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Sigurd
Hebenstreit
Zur
Einführung in den Konstruktivismus
von
Paul Watzlawick
Ihr
beginnt euer Studium der Heil- oder
Sozialpädagogik, und ich vermute, dass
eine Erwartung, die ihr daran habt,
die ist, durch ein Mehr an Wissen über
die Wirklichkeit heilpädagogischen Handelns
kompetenter zu werden, damit ihr später
in der Praxis erfolgreich handeln könnt.
Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen
sollen euch Theorien und empirische
Erkenntnisse liefern, aus denen sich
ein Verstehen und eine Handlungstechnik
ergibt. In der Medizin lernt ihr, was
das ist, ein Kind mit Down-Syndrom,
in der Psychologie erfahrt ihr etwas
über die Entwicklungsmöglichkeiten solcher
Kinder, und in der Didaktik und Methodik
der Heilpädagogik bekommt ihr ein Wissen
darüber, wie mit diesen Kindern heilpädagogisch
umgegangen werden kann, damit sie sich
möglichst gut entwickeln. Mit anderen
Worten: Es gibt die Wirklichkeit des
Down-Syndroms, die wissenschaftlich
mehr oder weniger gut erforscht ist,
und die Aneignung dieses Wissens wird
euch helfen, mit Menschen umzugehen,
die "das" haben - ein Down-Syndrom.
Was
passiert nun, wenn ich behaupten würde,
dass es in der Wirklichkeit - Kindergartenkinder
pflegen "in echt" dazu zu
sagen - ein Down-Syndrom gar nicht gibt,
sondern dass das Ganze auf menschlichen
Meinungen, die wie alle Meinungen wahr
oder falsch sein können, beruht. Aber,
so ließe sich einwenden, unter dem Mikroskop
lässt sich ein zusätzliches Chromosom
sehen, und alle Menschen, die Augen
im Kopf haben, können das sehen, und
diese Abweichung bedingt ein spezifisches
Aussehen, eine Intelligenzminderung
etc. Das lässt sich nicht bestreiten,
es gibt da ein zusätzliches Chromosom,
nur wenn es "zusätzlich" ist,
so steht es in einer Beziehung zu dem,
was als normal gilt. Nehmen wir an,
zugegeben das klingt jetzt etwas phantastisch,
es gäbe eine menschliche Gesellschaft,
in der alle Mitglieder dieses zusätzliche
Chromosom haben. Es wäre dann sehr unwahrscheinlich,
dass sie sagen würden: "Wir haben
ein zusätzliches Chromosom"; dass
sie von sich meinen würden, sie sähen
merkwürdig aus; dass sie von einer Intelligenzminderung
ausgingen, die einer heilpädagogischen
Handlung bedürftig wäre. Wahrscheinlich
wäre es, dass würde in einer solchen
Gesellschaft ein Mensch geboren, dem
das zusätzliche Chromosom fehlte, man
diagnostizieren würde: "ihm fehlt
ein Chromosom, und er sieht deshalb
merkwürdig aus und behauptet komische
Dinge, weshalb wir ihn besonders erziehen
müssen, denn er ist nicht so ganz normal".
Ich
möchte die "Einführung in die Pädagogik"
so mit einer Enttäuschung einer möglicherweise
bei euch vorhandenen Erwartung beginnen:
wenn es die Wirklichkeit - an dem Beispiel
durch das Down-Syndrom angedeutet -
nicht gibt, kann die Wissenschaft kein
gesichertes Wissen über die nichtfassbare
Realität vermitteln, und dann kann ein
Studium der Wissenschaft keine Aneignung
eines nicht-vorhandenen Wissens über
eine nicht-fassbare Realität sein. Ich
wäre nicht Dozent an dieser Fachhochschule,
wenn ich der Meinung wäre, damit sei
die ganze Veranstaltung hier überflüssig,
so dass sich die Frage ergibt, was denn
dann Wissenschaft und wissenschaftliches
Lernen sei. Doch bis wir dabei sind,
bitte ich noch um viel Geduld.
Widmen
möchte ich mich heute dem ersten Teil
der angedeuteten Frage: Was ist das
"Wirklichkeit", in der wir
leben und auf die hin wir Kinder erziehen?
Zu diesem Zweck stelle ich euch eine
sozialwissenschaftliche Theorie vor,
die gegenwärtig viel diskutiert wird
und mit dem Stichwort "Konstruktivismus"
ihre Bezeichnung gefunden hat. Der Autor,
auf den ich mich dabei beziehe, ist
Paul Watzlawick, der 1921 in Österreich
geboren wurde und später in die USA
auswanderte. Paul Watzlawick ist Kommunikationswissenschaftler
- viele werden vielleicht den von ihm
geprägten Satz gehört haben: "Man
kann nicht nicht kommunizieren"
- und Psychotherapeut. Auch wenn Watzlawick
dies meines Wissens nicht explizit beschreibt,
hat der Konstruktivismus Auswirkungen
auch für das pädagogische Denken, weshalb
ich ihn in dieser Veranstaltung vorstelle.
1.
Rückbezüglichkeit
Beginnen
wir mit einigen scheinbar abwegigen
Spielereien.
a)
Es gibt einen Barbier, der alle Menschen
rasiert, die dies nicht selber tun.
Klar: er würde mich rasieren, wenn ich
jemand wäre, der sich nicht selbst rasiert.
Nur: wie ist es mit diesem Barbier selbst.
Nehmen wir an, er entschließe sich,
sich nicht selber zu rasieren, dann
muss er sich aber rasieren, weil er
ja alle Menschen rasiert, die sich nicht
selber rasieren. Beschließe er also
nun anders herum, sich selber zu rasieren,
dann dürfte er es nicht tun, denn er
rasiert ja nur Menschen, die sich nicht
rasieren. Wie soll er sich also entschließen,
wenn jede Entscheidung sofort zu ihrem
Gegenteil führt?
b)
Die gleiche Frage wurde auch religiös
gewendet: Der Teufel, die Allmächtigkeit
Gottes in Frage stellend, fordert diesen
auf, einen Stein zu erschaffen, der
so schwer ist, dass er ihn selbst nicht
mehr aufheben kann. Kann Gott diesen
Stein schaffen, dann ist er nicht Allmächtig,
weil er ihn nicht tragen kann; kann
er ihn andererseits tragen, dann ist
er nicht allmächtig, weil er einen so
schweren Stein nicht schaffen kann.
c)
Das gleiche lässt sich auch mathematisch
ausdrücken: Wir suchen nach der Menge,
die alle Mengen enthält, die sich selbst
nicht als Element enthalten. Und in
der Tat soll für Mathematiker dieses
Problem der "Rückbezüglichkeit"
zu Beginn unseres Jahrhunderts ein
brennend diskutiertes Problem gewesen
sein.
d)
Etwas einfacher können wir noch den
Satz des Witzbolden erwähnen, den Watzlawick
zitiert: "Wie froh bin ich, dass
ich Spinat nicht leiden kann; denn schmeckte
er mir, dann würde ich ihn essen - und
ich hasse das Zeug!" (MZ 180)
Mögen
dies noch abwegige Spielereien sein,
die unseren gesunden Menschenverstand
nicht berühren, dann zeigt Watzlawick
deren Bedeutsamkeit auch für unser Alltagsverhalten
auf. Im politischen Bereich mag sich
so die Frage ergeben: "Muss die
Toleranz Intoleranz tolerieren?"
(MZ 179) Oder für den Bereich der Wissenschaft:
Die Unterstellung des Rationalismus,
dass es vernünftige Erklärungen gibt,
ist selbst ein irrationaler Glaube
an die Vernunft, eine Entscheidung,
die selbst nicht vernünftig bewiesen
werden kann.
Verallgemeinernd
gesagt: Um die Wahrheit eines Systems
zu beweisen, kann ich nicht innerhalb
des Systems verbleiben, sondern muss
dies transzendieren; um dies Metasystem
zu beweisen, kann ich wiederum nicht
innerhalb seiner Grenzen verbleiben,
sondern muss es erneut transzendieren,
ein Prozess, der ständig so weiter geht,
ohne dass es einen Punkt gäbe, von dem
aus ich mit Gewissheit sagen könnte,
dies sei der letztendlich wirkliche
Beweis. Und auf die Frage von Paul Watzlawick
- "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?"
- bezogen: Um den Beweis zu bringen,
diese Wirklichkeit sei wirklich wirklich,
müßte ich mich außerhalb von ihr stellen
können, damit ich wie die Kugel als
Vertreterin des Landes der drei Dimensionen
Flächenland überblicken kann. Nur: einen
solchen Standpunkt kann ich nicht einnehmen,
weil ich immer selbst Teil dessen bin,
was meine Wirklichkeit ist, so dass
ich in alle Fallen der Rückbezüglichkeit
hineingerate. Ich bin in einer Gesellschaft
erzogen, durch die ich bestimmte Sichtweisen
gelernt habe, die mir zur zweiten Natur
geworden sind, und ich spreche eine
bestimmte Sprache und kann das, was
ich von der Wirklichkeit aussage, nur
durch sie aussagen. Verschiedene Sprachen
aber, so zitiert Watzlawick Wilhelm
von Humboldt sind "nicht ebenso
viele Bezeichnungen einer Sache, es
sind verschiedene Ansichten derselben"
(WW 20).
2.
Wirklichkeit
Nach
diesem Einstieg nun die zentrale These
Watzlawicks. An einer Stelle fasst er
sie so zusammen:
"Ganz
allgemein ... vermischen wir meist zwei
sehr verschiedene Begriffe der Wirklichkeit,
ohne uns dessen genügend Rechenschaft
zu geben. Der erste bezieht sich auf
die rein physischen und daher weitgehend
objektiv feststellbaren Eigenschaften
von Dingen und damit entweder auf Fragen
des sogenannten gesunden Menschenverstandes
oder des objektiven wissenschaftlichen
Vorgehens. Der zweite beruht ausschließlich
auf der Zuschreibung von Sinn und Wert
an diesen Dingen und daher auf Kommunikation."
(142f)
"Wir
wollen ... jene Wirklichkeitsaspekte,
die sich auf den Konsensus der Wahrnehmung
und vor allem auf experimentelle, wiederholbare
und daher verifizierbare Nachweise beziehen,
der Wirklichkeit erster Ordnung zuteilen.
Im Bereich dieser Wirklichkeit ist aber
nichts darüber ausgesagt, was diese
Tatsachen bedeuten oder welchen Wert
... sie haben. ... Im Bereich dieser
Wirklichkeit zweiter Ordnung ist es
... absurd, darüber zu streiten, was
'wirklich' wirklich ist." (143)
"Wie
gesagt, verlieren wir diesen Unterschied
nur zu leicht aus den Augen oder sind
uns des Bestehens dieser zwei verschiedenen
Wirklichkeiten überhaupt nicht bewusst.
Wir leben dann unter der naiven Annahme,
die Wirklichkeit sei natürlich so, wie
wir sie sehen, und jeder, der sie anders
sieht, müsse böswillig oder verrückt
sein. ... Der eigentliche Wahn liegt
in der Annahme, dass es eine 'wirkliche'
Wirklichkeit zweiter Ordnung gibt und
dass 'Normale' sich in ihr besser auskennen
als 'Geistesgestörte'." (144)
Aussagen
über die Wirklichkeit erster Ordnung
beziehen sich auf Gegenstände, die für
sich, unabhängig von anderen existieren.
Ich kann so messen, dass dieser Gegenstand
30 cm lang ist, und wenn wir uns auf
die Meßmethode und die dazu notwendige
Definition geeinigt haben, und wenn
ich die Messung korrekt durchgeführt
habe, dann wird jede erneute Messung-
unabhängig von mir - 30 cm ergeben,
und die Behauptung, in Wirklichkeit
sei dieser Gegenstand 50 cm groß ist
einfach falsch. Gehen wir jetzt zu der
Aussage über: "Dieser Gegenstand
ist länger als jener", dann können
wir auch "in Wirklichkeit"
feststellen, ob eine Aussage richtig
oder falsch ist, doch im Gegensatz
zu dem Satz: "Dieser Gegenstand
ist 30 cm lang", haben wir hier
keine feststehende "wirkliche"
Aussage über den Gegenstand getroffen,
sondern eine Beziehungsaussage. Denn
der Satz: "Dieser Gegenstand ist
länger" macht keinen Sinn, weil
das "länger Sein" kein Sein
ist, nicht in dem Gegenstand selbst
liegt, sondern in einer Beziehungsherstellung,
bei der der gleiche Gegenstand sowohl
länger als auch kürzer sein kann. (Man
denke an den Witz: "Nachts ist
es kälter als draußen.") Für Beziehungsurteile
brauchen wir also immer gleichzeitig
drei Gegebenheiten: eine Situation A
(die Länge des ersten Gegenstandes),
eine Situation B (die Länge des zweiten
Gegenstandes) und jemanden, der die
Beziehung zwischen A und B herstellt
(zu der Aussage gelangt, dass A größer
als B ist).
Im
Bereich der Sozialwissenschaften - und
zu ihnen gehören die Erziehungswissenschaft
und die Heilpädagogik -, im Bereich
des sozialen Handelns - und zu ihm gehört
auch Erziehung - haben wir es immer
mit Beziehungsaussagen zu tun, in denen
wir selbst mitenthalten sind. Auch
der Wissenschaftler hat nicht die Position
eines Wesens von einem fremden Stern,
der sich die sozialen Prozesse wie von
Außen betrachten kann.
Jemanden
als "behindert" zu betrachten,
ist keine Wesenheit, die ich an diesem
Menschen festmachen kann, sondern ein
Beziehungsurteil zwischen verschiedenen
Gruppen von Menschen. Dieses Beziehungsurteil
wird aus einem ganz bestimmten Interesse
heraus formuliert (um eine Außenseitergruppe
zu schaffen, die die eigene Normalität
bestätigt, aus therapeutisch-heilpädagogischen
Gründen, um eine Fallgruppe für professionelles
Handeln zu definieren), aber es läßt
sich nicht auf der Ebene von richtig
oder falsch, wirklich oder unwirklich
beweisen.
Ein
anderer Vertreter des Konstruktivismus
- Ernst von Glasersfeld - hat diesen
Zusammenhang einmal durch die Einführung
der Wörter "stimmen" und "passen"
zu verdeutlichen versucht. Von einer
Abbildung können wir sagen sie "stimme",
weil sie in irgendeiner Weise das Abzubildende
wiedergibt.
"Sagen
wir andererseits von etwas, dass es
'passt', so bedeutet das nicht mehr
und nicht weniger, als dass es den Dienst
leistet, den wir uns von ihm erhofften.
Ein Schlüssel 'passt', wenn er das Schloss
aufsperrt. Das Passen beschreibt die
Fähigkeit des Schlüssels, nicht aber
das Schloss. ... Vom Gesichtspunkt des
radikalen Konstruktivismus aus stehen
wir alle - Wissenschaftler, Philosophen,
Laien, Schulkinder, Tiere, ja Lebewesen
aller Art - unserer Umwelt gegenüber
wie ein Einbrecher dem Schloss, das
er aufsperren muss, um Beute zu machen."
(EW,20)
Fassen
wir also vorläufig zusammen: Es gibt
nicht die Wirklichkeit, sondern Bilder
der Wirklichkeit, über die kommunikativ
hergestellte Einigkeit oder Uneinigkeit
herrscht. Das, was wir an "Wirklichkeit"
in unserem Kopf haben, ist nicht ein
Abbild dessen, was es da draußen, außerhalb
unseres Kopfes wirklich gibt, sondern
es sind Konstruktionen, mithin etwas
Gemachtes. Heinrich Böll hat einmal
geschrieben:
"Die
Wirklichkeit wird uns nie geschenkt.
Sie erfordert unsere aktive, nicht unsere
passive Aufmerksamkeit. Geliefert werden
uns Schlüssel, Ziffern, ein Code - es
gibt keinen Passepartout für die Wirklichkeit:
Bücher, Tatsachen, sie sind immer nur
- sind es bestenfalls - Teile von oder
Schlüssel zu Wirklichkeiten, sie öffnen
Wirklichkeiten, wie man Türen zu Gebäuden
öffnet, damit der Eintretende sich darin
umsehe. Und man muss eintreten in den
noch unbekannten Raum und sich darin
umsehen. Das Wirkliche liegt immer ein
wenig weiter als das Aktuelle: Um einen
fliehenden Vogel zu treffen, muss man
vor ihn schießen."
3.
Selbsterfüllende Prophezeiungen
Das
mag alles noch recht abstrakt klingen,
deshalb aus der Fülle von Watzlawicks
Überlegungen zur Konkretisierung ein
Gedanke. Eine Prophezeiung ist die Voraussage
einer Wirklichkeitsbeschreibung in der
Zukunft, egal ob sie falsch oder richtig
ist. Was aber, wenn die Wirklichkeit
nicht so ist wie die Prophezeiung vorausgesagt
hat, sondern wenn sie so wird, weil
sie so vorausgesagt wurde. Mithin das
Bild bildet die zukünftige Wirklichkeit
nicht ab, sondern es erschafft diese.
In der Sozialpsychologie hat sich dafür
der Begriff "Sich Selbsterfüllende
Prophezeiung" eingebürgert. Dazu
eine von Watzlawick zitierte Anekdote
vorweg:
"In
einem österreichischen Landeskrankenhaus
liegt ein schwerkranker Mann im Sterben.
Die behandelnden Ärzte haben ihm wahrheitsgemäß
mitgeteilt, dass sie seine Krankheit
nicht diagnostizieren können, ihm aber
wahrscheinlich helfen könnten, wenn
sie die Diagnose wüssten. Sie haben
ihm ferner gesagt, dass ein berühmter
Diagnostiker das Spital in den nächsten
Tagen besuchen und vielleicht imstande
sein wird, die Krankheit zu erkennen.
Ein paar Tage später kommt der Spezialist
wirklich an und macht seine Runde. Am
Bett des Kranken angekommen, wirft er
nur einen flüchtigen Blick auf ihn,
murmelt 'moribundus' und geht weiter.
Einige Jahre später sucht der Mann den
Spezialisten auf und sagt ihm: 'Ich
wollten Ihnen schon längst für Ihre
Diagnose danken. Die Ärzte sagten mir,
dass ich Aussicht hätte, mit dem Leben
davonzukommen, wenn Sie meine Krankheit
diagnostizieren könnten, und im Augenblick,
da Sie 'moribundus' sagten, wusste ich,
dass ich es schaffen werde.'" (EW,
104)
Ein
Beleg ist dies sicherlich noch nicht,
eher eine Illustration des Gemeinten.
Für die Pädagogik aufschlussreicher
ist eine Untersuchung, die Rosenthal
u.a. in den 60er Jahren durchgeführt
haben. In der Zusammenfassung nach Tausch
und Tausch wird sie so beschrieben:
"Schüler
aus achtzehn 1. - 6. Schuljahren wurden
mit einem nicht-verbalen, nur in geringem
Ausmaß mit den Schulleistungen korrelierenden
Intelligenztest untersucht. 20% der
Schüler jeder Klasse - zufällig, ohne
Berücksichtigung ihrer Leistungen im
Intelligenztest ausgewählt - wurden
den Klassenlehrern von den Psychologen
als Schüler bezeichnet, von denen der
größte intellektuelle Gewinn zu erwarten
sei (experimentelle Gruppe). Nach 8
Monaten wurden alle Schüler wiederum
mit dem gleichen Intelligenztest untersucht.
Ergebnis: Die Schüler der experimentellen
Gruppe, von denen ihre Klassenlehrer
einen großen intellektuellen Gewinn
zu erwarten hatten, zeigten - im Vergleich
zu den übrigen Schülern der Klasse (Kontroll
Vpn) - einen signifikant größeren Gewinn
im Intelligenztest (12 vs. 8 IQ-Punkte).
... Man kann vermuten, dass Lehrer mit
positiven Erwartungseinstellungen hinsichtlich
des Intelligenzgewinnes ihrer Schüler
eher positive Bekräftigungen für intelligentes
Schülerverhalten geben, dass sie den
Schülern mehr positive Affekte kommunizieren
und fehlerhafte Äußerungen seltener
und in geringerem Ausmaß kritisieren.
Wahrscheinlich spüren die Schüler auch
den Optimismus und die Akzeptierung
ihrer Lehrer, sie empfinden weniger
Angst, nehmen mehr am Unterricht teil
und werden intellektuell funktionstüchtiger."
(T&T, Erziehungspsychologie 19716,
S. 129f)
Watzlawick
berichtet sogar von einem vergleichbaren
Ergebnis in Tierversuchen: "Zwölf
Teilnehmer an einem Praktikum in Experimentalpsychologie
erhielten eine Vorlesung über Untersuchungen,
die (angeblich) bewiesen, dass gute,
beziehungsweise schlechte Testleistungen
von Ratten ... durch selektive Züchtung
der Tiere angeboren werden können. Sechs
der Studenten erhielten dann 30 Ratten,
deren genetische Veranlagung sie angeblich
zu besonders guten, intelligenten Versuchstieren
machte, während den anderen sechs Studenten
30 Ratten zugewiesen wurden, von denen
ihnen das Gegenteil gesagt wurde -
nämlich dass es sich um Tiere handele,
die sich ihrer Erbanlage nach schlecht
für Experimente eigneten. In Tat und
Wahrheit waren alle 60 Ratten von derselben
Art, wie sie seit eh und je zu derartigen
Zwecken verwendet werden. Alle 60 Tiere
wurden dann auf ein und dasselbe Lernexperiment
hin trainiert. Die Ratten, deren Versuchsleiter
glaubten, es handele sich um besonders
intelligente Tiere, schnitten in den
Versuchen nicht nur von vornherein besser
ab, sondern steigerten ihre Leistungen
weit über die der 'unintelligenten'
Tiere hinaus. Am Ende des fünftägigen
Versuchs wurden die Versuchsleiter aufgefordert,
ihre Versuchstiere zusätzlich zu den
ihnen bekannten Versuchsergebnissen
auch subjektiv zu beurteilen. Die Studenten,
die 'wussten', dass sie mit unintelligenten
Tieren arbeiteten, drückten sich in
ihren Berichten dementsprechend negativ
aus, während ihre Kollegen, die mit
den vermeintlich überdurchschnittlich
begabten Ratten experimentiert hatten,
ihre Schützlinge als freundlich, intelligent,
findig und ähnlich beurteilten und ferner
erwähnten, dass sie die Tiere häufig
berührt, gestreichelt und sogar mit
ihnen gespielt hatten." (98f)
Dieser
Mechanismus ist gerade für die Behindertenpädagogik
bedeutsam, die es mit Menschen zu tun
hat, die qua Definition einer negativen
Bewertung unterliegen. Ein Kind in einer
Behinderteneinrichtung ist behindert,
weil es in einer Behinderteneinrichtung
ist, und auch wenn es "in Wirklichkeit"
nicht behindert war, wird es mit großer
Wahrscheinlichkeit so werden. Autistische
Kinder werden sich von der Kommunikation
mit anderen absondern, weil sie Autisten
sind, und diese Definition schafft in
den Köpfen der Betreuer eine Wirklichkeit,
die das hervorbringt, was sie vorab
gesetzt hat. Erstaunen mag es dann
hervorrufen, wenn ein scheinbar neutraler
Außenstehender zu einem solchen Kind
schnell Kontakt aufnimmt. Doch dann
gilt meist der Satz von Hegel, den Watzlawick
gerne zitiert: "Wenn die Tatsachen
nicht mit der Theorie übereinstimmen
- um so schlimmer für die Tatsachen."
(EW, 217)
Wir
finden diesen Mechanismus sich selbsterfüllender
Prophezeiungen in allen Bereichen des
sozialen Lebens. Wirksam sind sie insbesondere
in den öffentlichen Medien: Eine Nachricht
muss nicht gemeldet werden, weil sie
sich ereignet hat, sondern sie wird
gemeldet, weil sie sich ereignen soll
und dann auch ereignen wird. Denken
wir beispielsweise an die Berichte
im Fernsehen und in den Zeitungen in
der letzten Zeit, die zum Ziel haben,
das Grundgesetz so zu ändern, dass deutsche
Soldaten in Zukunft auch in Nicht-NATO-Ländern
kämpfen sollen. Oder denken wir an die
letzten olympischen Spiele, von denen
nicht so im Fernsehen berichtet wurde,
weil sie so stattgefunden haben, sondern
die so stattgefunden haben, wie sie
in Wirklichkeit stattgefunden haben,
weil über sie berichtet wurde. (Ich
habe von einem Studenten gehört, kann
dies aber nicht belegen, die USA hätten
als Ausrichter der nächsten Fußballweltmeisterschaft
vorgeschlagen, die Spiele nicht in zwei
Halbzeiten, sondern in vier Vierteln
auszutragen, um mehr Werbemöglichkeiten
zu bekommen. Mithin - auch jetzt bei
der Fußballbundesliga feststellbar:
die Werbung nicht als Einnahmequelle,
um über ein Ereignis berichten zu können,
sondern das Ereignis, damit Werbeeinnahmen
erzielt werden können.)
Eine
Prophezeiung muss sich dabei nicht so
erfüllen, wie sie es vorhergesagt hat,
sondern sie kann eine Wirklichkeit
erschaffen, die gerade das Gegenteil
des vorhergesagten hervorbringt, die
aber auch noch in ihrem Gegenteil dadurch
Wirklichkeit wurde, weil sie an die
Prophezeiung gebunden war. Ich denke
an meinen Sportlehrer, der mir als Jugendlicher
sagte, ich würde mich als Erwachsener
nie freiwillig bewegen - und durch diese
Voraussage auch sein mangelhaft auf
dem Schulzeugnis für gerechtfertigt
hielt. In "Wirklichkeit" bin
ich in diesen Sommerferien über 1000
km mit dem Rad durch Holland gefahren.
Oder um Max Frisch zu zitieren:
"Irgendeine
fixe Meinung unserer Freunde, unserer
Eltern, unsrer Erzieher, auch sie lastet
auf manchem wie ein altes Orakel. Ein
halbes Leben steht unter der heimlichen
Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt
es sich nicht. Mindestens die Frage
ist uns auf die Stirne gebrannt, und
man wird ein Orakel nicht los, bis man
es zur Erfüllung bringt. Dabei muss
es sich durchaus nicht im geraden Sinn
erfüllen; auch im Widerspruch zeigt
sich der Einfluss, darin, dass man so
nicht sein will, wie der andere uns
einschätzt. Man wird das Gegenteil,
aber man wird es durch den andern. Eine
Lehrerin sagte einmal zu meiner Mutter,
niemals in ihrem Leben werde sie stricken
lernen. Meine Mutter erzählte uns jenen
Ausspruch sehr oft; sie hat ihn nie
vergessen, nie verziehen; sie ist eine
leidenschaftliche und ungewöhnliche
Strickerin geworden, und alle die Strümpfe
und Mützen, die Handschuhe, die Pullover,
die ich jemals bekommen habe, am Ende
verdanke ich sie allein jenem ärgerlichen
Orakel!" (Bd. II.2, 370f)
Oder
schließlich ein Beispiel aus diesem
Seminar: Ich gehe davon aus, dass einige
von euch mit der Selbsterwartung hier
sitzen, für das Erlernen komplizierter
Theorien seien sie zu dumm. Die Entscheidungen,
Pädagogik und nicht Mathematik zu studieren,
an die Fachhochschule und nicht an die
Universität zu gehen, mögen durch diese
Selbstbewertung, zu deren Aufbau die
Schule viel gute Arbeit geleistet hat,
mitbeeinflusst gewesen sein. (Es gibt
übrigens m.E. gute Gründe für ein Fachhochschulstudium,
aber das ist jetzt nicht mein Thema.)
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher
Kommilitone sich an schwierige Texte
nicht herantraut, ist groß; vermutlich
wird der Seminarvortrag mit mehr als
drei ungebräuchlichen Fremdwörtern und
einer Satzlänge, die schwer zu überblicken
ist, bestätigen, man sei für ein solches
Theoretisieren nicht geschaffen, vielleicht
kann man diese auch noch als Spinnerei
und überflüssig zu entwerten versuchen,
ein Rest an negativem Selbstbild bleibt
und wird sich selbst bestätigen.
Aber
zurück zu unserem Thema, dessen Zusammenhang
aus dem Blick zu geraten scheint. Deshalb
wiederholend: Das, was wir im sozialen,
kommunikativen Bereich "Wirklichkeit"
nennen, ist nicht die eine, unabhängig
von uns existierende wirkliche Wirklichkeit,
sondern es sind Bilder der Wirklichkeit,
über die wir uns verständigen, die wir
- wie different sie zwischen verschiedenen
Menschen auch immer sein mögen - nicht
als wahr oder falsch beurteilen können.
Die Bilder sind nicht die Wirklichkeit,
sondern in vielen Fällen schaffen sie
diese erst.
4.
Interpunktion
Wie
geschieht es nun, dass unterschiedliche
Personen, die eigentlich alle "die"
Wirklichkeit sehen könnten, statt dessen
aber sehr verschiedene Wirklichkeiten
erschaffen? Watzlawick zitiert dazu
einen bekannten Witz, den wir in folgender
Karikatur abgebildet sehen. Der Versuchsleiter
wird sagen, die Ratte sei so konditioniert,
dass sie lernt, den Hebel zu drücken,
damit sie als Belohnung Futter erhält.
Die Ratte aber sagt, der Versuchsleiter
sei so konditioniert, dass er Futter
gebe, wenn sie den Hebel drückt. Die
gleiche Ereignisabfolge, doch die Einschnitte
werden jeweils unterschiedlich gesetzt.
Watzlawick nennt dies "Interpunktion",
wodurch aus einem unendlichen Fluss
des Geschehens Anfangs- und Endpunkte
festgelegt, Ursache- und Folgebeziehungen
herausgehoben und so in das Chaos eine
Ordnung gebracht wird.
Wir
alle kennen dies aus unserer alltäglichen
Kommunikation: Jemand ist immer in meiner
Gegenwart muffelig, und deshalb fühle
ich mich angegriffen und reagiere verletzt;
aus der anderen Perspektive: du reagierst
immer so mimosenhaft und gereizt, da
kann ich mich nur zurückziehen. Gemeinsam
ist beiden Partnern, dass sie ihr Verhalten
als Folge des Verhaltens des anderen
auffassen, so dass sie an dem Problem
unschuldig sind: wenn der andere sich
anders verhielte, dann ...
Doch
es geht jetzt noch nicht um Beziehungsprobleme,
sondern um den Mechanismus des Interpunktierens.
Wiederholend gesagt: Er wird notwendig,
um das Chaos der Wirklichkeit zu ordnen,
und er funktioniert, indem er in den
unendlichen Fluß des Ablaufs Einschnitte
setzt und damit Ursache-Wirkungs-Beziehungen
konstituiert.
Unser
Wirklichkeitsbild ist dabei beherrscht
von einem Kausalitätsdenken, das für
bestimmte Bereiche auch sehr wirksam
ist: Weil der Regen fällt, wird die
Erde feucht, und nicht: Weil die Erde
feucht wird, regnet es. Weil ich den
Schalter betätige, geht das Licht an,
und nicht: Weil das Licht angeht, betätige
ich den Schalter. Diese Möglichkeiten
eindeutiger Kausalität passen jedoch
nicht auf kommunikative Formen der Wirklichkeit.
Hier gilt vielmehr, wie Watzlawick schreibt:
"Es besteht aber guter Grund zur
Annahme, dass die Kausalität von Beziehungen
zwischen Organismen ... kreisförmig
ist und dass genauso, wie jede Ursache
eine Wirkung bedingt, jede Wirkung ihrerseits
zu einer Ursache wird und damit auf
ihre eigene Ursache zurückwirkt."
(WW, 74)
Aus
dieser Kreisförmigkeit menschlicher
Kommunikation ergibt sich für den Konstruktivismus,
dass ich Wirklichkeit nicht bei einem
Individuum suchen kann - die Behinderung
bei dem Kind mit Down Syndrom -, sondern
nur durch die Erhellung der Kommunikationsstruktur
zwischen Menschen - also ist das Kind
mit Down-Syndrom nicht behindert, sondern
die Interaktion zwischen dem Kind mit
Down-Syndrom und seiner relevanten Umgebung
(Eltern, Ärzte, Heilpädagogen etc.)
legen die Behinderung fest. In diesem
Sinne schreibt Watzlawick, dass es gilt
"die
Trias Sender - Zeichen - Empfänger als
kleinste Einheit jeder pragmatischen
Untersuchung aufzufassen und sie als
unteilbar zu behandeln. ... Wir glauben,
dass es ... müßig ist, die Beziehung
zwischen Sender und Zeichen ohne Mitberücksichtigung
des Empfängers und dessen Reaktion oder
die zwischen Empfänger und Zeichen unter
Außerachtlassung des Senders zu untersuchen
- genau wie es kaum der Mühe wert wäre,
das Spielverhalten (die Züge) eines
Schachspielers ohne Bezug auf die Züge
seines Partners zu studieren. ... Unser
Blickwinkel verschiebt sich vom Individuum
auf die Beziehung zwischen Individuen"
(MZ, 12).
5.
Eindeutigkeit
Existieren
so kommunikative Wirklichkeiten nicht
im objektiven Sinne "da draußen",
so dass sie im Innern des Kopfes möglichst
genau abgebildet werden könnten, sondern
sind Wirklichkeiten Konstruktionen,
so sind diese Konstruktionen nicht willkürlich,
sondern ergeben sich auf Grund von Kommunikation
mit relevanten anderen. Wir bedürfen
aus existentieller Notwendigkeit heraus
einer Übereinkunft mit anderen, damit
wir nicht im Wahn untergehen, sondern
uns wirklich erschaffen und die Wirklichkeit
wirklich werden lassen können. Watzlawick
nennt dies "ratifizieren"
"unserer Beziehungsdefinitionen
zu den Schlüsselpersonen unserer Umwelt"
(MZ, 54f). "Wir hängen auf Gedeih
und Verderb von den Ratifizierungen
unserer Wirklichkeit durch die anderen
ab, die ihrerseits ihre eigene Wirklichkeitserklärung
von uns fordern." (MZ, 56) Dieses
Bemühungen um Ratifizierung der Wirklichkeitsbilder,
um Eindeutigkeit, geht sehr weit und
kann manchmal seltsame Blüten treiben.
Watzlawick referiert hierzu verschiedene
psychologische Untersuchungen zur "Nichtkontingenz",
d.h. Untersuchungen, in denen zwischen
der Leistung und der Bewertung der Versuchsperson
keinerlei Beziehung besteht. Referieren
wir ein Beispiel:
Der
Versuchsperson wird "eine lange
Reihe von Zahlenpaaren vorgelesen ...
Nach Nennung jedes Zahlenpaares hat
die Versuchsperson anzugeben, ob diese
beiden Zahlen 'zusammenpassen' oder
nicht. Auf die nie ausbleibende, verblüffte
Frage, in welchem Sinne denn diese Zahlen
'passen' sollen, antwortet der Versuchsleiter
nur, dass die Aufgabe eben im Entdecken
der Regeln dieses Zusammenpassens liegt.
Damit wird der Eindruck erweckt, es
handele sich um eines der üblichen 'Versuch
und Irrtum'-Experimente. Die Versuchsperson
beginnt also zunächst mit wahllos gegebenen
'passt' - oder 'passt nicht'-Antworten
und erhält vom Versuchsleiter ... zunächst
fast ausschließlich 'falsch' als Bewertung
der Antworten. Langsam aber bessert
sich die Leistung der Versuchsperson,
und die Richtigkeitserklärungen ihrer
Antworten nehmen zu. Es kommt so zur
Ausbildung einer Hypothese, die sich
im weiteren Verlaufe als zwar nicht
vollkommen richtig, aber doch immer
verlässlicher erweist.
Was
die Versuchsperson ... nicht weiß, ist,
dass zwischen ihren Antworten und den
Reaktionen des Versuchsleiters keinerlei
unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Der Versuchsleiter gibt die Richtigerklärungen
der Antworten vielmehr auf Grund der
ansteigenden Hälfte einer Gaußschen
Kurve, d.h. zuerst sehr selten und dann
mit immer größerer Häufigkeit. Dies
aber erschafft in der Versuchsperson
eine Auffassung von der 'Wirklichkeit'
der den Zahlenpaaren zugrundeliegenden
Ordnung, die so hartnäckig sein kann,
dass an ihr auch dann festgehalten wird,
wenn der Versuchsleiter ihr schließlich
erklärt, dass seine Reaktionen nichtkontingent
waren. Gelegentlich nimmt die Versuchsperson
sogar an, eine Regelmäßigkeit entdeckt
zu haben, die dem Versuchsleiter entgangen
ist." (EW, 13f)
Dieses
Erfinden von geordneten Wirklichkeiten
durch Entdeckung scheinbarer Kausalitäten
lässt sich nicht nur bei Menschen feststellen,
sondern auch bei Tieren. Watzlawick
referiert eine Untersuchung, bei der
Ratten lernen mussten, einen Futternapf
genau nach 20 Sekunden zu erreichen,
um Futter als Belohnung zu bekommen,
obwohl der gerade Weg zum Futternapf
nur 8 Sekunden dauern würde. Die in
den verbleibenden 12 Sekunden von der
Ratte durchgeführten Bewegungen - bestimmte
Sprünge, Pirouetten u.ä. - werden für
sie jetzt zur scheinbar wirksamen Ursache
der Belohnung, obwohl in der Wirklichkeit
des Versuchsaufbaus diese Beziehung
nicht bestand.
Noch
eine letzte Untersuchung möchte ich
erwähnen, weil sie bestimmte Aspekte
unseres Alltagshandelns gut beleuchtet.
"In
einem ... Experiment sitzen zwei Versuchspersonen,
A und B, vor einem Projektionsschirm.
Zwischen ihnen ist eine Trennwand, so
dass sie sich gegenseitig nicht sehen
können, und es wird ihnen außerdem zur
Auflage gemacht, nicht miteinander zu
sprechen. Beide haben vor sich je zwei
Drucktasten mit der Bezeichnung 'gesund'
und 'krank' sowie zwei Signallämpchen
mit der Aufschrift 'richtig' beziehungsweise
'falsch'. Der Versuchsleiter projiziert
nun eine Reihe von Mikrodiapositiven
von Gewebezellen, und es ist die Aufgabe
der Versuchspersonen, durch Versuch
und Irrtum die gesunden von den kranken
Zellen unterscheiden zu lernen. Sie
werden aufgefordert, zu jedem Bild durch
Drücken des betreffenden Knopfes ihre
(individuelle) Diagnose bekannt zugeben,
worauf sofort das Lämpchen 'richtig'
oder 'falsch' aufleuchtet.
Diese
scheinbar sehr einfache Versuchsanordnung
hat aber ihre geheimen Tücken: A erhält
jedes Mal die zutreffende Antwort auf
seine Diagnose ... Für ihn besteht das
Experiment also im verhältnismäßig
einfachen Erlernen einer ihm bisher
unbekannten Unterscheidung durch Versuch
und Irrtum; und im Verlauf des Versuchs
erlernen die meisten A-Personen bald,
gesunde von kranken Zellen mit einer
Verlässlichkeit von etwa 80 % zu unterscheiden.
B's
Situation dagegen ist eine ganz andere.
Die Antworten, die er erhält, beruhen
nicht auf seinen eigenen Diagnosen,
sondern auf denen A's. Es ist daher
völlig gleichgültig, wie er ein bestimmtes
Diapositiv einschätzt. Er erhält die
Antwort 'richtig', wenn A den Gesundheitszustand
der betreffenden Zelle richtig erriet;
wenn A dagegen sich irrte, erhält auch
B die Antwort 'falsch', ungeachtet der
Diagnose, die er selbst stellte. B weiß
das aber nicht; er lebt daher in einer
'Welt', von der er annimmt, dass sie
eine bestimmte Ordnung hat und dass
er diese Ordnung entdecken muss, indem
er Vermutungen anstellt und dann jeweils
erfährt, ob diese richtig oder falsch
waren. ... Er sucht also nach einer
Ordnung, die zwar besteht, ihm aber
nicht zugänglich ist.
A
und B werden nun ersucht, gemeinsam
zu besprechen, welche Grundsätze für
die Unterscheidung zwischen gesunden
und kranken Zellen sie entdeckt haben.
A's Erklärungen sind meist einfach
und konkret. B's Annahmen dagegen sind
subtil und komplex - schließlich gelangt
er zu ihnen ja auf Grund sehr dürftiger
und widersprüchlicher Mutmaßungen.
Das
Erstaunliche ist nun, dass A die Erklärungen
B's nicht einfach als unnötig kompliziert
oder geradezu absurd ablehnt, sondern
von ihrer detaillierten Brillanz beeindruckt
ist. Beide wissen nicht, dass sie buchstäblich
über zwei verschiedene Wirklichkeiten
sprechen, und A kommt daher zur Ansicht,
dass die banale Einfachheit seiner Erklärungsprinzipien
der Subtilität von B's Diagnosen unterlegen
ist. Das bedeutet aber nicht mehr und
nicht weniger, als dass B's Ideen für
A um so überzeugender klingen, je absurder
sie sind ...
Bevor
sich A und B einem zweiten, identischen
Test unterziehen, werden beide ersucht,
anzugeben, ob A oder B bei diesem Test
besser abschneiden wird als bei seinem
ersten. Alle B's und die meisten A's
vermuten, dass es B sein wird. Dies
ist tatsächlich der Fall, da A nun zumindest
einige von B's abstrusesten Ideen übernommen
hat und seine Vermutungen daher absurder
und dementsprechend unrichtiger sind
als beim ersten Mal." (WW, 61ff)
Menschen
sind auf der Suche nach Eindeutigkeit,
die ihnen hilft, das unendliche Chaos
zu ordnen, und damit Kausalität herstellen,
wo eigentlich Zufall herrscht. Die Eindeutigkeit
vermittelt Sinn, gibt der Mannigfaltigkeit
Bedeutung, reduziert unerträgliche Willkürlichkeit.
Mit einem Wort Nietzsches, das Watzlawick
einige male zitiert: "Wer ein warum
zu leben hat, fast jedes Wie erträgt."
(EW, 28)
Was
passiert nun, wenn Menschen sich in
einer Situation befinden, in der sie
sich eigentlich 100 % sicher sind,
dass sie mit einer Meinung recht haben,
aber eine Gruppe anderer eine gegenteilige
Meinung äußert. Es gibt eine Untersuchung
von Asch, die Watzlawick in diesem Zusammenhang
referiert. Einer Gruppe von Studenten
wird ein Bild mit einem senkrechten
Strich gezeigt und dann ein zweites,
das drei unterschiedlich lange Striche
aufweist. Die Versuchspersonen sollen
jeweils angeben, welcher der drei Striche
genau so lang ist wie der auf dem letzten
Bild, sie glauben also, an einer Untersuchung
zur "visuellen Diskriminierung"
teilzunehmen. Asch beschreibt den Untersuchungsverlauf:
"'Das
Experiment beginnt ganz normal. Die
Versuchspersonen geben ihre Antworten
in der Reihenfolge der ihnen zugewiesenen
Plätze, und in der ersten Runde geben
alle dieselbe Linie an. Ein zweites
Tafelpaar wird exponiert, und wiederum
ist die Antwort der Gruppe einstimmig.
Die Teilnehmer scheinen sich mit der
Aussicht auf weitere langweilige Experimente
abgefunden zu haben. Beim dritten Versuch
kommt es zu einer unerwarteten Störung.
Ein Teilnehmer wählt eine Linie, die
im Widerspruch zur Wahl der anderen
Versuchspersonen steht. Er scheint erstaunt,
ja sogar ungläubig über diese Meinungsverschiedenheit.
Beim nächsten Durchgang ist er wiederum
anderer Meinung, während die Wahl der
anderen einstimmig bleibt. Der Dissident
ist immer bestürzter und unschlüssiger,
da sich die Meinungsverschiedenheiten
auch in den folgenden Versuchen fortsetzt;
er zögert, bevor er seine Antwort gibt,
spricht mit leiser Stimme oder zwingt
sich zu einem peinlichen Lächeln.'
Was
er nämlich nicht weiß, ist, dass Asch
alle übrigen Studenten vor dem Experiment
sorgfältig instruierte, von einem bestimmten
Punkt an einstimmig dieselbe falsche
Antwort zu geben. Er ist somit die
einzige wirkliche Versuchsperson und
befindet sich in einer höchst ungewöhnlichen
und beunruhigenden Lage: Entweder muss
er der nonchalant und einstimmig abgegebenen
Meinung der anderen widersprechen und
ihnen daher in seiner Wirklichkeitsauffassung
merkwürdig gestört vorkommen, oder er
muss der Evidenz seiner eigenen Wahrnehmungen
misstrauen. Wie unglaublich es auch
scheinen mag, verfielen 36,8 % der Versuchspersonen
dieser zweiten Alternative und unterwarfen
sich dem ihnen selbst so offensichtlich
falschen Urteil der Gruppe. ... Die
Versuchspersonen, die nach dem Experiment
alle über seine wahre Natur aufgeklärt
wurden, berichteten über Gefühlsreaktionen,
die die ganze Skala von mäßiger Angst
bis zu ausgesprochenen Depersonalisationserlebnissen
umfassten. Selbst jene, die sich nicht
der Gruppenmeinung unterwarfen, taten
dies fast ohne Ausnahme mit nagenden
Zweifeln darüber, ob sie nicht doch
vielleicht Unrecht hatten." (92ff)
Watzlawick
bezieht dies auf den Umgang von Familien
Schizophrener:
"Fast
unweigerlich besteht in diesen Familien
der Mythos, dass sie keinerlei Probleme
haben und niemand über etwas unglücklich
ist, außer über die bedauerliche Tatsache,
dass einer von ihnen geisteskrank ist.
Doch schon ein kurzes Gespräch mit der
ganzen Familie kann krasse Ungereimtheiten
in der Wirklichkeitsauffassung der Familie
als ganzes ... ans Licht bringen. ...
Der Patient, nicht selten das sensibelste
und klarsehendste Familienmitglied,
lebt auf diese Weise in einer Welt,
deren Verschrobenheit ihm dauernd als
normal hingestellt wird. Es wäre für
ihn eine fast übermenschliche Leistung,
diesem Druck erfolgreich zu widerstehen
und den Familienmythus bloßzulegen.
Und selbst wenn ihm das gelänge, würden
seine Angehörigen darin nicht nur einen
weiteren Beweis seiner Verrücktheit
sehen, sondern er würde damit auch riskieren,
von ihnen verworfen zu werden und die
einzige Sicherheit zu verlieren, die
er im Leben zu haben glaubt." (WW,95f)
Das
Gesagte hat auch Bedeutung für die Heilpädagogik:
Ein verhaltensgestörtes Kind ist verhaltensgestört,
ein autistisches Kind ist autistisch,
und jede Interaktion mit den relevanten
anderen Personen wird dies bestätigen,
jeder erneute "objektive"
Test ist ein weiterer Baustein dieser
wirklichkeitserschaffenden Zuschreibung,
gegen die die Kinder sich nicht wehren
können, jede in guter Absicht durchgeführte
pädagogische Handlung, die von diesem
Bild geleitet wird, kann so leicht in
das Gegenteil umschlagen. Nun lässt
sich sagen, es gibt aber noch objektive
Faktoren, das, was in der Heilpädagogik
als "Schädigung" bezeichnet
wird, und die lassen sich nicht wegdiskutieren.
Ein Kind das blind ist, kann nicht sehen,
und es nicht nur meine Meinung, dass
es nicht sehen kann. Dies lässt sich
nicht bestreiten: Blind ist blind. Nur:
für die Wirklichkeit des Blinden ist
von entscheidender Bedeutung, welcher
Sinn dieser Tatsache kommunikativ von
den anderen zugesprochen wird: ist es
ein Mangel, der heilpädagogischen Behandlung
bedürftig, oder ist es im Gegenteil
eine besondere Voraussetzung, um ein
"Seher" zu werden. Wie der
Fuchs in dem Kleinen Prinzen von Antoine
de Saint-Exupéry sagt: "Hier mein
Geheimnis. Es ist ganz einfach: man
sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche
ist für die Augen unsichtbar."
(72) Das Kind, das blind geboren ist,
kann beiden Fremdzuschreibungen nur
wenig entgegensetzen. Es wird ein hilfebedürftiger
Fall werden, wenn es als hilfebedürftiger
Fall von den anderen gesehen wird; es
wird ein Seher werden, wenn die anderen
es mit Ehrfurcht und Aberglaube als
Seher betrachten. Jede Gesellschaft
hat Vorstellungen, was als normal gilt,
und Außenseiter, also auch Behinderte,
haben die wichtige Funktion, durch ihr
Anderssein die Normalität der anderen
zu bestätigen, zu "ratifizieren".
6.
Kommunikation, Kommunikationsstörung,
Therapie
Der
Grundbegriff zum Verständnis der Thesen
Watzlawicks ist der der "Kommunikation".
Menschen stehen in Beziehungen zueinander,
und ihre Wirklichkeit lässt sich nicht
dadurch ermitteln, dass sie als einzelne,
als Individuen losgelöst von ihren Beziehungen
betrachtet werden, sondern nur die Tatsache
ihrer Kommunikation kann Grundlage der
Betrachtung sein. Ähnlich werden wir
später noch von dem Soziologen Norbert
Elias hören, es gäbe nicht den Menschen
als "Monade", der dann zu
anderen Individuen in Beziehung gestellt
würde, sondern es gäbe nur "Menschen
in Beziehungen". Anthropologische
Grundlage des Menschen ist sein Austausch
mit anderen, so dass es nicht den behinderten,
verrückten, normalen Einzelnen gibt,
der auf Grund seines Soseins eine bestimmte
Welt- und Eigensicht hat. Wir könnten,
wie Watzlawick schreibt, "weder
körperlich noch seelisch das gänzliche
Fehlen von Kommunikation mit anderen
überleben" (MZ, 22), und diese
Kommunikation ist nicht etwas Nachträgliches,
dass zu dem Individuellen hinzukäme,
sondern Kommunikation schafft eine Eigenwelt,
die mehr ist als die Summe der einzelnen
Teile.
Jegliches
Verhalten eines einzelnen Menschen ist
geprägt durch eine Geschichte von Beziehungen,
und es hat in einer konkreten Situation
immer einen Mitteilungscharakter, so
dass Watzlawick schreiben kann: "Da
es kein Nicht-Verhalten gibt, kann man
auch nicht nicht kommunizieren."
(MZ, 20) In einer schwierigen Beziehungssituation
kann man manchmal den Wunsch haben,
man möchte am liebsten gar nichts tun,
sich eingraben, eine Pause der Auseinandersetzung
vereinbaren, nichts selber sagen, damit
der andere etwas sagt. Wie auch immer,
auch dieses scheinbare Nichtverhalten
sendet dem Partner eine Information,
die er als Friedensangebot deuten kann,
wie ein unterlegener Hund dem anderen
seinen Hals als die verletzbare Stelle
anbietet, oder er kann wütend werden,
weil er immer in ein Schweigen hineinredet,
und das fehlende Echo als bewussten
Angriff interpretiert.
Jede
Kommunikation - so lautet ein weiteres
Theorem Watzlawicks - weist dabei zwei
Aspekte auf: "Zunächst einmal vermittelt
jede Kommunikation ... eine bestimmte
Information, die ihren Inhalt darstellt.
Darüber hinaus aber hat sie auch einen
metakommunikativen Aspekt, d.h. eine
Kommunikation darüber, wie diese Kommunikation
vom Empfänger aufzufassen ist ... (der)
Beziehungsaspekt." (MZ, 21) Nehmen
wir die einfache Situation eines Paares
beim Frühstück, wo sie zu ihm sagt:
"In der Zeitung steht, dass ...".
Der Inhalt dieser Situation ist einfach
zu ermitteln, er besteht in der wahren
oder falschen Wiedergabe eines gelesenen
Artikels. Schwieriger ist es schon mit
dem Beziehungsaspekt: Es mag sein,
dass sie mitteilt: "Lass uns nur
nicht über irgend etwas von uns selbst
reden", oder: "Es ist schön,
mit dir einfach entspannt Belanglosigkeiten
austauschen zu können", oder:
"Ich bin wie immer besser (informiert)
als du", oder: "Ich möchte
dir helfen, dass du auf andere Gedanken
kommst", oder: "Wenn es schon
so schwierig mit uns ist, kannst du
wenigstens dazu etwas sagen", oder,
oder, oder.
Nehmen
wir als anderes Beispiel die Situation
in diesem Seminar selbst. Der Inhalt,
den ich euch übermittele, besteht in
der Darstellung einer sozialwissenschaftlichen
Theorie. Gleichzeitig werden aber auch
jetzt Beziehungsdefinitionen vermittelt,
z.B.: "Dies ist eine Lehrer-Schüler-Situation,
der Lehrer weiß etwas, der Schüler lernt
etwas." Diese Lehrer-Schüler Definition
der Beziehung bestimmt die Entfernung
zwischen mir und euch, vermittelt,
wer wie viel Macht hat, etwas zum Thema
zu machen und anderes nicht. Mit dem,
was ich euch vortrage, mag es sein,
dass ich euch vermittle: "Ich will
kein Lehrer sein", oder: "Wenn
das so langweilig verläuft, muss ich
allein reden", oder, oder, oder.
Und ihr mögt denken: "Auch das
geht vorüber", oder: "Das
alles muss ich nur für die Prüfung
tun", oder: "Der weiß so viel
und ich so wenig", oder, oder,
oder. Meine Art der Beziehungsdefinition
ist dabei nicht unabhängig von eurer,
sondern in jeder Situation handeln wir
mehr oder weniger bewusst unsere Sichtweisen
aus, bis wir zu einer ungefähren Übereinstimmung
über unsere gegenseitigen Erwartungen
kommen. - Nur in Klammern formuliert:
Eure Situation als Neulinge in der "Einführung
in die Pädagogik" ist etwas komplizierter,
für euch und für uns, weil Neulinge
- obwohl langjährige Schulerfahrung
uns hier schon viel vorgearbeitet hat
- noch nicht so genau wissen, wie sie
sich zu verhalten, was sie zu sagen
und was sie zu schweigen haben. So werden
zu Beginn, meist unbewusst, Beziehungsdefinitionen
wechselseitig erarbeitet, gegen die
später selbst bei bewusstem Wunsch nach
Veränderung nur schwer anzugehen ist.
Z-B.: Jemand, der sich selbst als der
Passive, Schweigende, Zurückziehende
definiert und von den anderen entsprechend
gesehen und behandelt wird, wird nur
mit Anstrengung in dem gleichen Rahmen
Fachhochschule zu dem Aktiven, Redenden
werden. Beziehungsdefinitionen werden
wechselseitig bestätigt und schaffen
so einen Kreislauf, der wie eine sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung
funktioniert.
Es
wird nicht überraschend sein zu hören,
dass Watzlawick dem Beziehungsaspekt
eine größere Bedeutung beilegt als dem
Inhaltsaspekt. "Von einem anderen
verstanden zu sein bedeutet, dass der
andere unsere eigene Sicht der zwischenmenschlichen
Wirklichkeit mit uns teilt" (MZ,
23f), und weil wir geistig und emotional
ohne Kommunikation nicht überleben könnten,
sind wir auf die "Ratifizierung"
der Beziehungsdefinition lebensnotwendig
angewiesen.
Dies
zeigt sich beispielsweise auch in Arbeitsbeziehungen.
Beispiel: Wenn immer ich Fortbildungsveranstaltungen
für Erzieherinnen aus Kindergärten mache
und wir uns ein wenig kennengelernt
haben, äußert der überwiegende Teil
der Teilnehmerinnen, das eigentliche
Problem bestünde im Umgang der Kolleginnen
untereinander. Wie man mit Kindern umzugehen
habe, wie man ein einzelnes Kind verstehen
könne, all dies bereite keine großen,
allenfalls technische Schwierigkeiten,
aber wie eine bestimmte Kollegin sich
verhielte oder wie alle gemeinsam gegeneinander
kämpften oder schwiegen verhindere die
Umsetzung auch noch so guter Ideen.
Oder ein anderes Beispiel: Ulli Stein,
der Torwart von Eintracht Frankfurt,
behauptet, ohne Andi Möller wäre sein
Verein statt des VfB Stuttgart in diesem
Jahr deutscher Fußballmeister geworden,
eine Behauptung, die merkwürdig erscheint,
weiß man, dass besagter Andi Möller
einer der genialsten Fußballspieler
in Deutschland ist, eine Behauptung,
die jedoch auch für einen außenstehenden
Zeitungsleser an Plausibilität gewinnt,
wenn man von den diversen Kommunikationsstörungen
lesen konnte.
Womit
wir schon den nächsten Punkt berühren:
So existentiell notwendig die Kommunikation
so universell verbreitet scheinen die
Kommunikationsstörungen. Halten wir
dabei wiederholend als das Zentrale
fest: Sie sind nicht Ausdruck der Krankheit
eines Mitgliedes, des Behinderten,
des Verhaltensgestörten, sondern zwischenmenschliche
Erscheinungen, die zur Folge haben,
dass eine Beziehungssituation nicht
so funktioniert, dass alle dabei gleichberechtigt
zum Zuge kämen. Dass dabei häufig einer
in der sozialen Situation von allen
anderen zum Sündenbock erklärt wird,
dass an ihm Merkmale seines Soseins
gefunden werden, die Grund für alle
Probleme zu sein scheinen, dass eigentlich
alles in Ordnung sei, wenn er oder sie
in Ordnung wäre, mag dabei Ausdruck
einer pathologischen Beziehungsdefinition
sein: Der Außenseiter, der Behinderte,
das verhaltensgestörte Kind wird benötigt,
damit die Kommunikationsstörungen einen
Ausfluss haben und alle anderen sich
in ihrer Normalität bestätigen können.
In
jedem kommunikativen System - von der
Paar- und Eltern-Kind-Beziehung über
die Hochschule bis zu professionellen
Arbeitsbeziehungen - gibt es Regeln,
die den Austausch von Beziehungsdefinitionen
steuern. Da ein solches "System"
nicht als starr und überpersönlich gedacht
werden kann, sondern weil es der ständigen
Veränderung unterliegt, müssen die Regeln
so flexibel sein, dass sie sich den
ergebenden Veränderungen anpassen können,
sozusagen ein System von Regeln für
Regeln - "Metaregeln" -, die
bei Störungen des Kommunikationsprozesses
eine metakommunikative Verständigung
erlauben. Watzlawick schreibt:
"gut
funktionierende Systeme (zeichnen sich)
offenbar durch größere Flexibilität
und ein größeres Repertoire von Regeln
aus, während 'kranke', d.h. konfliktreiche
Systeme über wenige und starre Regeln
verfügen. ... Pathologische Systeme
verfügen über keine hinlänglichen Metaregeln,
d.h. Regeln für die Änderung ihrer Regeln."
(MZ,32) Und formuliert von dorther den
Auftrag von Therapie: "Wenn es
zutrifft, dass ein System in dem Grade
pathologisch ist, als es nicht aus sich
selbst Regeln für die Änderung seiner
Regeln hervorbringen kann, so ist es
die offensichtliche Aufgabe einer wirksamen
Therapie, diese Regeln von außen in
das System einzuführen." (MZ, 35)
Und an anderer Stelle: "Wer seelisch
leidet, leidet eben nicht an der 'wirklichen'
Wirklichkeit, sondern an seinem Bild
der Wirklichkeit. Dieses Bild ist aber
für ihn die Wirklichkeit, und sein Sinn
ist der wahre Sinn des Lebens. ... Die
Leidenden ... sind in ihrem eigenen
Weltbild gefangen; sie spielen, was
wir in der Kommunikationsforschung ein
Spiel ohne Ende nennen, d.h. ein Spiel,
das keine Regel für die Änderung seiner
eigenen Regeln oder für seine Beendigung
hat; ein Spiel, dessen erste Regel ...
lautet: Dies ist kein Spiel, dies ist
todernst. Es ist ein selbstrückbezügliches
Universum, das sich in seinem In-sich-selbst-gekehrt-Sein
ununterbrochen leidvoll in der alten
Weise erneuert." (MZ, 170)
Es
ist hier nicht der Ort, die therapeutische
Konzeption des Konstruktivismus darzustellen,
und deshalb diese hier nur andeutend
zwei Geschichten, die Watzlawick zitiert:
1.
Die orientalische Parabel:
"Ein
Vater hat angeordnet, dass die Hälfte
seiner Hinterlassenschaft an den ältesten
Sohn gehe, ein Drittel an den zweiten
und ein Neuntel an den jüngsten. Die
Erbmasse besteht aber aus 17 Kamelen,
und wie die Söhne nach seinem Tode das
Problem auch drehen und wenden, sie
finden keine Lösung, außer der Zerstückelung
einiger Tiere. Ein mullah, ein Wanderprediger,
kommt dahergeritten, und sie fragen
ihn um seinen Rat. Dieser sagt: 'Hier
- ich gebe mein Kamel zu den euren dazu;
das macht 18. Du, der Älteste, bekommst
die Hälfte, also neun. - Du, der Zweitälteste,
bekommst ein Drittel, das macht sechs.
- Auf dich, den Jüngsten, fällt ein
Neuntel, also zwei Kamele. Das macht
zusammen 17 Kamele und läßt eines übrig,
nämlich meines.'" (134) Psychotherapeutische
Behandlung meint "im Sinne der
Kamelgeschichte das eine Kamel, das
eine Minute lang verwendet und dann
nicht mehr benötigt wird". (135)
2.
Ein Abenteuer des Barons von Münchhausen:
"Ein
anderes Mal ... wollte ich über einen
Morast setzen, der mir anfänglich nicht
so breit vorkam, als ich ihn fand, da
ich mitten im Sprunge war. Schwebend
in der Luft wendete ich daher wieder
um, wo ich hergekommen war, um einen
größeren Anlauf zu nehmen. Gleichwohl
sprang ich auch zum zweytenmale noch
zu kurz, und fiel nicht weit vom anderen
Ufer bis an den Hals in den Morast.
Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen,
wenn nicht die Stärke meines eigenen
Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe,
samt dem Pferde, welches ich fest zwischen
meine Kniee schloß, wieder herausgezogen
hätte." (166)
Die
Geschichte von Archimedes, der "nach
dem festen Punkt sucht, von dem aus
er die Welt aus den Angeln heben könnte"
(166f), und ein Zitat von Peter Weiss:
"Es kommt darauf an/sich am eigenen
Haar in die Höhe ziehen/sich selbst
von innnen nach außen zu stülpen/und
alles mit neuen Augen zu sehen."
(167) "die Idee eines Festpunktes,
von dem aus die Welt sich in ihrer Gesamtheit
überblicken und verändern ließe; die
Frage, wie es möglich ist, die Grenzen
eines scheinbar allumfassenden Rahmens
zu verlassen ... wie - und besonders
ob - es möglich ist, sich in der leider
unleugbaren Ermangelung eines archimedischen
Punktes doch am eigenen Schopfe aus
dem Rahmen der Welt im weitesten Sinne
zu ziehen und sie dann von außen 'mit
neuen Augen' zu sehen." (167)
Und
in Fortführung der weiter oben zitierten
Stelle schreibt Watzlawick: "Wenn
immer es dem Leidenden gelingt - sei
es spontan oder durch Therapie -, den
scheinbar allumfassenden Rahmen seiner
Wirklichkeit zu verlassen, so ist das
die Folge eines merkwürdigen und schwer
zu beschreibenden Sprungs aus diesem
Rahmen heraus, eines Sich-Hochziehens-an-sich-selbst,
das dem Kunststück des Barons Münchhausen
in nichts nachsteht. Und ich würde sogar
so weit gehen zu behaupten, dass das
Wesen wirksamer Therapie im Herbeiführen
dieses Kunststückes liegt" (170).
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