie würden die Kinder noch mehr verhärten. Priorität muss haben, dass die verwahrlosten Kinder Vertrauen zu der Erzieherin bekommen, und dieses werden sie erst entwickeln, wenn sie hinreichend lange gespürt haben, daß die Erzieherin sie wirklich liebt. Drittens schließlich wird Sittlichkeit nicht durch Quatschen gewonnen. Einem Kind wortreich Moral zu predigen - selbst wenn es die richtige wäre - hilft nichts, wenn dem Kind die Erfahrungen des Wohlbersorgtseins mangeln. Ein verwahrlostes Kind kann sich weder zu sich selbst noch zu anderen gut verhalten, weil es nicht „bewahrt“ worden ist, weil es nicht hat erleben können, dass es geliebt wird und daß sich um der Liebe willen auch Anstrengung und Verzicht lohnen.

Pestalozzi nennt drei Bereiche einer sittlichen Erziehung:

1.    Sittliche Gemütsstimmung,

2.    Übungen der Selbstüberwindung,

3.    Vorstellungen und Begriffe von Recht und Pflicht.

„Der Mensch will so gerne das Gute, das Kind hat so gerne ein offnenes Ohr dafür; aber es will es nicht für dich, Lehrer, es will es nicht für dich, Erzieher, es will es für sich selber. ... Aber dieser Wille wird nicht durch Worte, sondern durch die allseitige Besorgung des Kindes, und durch die Gefühle und Kräfte, die durch diese allseitige Besorgung in ihm rege gemacht werden, erzeugt.“ (XIII/7f)

Der erste Punkt wurde gerade schon angedeutet. Die Erzieherin muss dem Kind zunächst ihre Liebe geben, d.h. konkret, seine unmittelbaren Bedürfnisse müssen befriedigt werden. Das Kind muss körperlich spüren: die Erzieherin will mir wohl, ich kann mich auf sie verlassen, sie wird auch morgen auf meine Wünsche eingehen. Die Entwicklung der „Geschwisterlichkeit“ nimmt des nächsten eine wichtige Stellung ein. Durch die Bildung einer sozialen Gemeinschaft wird das Kind lernen müssen, Einschränkungen hinzunehmen, denn es gibt andere, die ein Recht auf die Liebe der Erzieherin haben, aber es wird in den anderen Kindern auch eine neue Quelle von Freude und Befriedigung finden können. Wenn so ein gewisses Fundament gelegt ist, wird die Erzieherin dem Kind seine positiven Zukunftsmöglichkeiten eröffnen. Dadurch wird ihm verdeutlicht, dass es lernen und Einschränkungen hinnehmen muss, will es sein gegenwärtiges Glück auch späterhin genießen. Die Möglichkeit, sich selbst Beschränkungen aufzuerlegen, folgt dann aber nicht einem erzieherischen Druck von außen, sondern der Selbstentscheidung des Kindes.

Die „Übungen der Selbstüberwindung“ erinnern teilweise an Maria Montessoris Übungen der Stille. Auf durchaus auch spaßhafte Art wird das Kind zu äußeren Gesten aufgefordert, die ihn zu einer inneren Konzentration bringen sollen. Pestalozzi handelt hier auch das Problem der Strafen ab. Ausführlich legitimiert er die Notwendigkeit seiner körperlichen Bestrafungen, wobei das ganze an Rechtfertigungsstrategien des schlechten Erziehergewissens erinnert, die auch heute noch im Schwange sind: die Ohrfeige könne dem Kind nicht schaden, da es ja durch seine sonst positiven Erfahrungen wisse, dass er ihm gut wolle; die große Kinderzahl und der hohe Arbeitsdruck ließen einem keine andere Wahl; später seien ihm die Kinder dankbar, so zur Ordnung gewiesen worden zu sein etc. Alles nicht gerade „ein starkes Stück Pestalozzi“.

Bei dem dritten Aspekt, der Vermittlung von Vorstellungen und Begriffen von Recht und Pflicht, geht es nicht um wortreiche Erklärungen, sondern um die bewusste Beschränkung auf wenige Grundüberzeugungen. Die Idee einer gerechten politischen Verfassung, die Grundlagen ethischen Handelns, insbesondere gegenüber den Armen, der klare Wunsch, sein Leben selbständig meistern zu können - werden dem Kind diese wenigen Vorstellungen vermittelt, dann entwickeln sie einen Maßstab für ihr eigenes sittliches Handeln, und um einen solchen Maßstab geht es, nicht um ein auswendig gelerntes Gesetzbuch. Auch bei diesen bewussten Grundüberzeugungen ist wichtig, daß sie auf einem sinnlichen Fundament ruhen, indem das Kind das, was es selbst Gutes tun soll, an sich selber erfahren hat.


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